Erpresste Versöhnung

Umberto Ecos "Geschichte der Schönheit" als Bekenntnis zur ästhetischen Toleranz

Von Claudia SchmöldersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claudia Schmölders

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Geschenk hat er gewiss auch sich selber gemacht mit diesem 500-Seiten-Bilder-Buch, der große Professor, der Doyen der Zeichen und Verschwörungen, der millionenfach erfolgreiche Romancier, Besitzer einer Bibliothek von dreißigtausend Bänden und - last but not least - der clowneske homo politicus der Streichholzbriefe. Zurück in die Jugend hat er sich eigener Auskunft nach katapultiert, in die Zeit vor der Erfindung der Semiotik, mit der Eco als italienischer Zwilling von Roland Barthes zu Erfolg kam. Nur Kenner wissen, warum er von seiner frühen Arbeit über die Ästhetik des Heiligen Thomas zur Lehre vom offenen Kunstwerk und von dort zu einer ganz eigenen Definition von Kulturwissenschaft kam: Kultur als Kommunikation, die sich mit einem "semiotic turn" verändern und verbessern ließe.

Diese Bahn hat er nun, verführt von den Neuen Medien, womöglich verlassen. Denn ein Buch ist der vorliegende opulente Riese natürlich nicht. Es ist eine gewaltige, eine luxuriöse, eine wunderbare Ausstellung, eine virtuelle, ursprünglich als CD-Rom konzipierte Wanderung durch die Geschichte der Schönheit, und ob es die Geschichte einer westeuropäischen Idee ist oder gar eines "visuellen Diskurses", wer will das sagen. Jedenfalls sehen wir mehrere Hundert der schönsten und bekanntesten abendländischen Kunstwerke, ganz überwiegend zum Phantasma der schönen (nackten) Frau, zuweilen als Skulptur, meist aber dargeboten als zweidimensionale Arbeiten auf Ton oder Leinwand, Stoff oder Papier und schließlich auch Zelluloid. Nächst dem Tempel des Leibes steht der Tempel aus Stein, sprich die schöne Architektur: durchwirkt vom guten Geist der Proportion und des Goldenen Schnittes, von dort aus kommt man dann auch zur Musik, zur Theorie der Sphären, dem kosmischen Ornat der Schöpfung. Erwähnt, wenn auch nicht ausgiebig studiert, werden "schöne Gärten" oder auch Ruinen, dann auch die Schönheit von Maschinen. All das wird konterkariert von umfangreichen Reflexionen über das für immer schöner gehaltene Hässliche, über das Faszinose der Monster, der Decadence und des Dandyismus, über Moderne Medien und Konsum. Ist Eco nun bei der schönsten aller Welten gelandet?

Vielseitiger als sein Kommentar dazu ist der dicke Zitat-Teppich für die Besucher, eine gelehrte Mittelalterlichkeit, freilich unziemlich modern verlinkt mit einem jeweils fettgedruckten Terminus im Text. Nichts leichter als hier zu kritisieren. Man kann die Willkür tadeln, mit der abwechselnd Kernsätze aus Prosa, Poesie und Theorie auftauchen oder etwa das Hohelied einem Salomon des 10. Jahrhunderts v. Chr. zugeschrieben wird (was würde Klaus Reichert sagen!); oder sich wundern, wenn es um Nietzsche geht, wo man doch noch bei den Griechen steht, oder Kleist nicht erwähnt wird, wenn er doch C. D. Friedrichs Seelandschaft beschreibt, oder die "schöne Seele" nur von Hegel statt von Goethe definiert werden darf, und so fort.

Das alles sind kleine Schönheitsfehler, die der Besucher erst nach den Eingangsräumen findet. In diesen aber wird er massiv aufs wahre Ganze eingestimmt. In elf Repertorien von über 200 Ansichten illustrieren chronologische Reihen die Evolution der schönen Körperwahrnehmung, als da sind: Venus und Adonis bekleidet und unbekleidet oder "mit Gesicht und Haar". Venus und Adonis nennt Eco, der Übersicht halber, erst einmal jede Frau und jeden Mann im schönen Bild. Später wechselt er dann ins fromme Feld mit Maria und Jesus bis ins Jahr 2003, also noch ohne Mel Gibsons Blutrunst. Dann weiter zur irdischen Vorzüglichkeit mit Königinnen und Königen bis hin zu Princess Diana und Signore Agnelli und schließlich zur klassischen Proportionslehre, die doch gar keine Entwicklung hat, so wenig wie die musikalische Dimension. Sie hätte das Beispiel einer kosmischen Konstante abgeben können, muss aber unsichtbar bleiben.

Dieses ganze hochkulturelle Daumenkino wird praktisch nicht kommentiert. Es stammt nämlich aus der virtuellen Technik mit Zoom und Detailansicht. Doch hier, im Buch, versteht es sich nicht von selbst, dass Körperbau-Eliten neben faziale, soziale und religiöse treten und alle miteinander ins Kerngeschäft der Proportionen überführt werden, während die spätere Galerie eifrig Ideengeschichte treibt. Man fühlt sich doch lebhaft an Nancy Etcoffs Anti-Dickleibigkeits-Kampagne "Nur die Schönsten überleben" (2001) erinnert. Geht es bei diesen Bildfolgen um "lieux de mémoire" oder um Kanonbildung? Wie aber soll die kanonische Botschaft heißen, wenn uns der Cicerone eingangs sagt, dass er nicht nur Werke der hohen Kunst, sondern auch der Massenkultur verwenden will, "solange sie uns zu verstehen helfen, welches Schönheitsideal in einer bestimmten Epoche herrschte. Dies festgestellt, wird man unserer Darstellung den Vorwurf des Relativismus machen können, soll heißen, sie wolle behaupten, was als schön gilt, sei abhängig von der jeweiligen Epoche und den Kulturen. Genau das will sie."

Aber will sie es wirklich? Wenn der Besucher endlich beim Ausblick in die Zukunft ankommt, meint Eco weit weniger gelassen: "Unser Erforscher der Zukunft wird das von den Massenmedien des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus verbreitete ästhetische Ideal nicht mehr identifizieren können. Vor der Orgie der Toleranz, vor dem totalen Synkretismus, vor dem absoluten und unaufhaltsamen Polytheismus der Schönheit wird er kapitulieren müssen." Das klingt nicht eben begeistert. Und genau genommen gibt es diesen Polytheismus im Buch auch gar nicht. Eco liefert vielmehr eine grundstürzend eurozentrische Schönheitslehre. Wir finden keine afrikanische Schönheit und keine hispanische, keine aus Papua-Neuguinea und keinen Ainu. Wir finden kein Kapitel über indische oder chinesische Schönheit. Das Bekenntnis zur ästhetischen Toleranz wirkt als erpresste Versöhnung. Nirgendwo merkt man das besser als am Kapitel über das Licht. "Schön" und "Schein" stammen aus derselben etymologischen und religiösen Quelle. Die Sonne ist der Urgrund von Schönheit, wenn sie denn scheint, und der ägyptische Sonnengott gilt als Urheber des Monotheismus.

Das alles weiß Eco natürlich, schließlich handelte sein erstes Buch von der Schönheit bei Thomas von Aquin. Gott als Licht herrscht im mystischen Erleben, Gott als Licht beherrscht in farbensprühenden Kirchenfenstern das Mittelalter; das Licht als Gott wiederum wird von der Aufklärung angebetet und noch in der Lebensreformbewegung adoriert. Greller Glanz wird domestiziert im elektrischen Licht, in der Glasarchitektur und vor allem in den Lichtbild-Künsten. Alles Leben im Medium verwandelt sich unter der Hand in Licht. Dieser gigantische Lichtgott des Abendlandes, dieser Herrscher der neueren Ästhetik, wurde er nicht von einem der raffiniertesten Schriftsteller Japans ausdrücklich zum Kampf gefordert? Wie David gegen Goliath trat Junichiro Tanizaki ausgerechnet 1933 mit einem schmalen Essay gegen den westlichen Schönheitskult an: mit einem vollendet geschriebenen "Lob des Schattens". Schade, dass Eco diese wahrhaft philosophische Alternative nicht eines Wortes gewürdigt hat. "Schatten" liegt bei ihm höchstens über dem Mitautor, dem jungen italienischen Philosophen Girolamo de Michele, der fast die Hälfte des Textes geschrieben hat und dennoch nicht auf der Titelseite erscheint. Offenbar ist der Ruhm genauso schlecht teilbar wie die Idee der Schönheit, zumal in der süchtigen Globalisierung des Bestseller-Autors.

Titelbild

Umberto Eco: Die Geschichte der Schönheit.
Übersetzt aus dem Italienischen von Friederike Hausmann und Martin Pfeiffer.
Carl Hanser Verlag, München 2004.
440 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3446204784

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