Frauen - noch immer jenseits der Macht

Marilyn French zum 75. Geburtstag

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zweifellos handelt es sich bei dem zehnbändigen Mammutwerk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" um Marcel Prousts opus magnum. Ebenso fraglos ist "Das Kapital" das Hauptwerk von Karl Marx. Doch nicht immer lässt sich die Frage nach dem wichtigsten Werk eines Autors oder einer Autorin so eindeutig beantworten, zumal wenn sie literarisch und wissenschaftlich tätig ist, wie etwa die amerikanische Feministin Marilyn French.

Mindestens zwei ihrer Werke kommen in Betracht. Ein literarisches und ein wissenschaftliches: "Frauen", eine autobiografisch imprägnierte Kollektivbiografie sechzehn miteinander auf vielfältige Weise verbundener Frauenleben, die French ihre Protagonistinnen von den unterwürfigen 50er bis in die rebellischen 70er Jahre mit Trauer, Wut sowie mit Resignation und Kampfesmut durchleben lässt, und "Jenseits der Macht", eine, wie die Autorin sagt, "trockene, wissenschaftliche Studie", in der sie auf annähernd tausend Seiten die Geschichte der Geschlechterverhältnisse von den "matrifokalen Gesellschaften" in der "Frühzeit der Menschheit" über das Leben von Frauen und Männern "im Zeitalter des Patriarchats" und der Theorie und Praxis des Feminismus' "unsere[s] gegenwärtige[n] Standort[s]" bis hin zum "Fernziel" eines "menschlichen Lebens" entwirft und analysiert.

Mit beiden Büchern machte die in Harvard lehrende Literaturwissenschaftlerin in den frauenbewegten 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Furore. "Frauen" etwa wurde nicht nur verfilmt, sondern auch in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Inzwischen ist zu den beiden Bestsellern noch das eine oder andere Buch hinzugekommen, das ebenfalls als Hauptwerk der produktiven Autorin in Betracht käme, wie etwa ihre mit kritischem Verve geschriebene Kulturgeschichte des Patriarchats "Der Krieg gegen die Frauen". Auch dem Roman "Frauen" hat sie in den 90er Jahren mit "Vater unser" ein weiteres literarisches Monument zur Seite gestellt. Bis dahin war das Œuvre Frenchs, die Simone de Beauvoir als ihr "intellektuelles Vorbild" nennt, schon beträchtlich angewachsen, etwa durch Romane wie "Tochter ihrer Mutter", "Tagebuch einer Sklavin" oder den Erzählband "Die weißen Handschuhe". Auf den Vorwurf, in einigen ihrer frühen Bücher träten essentialistische Tendenzen zutage, erklärt sie, dass sie einen "grundlegenden Unterschied zwischen den Geschlechtern" verneine. 1993 hat French, die sich seit den 60er Jahren als herausragende Wissenschaftlerin auszeichnet, von der Harvard University die "Centennial Medal" für besondere Verdienste verliehen bekommen.

In "Vater unser" erzählt die Literaturwissenschaftlerin die tödlich endende Auseinandersetzung vierer Halbschwestern mit ihrem gemeinsamen Vater, wobei sie es versteht, den hinsichtlich ethnischer Abstammung, Alter, Klassenzugehörigkeit und sexuellen Präferenzen sehr verschiedenen und einander - zunächst - durchaus nicht mit Zuneigung zugetanen Frauen jeweils eine eigene Stimme zu verleihen. Das "Grundthema" des von der Kritik zu Unrecht nicht immer gewürdigten Buches sei nicht etwa der Inzest, wie viele KritikerInnen meinen würden, sondern "der Haß zwischen vier Frauen, der aus ihren fundamental verschiedenen Anschauungen über das Leben erwächst", erklärte die Autorin. Missverständnisse und Ablehnung der Kritik trafen sie umso stärker, als sie "immens viel" von sich selbst "in dieses Buch gesteckt" habe, das "eine Antwort auf das wichtigste Buch", das sie "je gelesen" hatte, ist. Auf welches Buch sie anspielt, verrät sie allerdings nicht. Jedenfalls aber handelt es sich bei "Vater unser" auch um eine späte Korrektur ihres frühen Romans "Frauen", dem verschiedentlich vorgehalten wurde, sich allzu sehr auf die Probleme weißer Mittelstandsfrauen zu konzentrieren, die sie für diejenigen von Frauen überhaupt ausgebe.

1992, French legt gerade letzte Hand an "Vater unser", wird ein bösartiger Tumor an ihrer Speisröhre diagnostiziert. Speisenröhrenkrebs gilt als unheilbar, und die Ärzte teilen ihr mit, sie habe noch ein Jahr, vielleicht auch 18 Monate zu leben. Trotz der aussichtslosen Prognose bringt sie nicht nur die Arbeit an "Vater unser" zu Ende und beginnt mit "Mein Sommer mit George" darüber hinaus einen neuen Roman; sie nimmt auch und vor allem den aussichtslos erscheinenden Kampf gegen den Krebs auf. Dass sie gerade in den schweren Jahren ihrer Krankheit mit "Mein Sommer mit George" ihr vielleicht amüsantestes Buch verfasste, erstaunt. Dieser, wie die Autorin ihn selbst kennzeichnet, "satirische Roman[ ] über die absurde Liebesaffäre einer älteren Frau" erzählt von der leidenschaftlichen Liebe einer Frau Mitte 60 zu einem etwas jüngeren Mann und nimmt dabei en passant Autorinnen aufs Korn, die wenn auch nicht gerade 600, so doch 87 Liebesromane geschrieben haben. Nein, eigentlich nimmt sie nicht die Autorinnen aufs Korn, sondern die Klischees, derer sie sich bedienen. Für die literarisierte Trivialautorin selbst - es ist nur eine - zeigt sich das Buch voller Zuneigung und Verständnis, ohne allerdings den Blick von deren Schwächen abzuwenden.

Nachdem der Krebs besiegt und der Roman beendet war, schrieb French das autobiografische Buch "Meine Zeit in der Hölle", in dem sie ihren siegreichen Kampf gegen den Krebs eindringlich und bewegend schildert. Das Resümee des Buches aber klingt desillusioniert, auch resigniert. "[N]icht nur in bezug auf mich habe ich keine großen Wünsche mehr" schreibt French, "auch hinsichtlich der Welt als Ganzes ist die Zeit der großen Wünsche vorbei. Ich stand an der Grenze des Todes, und diese Erfahrung hat den unverbesserlichen Glauben in mir ausgelöscht, die ideale Welt ließe sich verwirklichen, wenn die Leute nur dieses oder jenes täten, wenn sie nur die Augen öffnen würden, wenn sie sich nur erlauben würden, glücklicher zu sein. [...] Ich stelle mir nicht länger vor, viel dazu beitragen zu können, daß das Jahrtausend der Menschlichkeit anbricht, oder überhaupt irgend etwas ändern zu können." Doch bleiben nicht nur Desillusionierung und Resignation, sondern auch ein Gefühl der Befreiung. Denn mit der Illusion von der Möglichkeit einer idealen Welt, für deren Verwirklichung sie selbst die Verantwortung trägt, hat sie auch eine "schmerzliche Fracht" abgeworfen. Seitdem fühlt sie sich "fast heiter, gelassen" und "frei". Selbstverständlich arbeitet sie dennoch an ihrem nächsten großen Buch, einer mehrbändigen "Geschichte der Frauen", die zweifellos ebenso feministisch und engagiert sein wird wie ihre bisherigen Werke - und ebenso lesenswert.

Am 21. November diesen Jahres begeht Marilyn French ihren 75. Geburtstag.

Titelbild

Marilyn French: Vater unser. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Cornelia Holfelder von der Tann und Gesine Strempel.
Goldmann Verlag, München 1996.
636 Seiten, 11,00 EUR.
ISBN-10: 3442720184

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Marilyn French: Mein Sommer mit George. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Elke Link.
Goldmann Verlag, München 1999.
320 Seiten, 9,50 EUR.
ISBN-10: 3442724325

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Marilyn French: Meine Zeit in der Hölle. Eine Erinnerung.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Edith Winner.
Goldmann Verlag, München 2001.
319 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-10: 3442722780

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