Samenraub und heiße Hunde

Ulrike Draesner präsentiert in "Hot Dogs" zwölf neue Stories

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Ende dieser Geschichten-Parade namens "Hot Dogs" reibt man sich die Augen, so verwirrend bunt, extrem, modisch, exaltiert, retro, cool, dann still, fast verträumt, verschämt, rettungsbedürftig und rettungsgierig zogen die Figuren vorüber. Die Kirchenliedzeile "künstlich und fein dir bereitet" fällt einem ein, denn tatsächlich stellt Ulrike Draesner ihre Fertigkeiten, ihr Wissen, ihre Kunst in den zwölf Geschichten von "Hot Dogs" ostentativ aus.

In der ersten Story "Gina Regina" verfolgen wir den Alltag einer Studentin, die für eine Samenbank unter ihren Kommilitonen wildert: "Das Herz schlug wie ein fou. Vorsichtig und etwas erschöpft setzte Gina sich zu Gordian auf die Bettkante. Lag hier der Inhalt, schwappte im Röhrchen die Form? Dort der Genotyp, hier der Phänotyp, und dazwischen die schlaue Abbildungsregel der Reproduktion? Wie im "Tractatus", als Lucki Ludwig die Sprachteilchen und Wirklichkeitsteilchen ganz klein wurden, atomar, subatomar, lunar! Gen- und Menschenteilchen heutzutage. Unklar blieb nur, wer bestimmte, wie sie zueinander gehörten. Um überhaupt etwas vom 'Weltzusammenhalt' zu erklären, kicherte Gina vor sich hin, müßte man eine lackierte Brustwarze dazubauen, die aber immer vergessen wird. Gina war Headhunterin speziellen Ranges, vulgo Samentrapperin."

Das Thema "unerfüllter Kinderwunsch" und sein Umfeld, das noch in weiteren Geschichten variiert vorkommt, behandelte Draesner zuletzt in ihrem tiefgründigen Roman "Mitgift". In den neuen Erzählungen aber geschieht es nicht selten, dass einem bei der Fülle der Anspielungen, der Bildungszitate, der Sprachspiele, der modischen Versatzstücke, zuweilen auch der Kalauer der Zusammenhang mit den Figuren und ihren Herzensangelegenheiten abhanden kommt.

Das trifft vor allem für die Gegenwartsgeschichten und die erste Hälfte des Buches zu. Man hat den Eindruck, der Leser solle kaum zu Atem kommen. Die Dramaturgie erinnert an Kurzfilme, die den Zuschauer unbedingt und in jeder Sekunde beeindrucken wollen. Das kann Spaß machen, wenn man dazu aufgelegt ist, kann aber auch anstrengend sein. Die Titelgeschichte "Hot Dogs", die als einzige in einem unterbürgerlichen Milieu spielt, ist mit ihrer aberwitzigen Katastrophik für diese Art zu erzählen pragmatisch und endet denn auch mit einer knalligen, vorhersehbaren und unglaubwürdigen Pointe.

Das sind natürlich Geschmacksurteile. Unabhängig vom Geschmack sind die Fehler, Lässigkeiten, Doppelungen und Konventionalismen zu kritisieren, bedeutet doch Wissen einen integralen Bestandteil der Draesner'schen Poetik. Deshalb stößt es auf, wenn man "Saragossasee" liest statt "Sargassosee", wenn jemand die "Hände wringt" statt sie zu "ringen", wenn die Sphinx von Gizeh die Klauen gekreuzt halten soll, obwohl sie parallel liegen. Warum sind Brüste einerseits "vollhandige Äpfel", gleich darunter aber "bombastische Globen"? Warum kommen kühne Metaphern mehrfach vor? Wieso steht da "puncto saliens" statt "punctum saliens" (und Aristoteles schrieb nicht Latein), wieso "tangere me" statt "tange me"? Was sollen die "Tangenten eines Dreiecks" sein, was eine "volldigitalisierte 27-Shimano-Schaltung"? Und der Mensch hat wohl zig Billionen Zellen, aber nicht "300.000 Trillionen".

Es erscheint als eine Antiklimax in puncto Tempo und Zeitgemäßheit, aber als eine Klimax in Gefühlsintensität und Überzeugungskraft, wenn Draesner das zweite Halbdutzend Geschichten - ohne an Kunstfertigkeit erkennbar weniger zu bieten - ruhiger präsentiert, ernster. Souveräner wirkt das und anrührender.

Die immer neuen vergeblichen Anläufe der Erzählerin in "Der Läufer wird im Winter gemacht", das Schicksal ihrer Großmutter, die DDR-Spitzensportlerin war, zu rekonstruieren, und die komplexe Darbietung widersprüchlicher Berichte erweisen sich als ideale Darstellungsmittel. Dass die Erzählerin in "Scham" von sich als einer Fremden berichtet, hängt direkt mit dem titelgebenden Gefühl zusammen. Der - auch durch die Höhenluft motivierte - kurzatmige Duktus in "Büßerschnee" überträgt die hektisch-verzweifelte Atmosphäre einer Bergrettungstour über bedrohlich tiefe Vergangenheitsspalten unmittelbar auf den Leser. Die schmerzhaften Entwicklungs- und Erkenntnisschübe einer Zehnjährigen auf einer Jugoslawien-Reise schildert die Autorin in "Europa" suggestiv und sensibel.

Vielleicht sollte man diese zwölf Geschichten ja als Versuch sehen, Techniken, Töne, Themen zu erproben, die das Risiko des Scheiterns mutig in Kauf nehmen, wobei sie oft genug glücken. Und vielleicht geht es dem Buch so, wie es der Direktor im Vorspiel zum "Faust" beschreibt: "Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen; und jeder geht zufrieden aus dem Haus."

Titelbild

Ulrike Draesner: Hot Dogs.
Luchterhand Literaturverlag, München 2004.
192 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-10: 3630871348

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