Wahnsinn und Methode

Daniel Paul Schrebers Reflexionen eines Paranoikers

Von Rainer ZuchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Zuch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Dr. jur. Daniel Paul Schreber im Jahre 1903 seine psychiatrischen Erfahrungen unter dem Titel "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken" veröffentlichte, konnte er nicht ahnen, dass dies zu einem Grundlagentext für die frühe Psychoanalyse werden würde. Der sächsische Senatspräsident a. D. verfasste weniger einen psychiatrischen Erfahrungsbericht oder therapeutische Sitzungsprotokolle als vielmehr die Autobiographie eines Wahns, der in seiner Genauigkeit und Offenheit bis heute seinesgleichen sucht.

Sigmund Freud veröffentlichte 1911 seine Diskussion des "Falles Schreber" in der Studie "Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides)", der in den Kanon psychoanalytischer Fallstudien einging. Schrebers Wahn war ihm ein wichtiges Argument für die Denunzierung der Religion als massenneurotischem Phänomen. In der Tat lassen sich eine ganze Reihe von Parallelen herausdestillieren, die aber nicht unbedingt alle mit Freuds Deutung kompatibel sein müssen.

Schrebers Verfolgungswahn, die Stimmen im Kopf, die ihm göttliche Botschaften verkünden, sein Beziehungs- und Größenwahn verweben sich mit religiösen Phantasien zu einem detaillierten kosmologisch-theologischen Modell, welches an Komplexität real existierenden religiösen Systemen durchaus Konkurrenz machen könnte. In ihm verbinden sich christliche mit gnostischen, zoroastrischen, theosophischen, buddhistischen und partiell hinduistischen Vorstellungen zu einem synkretistischen Ganzen in Gestalt einer individuellen Offenbarungsreligion mit deutschnationalen und antikatholischen Einsprengseln. Schreber hatte hier offenbar ein großes Spektrum zeittypischer Ideologien und des modischen okkult-esoterischen Zeitgeistes verarbeitet.

Das eindeutig Wahnhafte liegt in anderen Elementen. Schreber sah sich als von Gott ausersehen, um die Welt zu retten und eine neue Menschheit zu erschaffen. Vorbedingung dafür sei allerdings die geschlechtliche Transformation seines Körpers in einen weiblichen. Fügt man Schrebers Rekurse auf Theorien der Seelenwanderung und Sonnenmythologien seinen transsexuellen Phantasien hinzu, erhalten wir ein beeindruckendes Spektrum der zeitgenössischen virulenten religiös-spirituellen und okkultistischen Vorstellungen, von denen Schreber, der ein belesener Mann war, problemlos Kenntnis gehabt haben konnte.

Es verwundert nicht, dass die "Denkwürdigkeiten" die Aufmerksamkeit von C. G. Jung auf sich zogen, der sie anschließend Freud zur Lektüre empfahl. Jung verfasste nahezu gleichzeitig mit Freud (1911/12) ebenfalls die Analyse der Paranoia einer Patientin, die er nicht persönlich, sondern nur über einen publizierten Text kannte: "Wandlungen und Symbole der Libido". Für Freud wie für Jung war das religiöse Denken ein zentrales Thema, jedoch zogen sie diametrale Schlussfolgerungen. Während Freud die Religion dem Wahn parallelisierte, sah Jung im Wahn Analogien zu Phänomenen religiöser Besessenheit und Prophetie in dem Sinne, dass sich in ihnen ein religiöses Grundbedürfnis des Menschen äußere, Symptome eines psychischen Ungleichgewichts, dessen Rationalisierung die psychische Störung nur verschieben, nicht aber auflösen würde.

Gerade die rationalisierenden Annäherungen an seinen Wahn sind Elemente, die Schrebers Aufzeichnungen besonders interessant machen: Er beleuchtet viele Einzelphänomene mit den Mitteln, die ihm sein rationaler, am Positivismus des 19. Jahrhunderts geschulter Verstand mit einer betonten Distanz zu spirituellen Themen zur Verfügung stellte. Er diskutiert das Für und Wider der Tatsächlichkeit seiner Erscheinungen, wendet statistische Methoden an und greift immer wieder auf die Empirie zurück. Die Tatsache aber, dass Schreber - man möchte sagen: natürlicherweise - zahlreiche seiner Wahnvorstellungen wiederum mit Wahnvorstellungen verifiziert (und noch während der nachträglichen (!) Niederschrift von deren Wahrheit überzeugt ist), belegt die Kontingenz rationalen Argumentierens auf eine Weise, die von der Psychoanalyse bis zur "Dialektik der Aufklärung" immer wieder problematisiert worden ist.

Der das geistige Klima des gehobenen Bürgertums bestimmende positivistische wissenschaftliche Mainstream und die vorherrschenden protestantischen und leibfeindlichen Diskurse, die Schreber wohl vor allem über seinen Vater prägten, vermittelten auch ein nachgerade extremistisches Männer- und Frauenbild, welches sich in Schrebers Wahn massiv niederschlug. Während der Mann zum höheren und geistigen Wesen stilisiert wurde, erschien die Frau als ein vollkommen ihrer Körperlichkeit in Form ständiger Wollust verfallenes Wesen - Texte wie Otto Weiningers zur gleichen Zeit erschienenes Buch "Geschlecht und Charakter" (1903) und dessen immenser Erfolg belegen, wie weit das zeitgenössische Denken in seinen Abwehrreaktionen gegen alles Weibliche gehen konnte. Zentrale Elemente des Schreber'schen Wahns wie die Sonne als Symbol des Vatergottes (nach Freud eine Idealisierung des Vaters) und die Zwangsvorstellung, in eine Frau verwandelt werden zu müssen, um (wenn auch im Geheimen) aus den körperfeindlichen Geschlechterstereotypen seiner Zeit ausbrechen zu können, sind nicht zuletzt auf diese kollektiven bürgerlichen Zwangsvorstellungen zurückzuführen. In diesem Zusammenhang steht auch die von Freud in seinen "Bemerkungen" geäußerte These einer in der transsexuellen Phantasie ausagierten latenten Homosexualität Schrebers.

Die vorliegende Ausgabe ist die erweiterte Neuauflage einer 1995 erfolgten Veröffentlichung. Wie sorgfältig die Herausgeber bei der Edition vorgegangen sind, zeigt sich in Details wie der Übernahme der Seitenangaben der Ausgabe von 1903 und der Bewahrung der Originalschreibweisen. Hinzugekommen sind mit "Unter welchen Voraussetzungen darf eine für geisteskrank erachtete Person gegen ihren erklärten Willen in einer Heilanstalt festgehalten werden?" ein weiterer Text Schrebers sowie ein Nachwort von Wolfgang Hagen und eine Auswahlbibliographie. Mit den "Denkwürdigkeiten" liegt somit einer der wichtigsten Texte für die Psychiatriegeschichte des frühen 20. Jahrhunderts wieder vor.

Titelbild

Daniel Paul Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken nebst Nachträgen. Mit einem Nachwort von Wolfgang Hagen.
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2003.
367 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 393165950X

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