Wenn der Glaube Berge versetzt

Françoise Chandernagor beschreibt in "Das Kind im Turm" die Gefangenschaft des Sohnes von Ludwig XVI.

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Frankreich 1792: Mit acht Jahren wird Louis Charles, der Sohn Ludwigs XVI., in den Kerker gebracht, in dem er sein Leben drei Jahre später beschließen wird. Zuerst kümmert man sich gut um den Jungen, er erhält Betreuung, genügend Essen, sogar Wein. Doch wenig später werden seinen Bewachern die Mittel gekürzt - die neue Regierung will nicht noch mehr Geld für das ungewollte Leben ausgeben: Nun muss der Junge sich auf ein einziges Zimmer beschränken und wird mehr und mehr sich selbst überlassen. Kalt ist dem Kind, es fürchtet sich vor der Dunkelheit und weiß nicht einmal, wo es seine Notdurft verrichten soll. Ohne Zuspruch und Hilfe verwahrlost der, der einmal der verherrlichte Sohn des Königs war, zieht sich in sich selbst zurück, vergisst Sprache und Bewegung.

Françoise Chandernagor ist dem verlassenen Kind auf der Spur; sie hat seine Geschichte recherchiert, um herauszufinden, warum man den ehemaligen Thronfolger so jämmerlich sterben ließ. Sie folgt den Gedanken des Jungen, entschuldigt vorschnelle Aussagen, die seine Mutter, seine Tante und die Schwester schwer belasteten, sie sogar schwerer Verbrechen beschuldigten, und erklärt seine Lethargie. Darüber hinaus lässt sie auch die ehemaligen Betreuer des Jungen, seine Erzieher und Ärzte zu Wort kommen - doch ihnen gegenüber ist sie weniger nachsichtig: Die Autorin denkt sich zwar auch in die Bewacher des Kindes hinein, lässt sie aber am Ende nicht straflos davonkommen, sondern stellt sie vor Gericht und unterzieht sie einem Kreuzverhör: "Wer war ihrer Ansicht nach beauftragt, über Reinlichkeit und Gesundheit des Kindes zu wachen?", fragt sie, oder: "Lautete die Dienstvorschrift auch, das Kind im Winter sechzehn Stunden pro Tag im Dunkeln sitzen zu lassen, ohne irgendein Licht?" Und sie lässt die Befragten antworten, die sich in Chandernagors Imagination auf die unruhigen Zeiten oder auf die Angst vor der Verfolgung herauszureden suchen, sie lässt sie aussagen, nichts gewusst zu haben oder zu ihrem Verhalten gezwungen gewesen zu sein. Die Wut über die Verantwortungslosigkeit der Männer ist der Autorin anzumerken, sie versteckt ihre Sympathien nicht: "Diesem kleinen Jungen blieb die Anwendung des Artikels 1 der Menschenrechtserklärung versagt, der da lautet: 'Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten.'" Wie konnte ein Regime diese Rechte fordern und gleichzeitig mit Füßen treten?

Das Buch ist eine Collage aus Romanszenen, Berichten, Zeitungsmeldungen und den bereits genannten "Verhören", in denen Politiker und Verwalter, aber auch der Maler Jacques-Louis David zu Wort kommen und die immer wieder die Pflichtvergessenheit, die Herrschsucht und Skrupellosigkeit der Mächtigen und ihrer Helfer anprangern. Die Autorin vermag es, dem Leser klarzumachen, was passiert, wenn "der Glaube ein Kind begräbt", sie nimmt ihn auf die vierundzwanzig Schritt umfassende "Insel" mit den wurmstichigen Möbeln und dem verschlissenen Brokat mit, sie lässt uns teilhaben am Schicksal des kleinen Louis Charles, der einmal Ludwig XVII. gewesen wäre, schildert uns das unschuldige "Symbol" mit den "zwei Armen, zwei langbewimperten Augen" und dem "kleinen Mund, den es nach Küssen verlangte", überlässt es aber ihren "Gegenspielern", darauf aufmerksam zu machen, dass der Mund, "groß geworden, gebissen hätte".

"Das Kind im Turm" zu lesen bedeutet eine bedrückende Reise in eine Zeit, in der ein Leben nicht viel wert war, in der Menschen täglich verrieten und verraten wurden, Es zeigt eine Gesellschaft, in der ein Kind zwischen die Fronten gerät und gewissermaßen unter Dienstvorschriften begraben wird. Françoise Chandernagor bemüht sich zwar, das Elend des Jungen emotionslos oder zumindest - arm zu schildern, doch die moralische Empörung der Autorin und ihr Mitleid mit Louis Charles schimmern immer wieder durch. Und auch der Leser beginnt mitzuleiden: Wie konnten Menschen dabei zusehen, wie ein Kind langsam zugrunde ging? Selbst die Leiche des Jungen blieb nicht ungeschändet - als der Zehnjährige stirbt, entnimmt der behandelnde Arzt das Herz des Königssohns als grausiges Souvenir. Erst im Sommer 2004, zweihundert Jahre nach dem Tod des Kindes, kann zumindest das Organ in der Nähe von Paris beigesetzt werden. Der Roman, der bereits vorher an die Spitze der französischen Bestsellerliste gelangt war, erfreute sich nochmals neuer Beliebtheit - zumindest heute verschließt niemand mehr die Augen vor dem Schicksal des Jungen.

Titelbild

Francoise Chandernagor: Das Kind im Turm. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Christel Gersch.
Piper Verlag, München 2004.
286 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3492045545

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