Das Ende der Welt

Eine Geschichte über den Untergang und die Vertreibung der letzten Feuerländer

Von Annina MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Annina Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Feuerland: Das ist das Ende der Welt, wo wohl nur ein Bruchteil aller Menschen je hingelangen wird. Außer, dass Feuerland tausende Kilometer entfernt liegt, weiß man wenig über die kalte Region an der Spitze Südamerikas. "Tierra del Fuego", wie die gebirgige Inselgruppe auf Spanisch genannt wird, gehört teilweise zu Argentinien, teilweise zu Chile und hat einige extreme Merkmale zu bieten: Dort herrscht eine Durchschnittstemperatur von sechs Grad Celsius, das argentinische Ushuaia ist die südlichste Stadt der Welt. Doch noch weniger als über das Land ist über seine einstigen Ureinwohner bekannt.

Der argentinische Schriftsteller Eduardo Belgrano Rawson erzählt in seinem jüngsten Roman über die letzten Tage der Feuerländer, von ihrer Vertreibung, von Kolonialisierung und Missionierung, von Ungerechtigkeiten und Gewalt. Und trotz der prekären Themen, die er in sein Werk einflicht, berichtet er mit neutralen Worten, vorurteilslos und aus wechselnder Perspektive: Aus der Sicht der englischen Missionarin Witwe Dobson, der des Paters Lorenzo, der indianischen Familie Camilena Kippas oder aus dem Blickwinkel der Jäger, die sich nur zur eigenen Bereicherung auf der Insel aufhalten. Der Autor montiert Szenen aus den jeweiligen Lebensverläufen kontrastierend gegeneinander und gibt somit dem Leser die Chance, jede Gruppe einzeln kennen zu lernen.

Exemplarisch erzählt Belgrano Rawson das Schicksal einer Feuerland-Familie, deren einsames Leben in der Abgeschiedenheit Patagoniens durch das Einfallen von Schafzüchtern und Robbenjägern jäh beendet wird. Die indianische Bevölkerung ist für die Neunankömmlinge nichts Anderes als ein Hindernis und wird wie eine lästige Plage behandelt. Das ruhige und natürliche Leben der Ureinwohner wird erschüttert und es beginnt ein nicht enden wollender Streit ums Territorium. Die Indianer klauen die Schafe der Züchter und müssen diese mit ihrem Leben bezahlen. Sie werden ebenfalls wie Tiere gejagt, rächen sich dann mit gleichen Mitteln und müssen dafür wiederum blutig büßen.

Das Buch beschreibt auch einige historische Fakten über die Lebensweise der Indianer in Feuerland, z. B. wie sie in der eisigen Region überlebten, welche Kleidung sie trugen, wie sie jagten und fischten und wie sie sich im tiefen Winter warm hielten. Neben ihrer Kultur und Tradition erfährt der Leser außerdem etwas über ihre Ausbeutung. Diese begann schon in passiver Form, indem die Kapitäne ihren Schiffspassagieren die Ureinwohner als Attraktion vorführten, da nur sie und ihre Kanus den Reisegästen einen Beweis lieferten, das Ende der Welt umsegelt zu haben.

Eduardo Belgrano Rawson gelingt es, den Roman ohne Anklage zu schreiben. Obwohl er von Vergewaltigung und niederträchtigstem Mord berichtet, zeigt er nicht etwa mit dem Finger auf die Täter und wirkt auch nicht lehrerhaft. Seine Berichterstattung ist sogar so neutral, dass die Teilnahmslosigkeit fast irritierend wirkt. Bei den Szenen etwa, in denen reißende Hunde auf die Indianer gehetzt werden, erwartet der Leser eine Schuldzuweisung, die in dem Roman jedoch konsequent ausbleibt. Diese sture Art der Objektivität zeichnet den Roman aus und funktioniert ohne weitere Erläuterungen: Belgrano Rawson lässt die Ereignisse einfach für sich sprechen. Er behandelt alle Akteure - ob Jäger oder Indianer - gleich und stellt niemanden an den Pranger. Dies ist auch nicht nötig, denn der Leser entwickelt durch seine eigenen Moralvorstellungen von alleine eine ganz klare Trennung zwischen Gut und Böse. Er ergreift Partei für die gejagte Familie Camilenas, fühlt jedoch kein Mitleid für die schiffbrüchigen Jäger, die von den Ureinwohnern nicht weniger brutal hingerichtet werden.

Erstaunlich ist an dem Roman auch der Aufbau: dem Leser werden einzelne Puzzlestücke zugeworfen, die er zusammenfügen muss, um die ganze Geschichte zu begreifen.

Obwohl das Buch in einer recht klaren und schnörkellosen Sprache berichtet, schreit aus ihm die Melancholie über ein Leben heraus, das ungerechterweise zerstört wurde und unwiederbringlich verloren ist. Teil an dem Gelingen des Romans hat sicherlich auch die Romanistin Lisa Grüneisen, die den Roman vom Spanischen ins Deutsche übersetzte.

Der Autor Eduardo Belgrano Rawson wurde 1943 in einem kleinen Dorf in Argentinien geboren und lebt heute in Buenos Aires. Zwischen 1957 und 1987 unternahm er selber mehrere Reisen nach Feuerland und erhielt 1979 neben anderen Literaturpreisen den Preis des "Club de los XIII" für seinen Roman "Schiffbruch der Sterne".

Titelbild

Eduardo Belgrano Rawson: In Feuerland. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen.
Verlag C.H.Beck, München 2003.
240 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3406510418

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