Wie funktioniert der Habitus?

Der lange Weg des Habitus durch die Philosophiegeschichte

Von Johannes SpringerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Springer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Marsch durch die Geschichte des Habituskonzeptes, den Peter Nickl in "Ordnung der Gefühle" betreibt, endet bei Pierre Bourdieu. An dem Ort, an dem die Mehrheit der zeitgenössischen Habitusanalytiker wohl die längste Zeit verweilen würde, hat der Autor dieser umfassenden Studie allerdings nur mehr die Zeit für eine kursorische Erörterung. Denn den Skizzen zu den Gegenwartsbemühungen um den Habitus geht eine sehr tiefe Erörterung der wesentlichen Stationen des Habitus in der Philosophiehistorie voraus. Bereits einleitend wird auf die Scharnier- bzw. Verbindungsfunktion des Habitus aufmerksam gemacht, der in der Lage ist, die Unterscheidung zwischen physischer und psychischer Ebene partiell zu überdecken. Sinnlichkeit und Geist werden hier also eng geführt und werden ihrer antagonistischen Relation enthoben. Die Betonung der Erfahrung, der Gewöhnung, der praktischen Erinnerung, auch der körperlichen, die dem Aristotelismus immanent ist, gewinnt in der Diskussion um den Habitus große Bedeutung. Es liegt aber auch eine Schwierigkeit in diesen Voreruierungen des Feldes. Denn Nickl beharrt darauf, eine Trennlinie zwischen dem Habitus und der Gewohnheit einzuziehen, was, wie er auch einräumt, nie ganz sauber gelingen kann. So beschränkt er sich darauf, dem Habitus einige positive Attribute beizuordnen, die auf Aktivität und bewusste, bestimmte Entschlusskraft hinauslaufen. Das, was ohne großes Engagement als verinnerlichter Automatismus abläuft, ist für Nickl eher als negative Gewohnheit vom die ganze Seele beanspruchenden Habitus zu trennen. Es ist fraglich, ob diese Beurteilung harmoniert mit der von Bourdieu als Trägheit des Habitus beschriebenen Hysteresis. Dieses Element, das stark auf die inkorporierte Geschichte, die Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart abhebt, müsste man im Nickl'schen Sinne wohl als Gewohnheit beschreiben, was nicht zur Gänze Plausibilität entfalten kann.

Für Nickl hat Habitus viel mit moralischem Wissen oder Intuition und tugendhafter Handlungsorientierung zu tun. Hierzu gesellt sich noch ein subjektzentrierter, auf persönliche Integrität und Kontinuität abzielender Anspruch, der das Herstellen einer inneren Ordnung, eine Art Synergie der einzelnen Teile im Sinn hat. Entgegnen könnte man hier, dass die "strukturierte Struktur", die gesellschaftliche Formation, für die Produktion, aber vor allem für die Bewertung des Habitus, was demnach der Tugendhaftigkeit zugeschlagen wird, etwas vernachlässigt wird. Aber das Identitäts- bzw. Stabilitätskonzept des Habitus ist vielleicht von jeher einer der problematischsten Aspekte, da diese Kohärenz- und Stabilitätsvorstellungen reichlich statisch daherkommen und dem Subjekt eine merkwürdig autonome Art zugestehen. Die Verknüpfung der maximalen Ausschöpfung des Reservoirs menschlicher Handlungsbefähigung, also der Definition des Habitus als das "Äußerste dessen, was einer sein kann" mit Tugendhaftigkeit, führt Nickl zu Aristoteles. Vor allem aus seiner Lesart des Aristoteles leitet er ab, dass der Habitus mit Tugend einiges gemein haben muss, denn durch den Habitus wird die Stabilität der Innenseite des Menschen, die Anordnung von Gefühl und Geist in harmonischen Dispositionen gewährleistet. Dass aber Aristoteles den Nickl'schen Schritt zur Differenzierung in Gewohnheit und Habitus/hexis trägt, ist etwas unklar. Wenn nämlich Aristoteles davon ausgeht, dass man ein praktisches Wissen ausbildet, welches sich durch praktische Tätigkeiten in der Welt konstituiert und abgerufen wird als nicht-intellektuelles, in den Körper eingeschriebenes Vermögen zur Hervorbringung von Handlungen, dann würde hexis nach der von Nickl getroffenen Unterscheidung eher in Gewohnheit aufgehen.

Es erscheint eher als etwas, das, um es mit Gehlen zu sagen, man "verfügbar hat und einfach kann". Gehlen ist in Nickls ausgesprochen konsequenten und überlegten Habitusexpedition allerdings mit Bourdieu gemeinsam erst der Schlusspunkt. Dazwischen liegen sehr fruchtbare Exkurse zu Descartes, dem als Anti-Habitus Denker und Scheider von Geist und Leib wenig Zuneigung entgegengebracht wird oder zu Schiller, der hier mit Aristoteles zusammengedacht wird und dem eine interessante Deutung in diesem Feld widerfährt. Präziser als Nickl und innovativer verknüpft kann man dieses Thema kaum bewältigen. Auch wenn man sich mitunter bei einigen Prämissen schwer tut, so dem unbedingten Willen, allenthalben Brücken zum ethischen, guten Handeln schlagen und im Habitus die Maximierung der menschlichen Natur zum Guten hin sehen zu wollen, so ringt er all seinen Gegenständen mit dieser Konsequenz neue Aufsichten ab, was nur gewinnbringend zu nennen ist.

Titelbild

Peter Nickl: Ordnung der Gefühle. Studien zum Begriff des Habitus.
Felix Meiner Verlag, Hamburg 2001.
247 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 378731587X

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