Draußen geblieben

Ein Reiseführer für Molwanien

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Reise hat vielleicht dann die besten Aussichten auf glückliches Gelingen, wenn sich die Sehenswürdigkeiten konsequent an den Reiseführer halten.

Die anderthalb Jahrzehnte, die seit dem Ende des Kommunismus vergangen sind, waren selbst für weltoffene und reiseerprobte Zeitgenossen nicht einfach. Es galt, viele neue Vokabeln zu lernen und anschließend vor allem auch auseinander zu halten. Auf Reisen konnte sich das mitunter als (über-)lebenswichtig erweisen: Slowenien, Slawonien, Slowakei. Quizfrage: Wie viel davon gehört jetzt zur EU? Und wo war gerade noch Krieg? Na? Eben! - Noch schlimmer steht es um Molwanien. Kaum ein noch so interessierter Mitteleuropäer wird behaupten können, sehr viel über diesen kleinen Flecken Europa zu wissen. Ja, schon gehört. Glaub' ich. Ach so, nicht Moldawien? Molwanien? - Ratlosigkeit allenthalben. Welcome to Molvania!

Gemach! Molwanien existiert gar nicht. Trotzdem kann man jetzt den ersten Reiseführer für Molwanien kaufen. Das Buch erschien vergangenes Jahr zunächst in Australien, seit kurzem ist eine Version für England greifbar, und eine italienische Übersetzung wird noch diesen Herbst ausgeliefert. "Molvania. A Land Untouched By Modern Dentistry" heißt das Buch. Der böse Untertitel kommentiert eines der Titelfotos, das einen lachenden älteren - mit Verlaub - Eingeborenen zeigt, der auch ohne vollständiges Gebiss glücklich zu sein vermag. Damit ist der Tarif angegeben: Der Reiseführer enthält eine Unmenge amüsanter und bisweilen ziemlich respektloser Informationen über den fiktiven, in Osteuropa angesiedelten Kleinstaat Molwanien. Hier ein paar Muster: In Molwanien steht einer der ältesten noch in Betrieb befindlichen Atomreaktoren Europas (aha, vielleicht Kosloduj/Bulgarien? Ignalina/Litauen?). Molwanien produziert 60 Prozent der europäischen Roten Beete (ach ja, Barszcz in Polen, Bortschtsch in Russland). Die Sprache zeichnet sich natürlich - alles andere wäre eine Überraschung - durch eine Fülle unmöglich auszusprechender Konsonantenhäufungen aus (also slawisch!). Das Land wurde im Lauf der Geschichte selbstredend von allen möglichen Völkern (und Horden) überrannt. Die Römer waren da, die Goten, Tataren, Türken, Hunnen und Balten: Osteuropäisches Multikulti verpflichtet. Dominierende Religion in Molwanien ist die baltisch-orthodoxe, ein lokaler Kult, der mit dem Katholizismus eng verwandt ist. Mit dem gewichtigen Unterschied allerdings, dass die Katholiken schon lange nicht mehr glauben, die Erde sei eine Scheibe. Die molwanische Währung ist der Strubel. Die Molwanier gehen gerne auswärts essen; vorzugsweise in Deutschland oder Frankreich.

So geht das über 176 Seiten. Das Buch ist als eine Parodie auf Reiseführer gedacht, deren Stil es konsequent imitiert. Dahinter versteckt sich wohl die Einsicht, dass sich der zeitgenössische Tourist kaum mehr ohne "lonely planet" und dergleichen auf Erkundungsreise macht. Doch wird dadurch seine Wahrnehmung gesteuert: Der Reisende sieht in der Fremde nur das, worüber er zuvor gelesen hat. Er vermeint, ein Land zu entdecken, und setzt doch nur ein Buch in die Tat um.

Doch Molwanien ist mehr, denn es kann auch als eine europäische Antiutopie gedeutet werden. Mit der EU-Erweiterung wurde des Beste vom Osten ins Schiff gehievt; der Rest hatte (vorläufig) draußen zu bleiben. Die arme Republik Molwanien muss nun die gesammelten dunklen Seiten Europas auf sich nehmen. Man kann dem Reiseführer vorwerfen, die Vorurteile über Osteuropa zu bestätigen oder sie gar zu verstärken. So geschehen in England, wo das Buch bereits eine Debatte ausgelöst hat. Der frühere Europaminister Keith Vaz nannte den Reiseführer "ziemlich frech", weil er Vorurteile widerspiegele, die in Europa Fuß fassten. Man könnte dies jedoch auch positiv sehen und argumentieren, hier würden die Stereotypen sichtbar gemacht, indem sie einmal alle am selben Ort gebannt werden. Damit erhielten wir Mitteleuropäer die Chance, uns ernsthaft mit ihnen auseinander zu setzen, sie zu hinterfragen und vielleicht letztlich zu überwinden. Vorurteile funktionieren oft nur unterschwellig, man ist sich ihrer selten richtig bewusst. In Molwanien hingegen kommen sie zur Sprache.

Findet eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den vermeintlich dunklen Seiten des Kontinents - die im übrigen nicht alle im Osten liegen müssen - nicht statt, könnte "Molwanien" zum Symbol für eine bittere Erkenntnis werden. Denn wer wie Europa seine Grenzen festlegen will, kommt wohl nicht umhin, bestimmte Kriterien zu definieren. Molwanien zeigt auf, was dies im schlimmsten Fall bedeuten könnte: die Wiederbelebung oder gar Erfindung von Stereotypen, die man dem anderen zuschreibt, um ihn danach leichter ausgrenzen zu können. Denn gäbe es die Molwanier tatsächlich, gehörten sie heute mit Sicherheit zu jenen Gekenterten vor den Küsten Europas, die nicht gerettet werden.

Molwanien hat auch eine eigene Website (www.molvania.com), auf der neben vielem anderen Pressekommunikees publiziert werden. Hier erfahren wir, dass Molwanien heuer vom "Eurosong Contest" in Istanbul disqualifiziert wurde. Molwaniens Star Zladko "Zlad" Vladcik war bei seiner Ankunft am Flughafen wegen Drogenschmuggels verhaftet und auf der Stelle ausgewiesen worden. Schade, denn wir haben damit seine Technoballade "Elektronik - Supersonik", eine "melodische Verschmelzung von heißen Discorhythmen mit Kalter-Krieg-Rhetorik", verpasst! Wirklich schade, denn vielleicht käme jetzt der Sommerhit 2004 nicht aus Moldawien, sondern aus Molwanien?

Titelbild

Santo Cilauro / Tom Gleisner / Rob Sitch: Molvania. A Land Untouched By Modern Dentistry.
Atlantic Books, London 2004.
176 Seiten, 12,99 EUR.
ISBN-10: 1843542323

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