Wortgeschichten für den Hausbedarf

Das "Deutsche Wörterbuch" der Brüder Grimm auf CD-ROM

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Wilhelm Grimm den Artikel "DINGS" schrieb, war er bereits 71 Jahre alt. Man darf annehmen, dass in seine schöne Erklärung einiges an Erfahrungen mit dem Alter eingeflossen ist. "DINGS wird gebraucht, wenn man den namen einer person, sache, eines orts nicht nennen will, oder wenn man nicht kann, weil man ihn gar nicht oder in dem augenblick nicht weisz". Als Beispiele für den Wortgebrauch führt er an: "der dings hat mir gesagt, die dings wird das besser wissen. [...] wir übernachteten in dings."

1838 begannen Jacob und Wilhelm Grimm mit ihrer Arbeit am "Deutschen Wörterbuch" (DWB). Das ganze Unternehmen war auf sieben bis zehn Bände angelegt, für die etwa zehn Jahre Arbeit veranschlagt wurden. Im Gegensatz zu den Elaboraten der von ihnen verachteten Sprachverbesserer und -reiniger vom Schlage eines Christian Hinrich Wolke planten die Grimms ein historisches Belegwörterbuch, das den Bestand des Neuhochdeutschen von der Gutenberg-Zeit bis zu der Goethes, also ihrer Gegenwart, erfassen sollte.

Unter Jacobs Motto "Unsere Sprache ist auch unsere Geschichte" ging es ihnen primär um die Rekonstruktion der jeweils ältesten Formen und Bedeutungen ihrer Stichwörter und weniger um ihre moderne Bedeutungsvielfalt. Allen Ernstes träumten die Grimms davon, dass ihre Wortgeschichten eines Tages einmal genauso zum "Hausbedarf" des Volkes zählen würden wie ihre "Kinder- und Hausmärchen", dass einmal aus ihrem Wörterbuch im Familienkreis mit Andacht vorgelesen würde. Bekanntlich kam es anders: Das DWB sollte ganze Generationen von Philologen beschäftigen, es überstand historische Zäsuren, Weltkriege und die deutsche Teilung und wurde erst 1961 nach 145 Jahren mit der 380. Lieferung in 32 Teilbänden fertig gestellt. In Haushalten war es so gut wie nie zu finden, ja blieb sogar für die meisten Bibliotheken unerschwinglich.

Heute stellt es mit 320.000 Stichwörtern eines der wichtigsten Grundlagenwerke zur Erforschung der deutschen Sprache und ihrer Geschichte dar. Dass es nun zu einem Spottpreis auf zwei bierdeckelgroßen Scheiben komprimiert vorliegt (die Originalausgabe wiegt 84 Kilo), stellt eine Großtat der Digitalisierung dar. Verantwortlich dafür ist ein Team von Informatikern und Germanisten der Universität Trier in Zusammenarbeit mit einem Erfassungsteam in China. In Nanjing ließ man die 300 Millionen Zeichen des Wörterbuchs manuell abtippen, und zwar gleich zweimal; in Trier wurden die Fassungen dann abgeglichen und für die Datenbank aufbereitet. Die Texterfassung durch Nicht-Muttersprachler hatte den Vorteil, dass keine unbewussten 'Verschlimmbesserungen' entstanden und aus "frouwe" etwa "frauwe" wurde.

Zunächst nur im Internet zugänglich, ist der "Digitale Grimm" nun bei Zweitausendeins als Offlinemedium erschienen, zusammen mit einem schmucken Begleitbuch, das lesenswerte Beiträge enthält. Installieren lassen sich Programm und Datenbestand problemlos, allerdings sollte man ein Auge auf die relativ anspruchsvollen Systemvoraussetzungen werfen, bei denen die Angaben jedoch widersprüchlich ausfallen. Auf dem Waschzettel steht: mindestens Pentium 3, 64 MB Speicher und ca. 1 GB Platz auf der Festplatte für eine Komplettinstallation. Auf dem Schuber steht dagegen: ein Prozessor mit mindestens 1 GHz, ein Hauptspeicher von 256 MB (!) sowie 1,3 GB auf der Festplatte. Was den Prozessor angeht, so kann der Rezensent ergänzen, dass sich der Digitale Grimm auch schon mit einem Duron mit 850 MHz tadellos verwenden lässt.

Bis auf Spalten- und Zeilenfall wurden die typographischen Eigenschaften des Druckwerks auf dem Bildschirm nachgebildet, auch die Band- und Spaltenangaben werden im laufenden Text mitgeführt. Der "Digitale Grimm" erlaubt Volltextsuche und kombinierte Recherchen. In Sekundenschnelle lassen sich sämtliche Belege eines bestimmten Autors heraussuchen; Suchlimitierungen, Suche mit Platzhalter usw. erlauben auch komplexere Recherchen. Womöglich noch interessanter ist die Möglichkeit der rückläufigen Sortierung des Stichwortindex, die den "Digitalen Grimm" zum größten rückläufigen Wörterbuch der deutschen Sprache macht - und zu einer Schatztruhe für Lyriker auf der Suche nach passenden Endreimen. Auch als Morphemwörterbuch lässt sich der digitalisierte Grimm verwenden, so können Bildungssilben in mittlerer oder Endstellung gesucht werden. Die Erschließung von Wortbildungsvorgängen, betonen die Herausgeber stolz, erhält auf diese Weise ein geradezu unerschöpfliches Werkzeug.

Eine wundervolle Funktion ist auch das "random reading", bei dem Artikel nach dem Zufallsprinzip ausgewählt werden. Auf was für Wörter man da stößt! "Zinkinker" zum Beispiel. Oder "Silberholst". "Trostursache" und "keckern" - im Grimm'schen Wörterbuch sind sie noch lebendig, die alten Wörter, auch die aus Berufs- und Gewerbesprachen der Handwerker und Hirten, der Jäger, Bauern und Vogelsteller, der Bergleute und Winzer. Tatsächlich, es ist einfach eine Lust, den Grimm'schen Wortgeschichten zu folgen!

Für die Zukunft sind Updates angekündigt, die die Datenbankfunktionen erweitern sollen. Ebenso sollen dann die zahlreichen Sonderzeichen, deren Darstellung bislang nur unvollständig gelingt, korrekt wiedergegeben werden. Außerdem soll die in wenigen Jahren abgeschlossene Neubearbeitung des "Deutschen Wörterbuchs", die von A bis F reicht, mit dem bisherigen Datenbestand vernetzt werden.

Titelbild

Jacob Grimm / Wilhelm Grimm: Der digitale Grimm - Deutsches Wörterbuch. 2 CD-ROMs.
Zweitausendeins, Frankfurt a. M. 2004.
49,90 EUR.
ISBN-10: 3861506289

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