Im Takt der Welt

Peter Kurzeck setzt mit "Ein Kirschkern im März" seinen autobiografischen Romanzyklus fort

Von Ulrich RüdenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Rüdenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Peter Kurzecks Bücher sind ein einziger Versuch, das Gefühl der vergehenden Zeit zu ertragen. Man merkt das seinen Sätzen an: Gehetzt und ruhelos sind sie, so wie der Erzähler, den es durch Frankfurt treibt und der ohne Bleibe ist, keinen festen Ort hat außer der Sprache. In der Sprache bewegt sich Kurzeck wie ein Flaneur, er schweift ab, geht Umwege, lässt sich treiben. Den Sätzen fehlt oftmals das Verb, der Kern - vermeintlich tut sich nichts in ihnen. Sie sind ganz für den Augenblick gemacht, der bleiben soll. Keine Handlung, aber doch kein Stillstand. Wiederholung und Variation. Monotonie und Rhythmus. Peter Kurzecks Bücher sind kontemplativ und flüchtig zugleich: Einübungen ins unvermeidliche Verschwinden, das durch die Beobachtung des Alltags hinausgezögert werden soll. Skrupulös wird jedes noch so am Rande liegende Detail registriert, archiviert und in den eigentümlich ruckenden Takt dieser Prosa gebracht. Leben, Erinnern und Schreiben fließen in eins. Als Schriftsteller, so Kurzecks Credo, sei man zuständig für die Vielfalt der Welt. Die Vielfalt der Welt entfaltet sich in seinen Texten unter einem mikroskopischen Blick.

Peter Kurzecks neues Buch heißt "Ein Kirschkern im März". Es ist der dritte Teil einer mittlerweile vom Nachwort für eine kurze Frankfurtprosa auf acht Bände angewachsenen autobiografischen Romanfolge, die zu Beginn des Jahres 1984 spielt und den Erzähler als mittellosen Schriftsteller präsentiert, als Verzweifelten, als Aufbrechenden. "Als Gast. Alle Abende mit meinem Leben unter dem Oberlichtfenster oder im leeren schweigenden Nebenzimmer. Am Anfang des Abends. Immer der gleiche Moment. Noch eben hell. März, eine Amsel singt. Du bist müde und spürst, wie die Zeit an dir zieht. Wer bin ich? Und warum hier? Bevor du dich jedesmal wieder auf den Weg machst, deinem Kind gute Nacht sagen. Carina ist viereinhalb. Ende November die Trennung. Vorher fristgerecht meine Arbeit verloren, eine unersetzliche Halbtagsstelle in einem Antiquariat. Kein Geld, keine Wohnung, kein Einkommen. Schriftsteller." Hier ist bereits einiges Material dieser Prosa aufgelistet, man kennt es aus den vorangegangenen Romanen: eine eben vollzogene Trennung, die Sorge um die kleine Tochter Carina, das frei schwebende Dasein als Schriftsteller, der ins Existenzielle überhöhte Status als Gast, die immer wieder durchquerten Straßen Frankfurts, eine ungewisse Zukunft, die leitmotivisch auftauchenden Amseln, die den Frühling ankündigen. "Ein Kirschkern im März" knüpft direkt an Peter Kurzecks Bücher "Übers Eis" und "Als Gast" an, ist ein Teil des letzten Romans. Alles bei diesem Autor war schon da, alles verspricht, immer wieder aufzutauchen. Eine ewige Spirale der Erinnerung, in die der Erzähler gerät und die irgendwo anfängt und nirgendwo ausläuft. Das Alter Ego Kurzecks erkundet das, was ihn umgibt, und stößt dabei immer wieder auf sich selbst: Auf die eigene Kindheit im oberhessischen Dorf Staufenberg, vor allem auf die frühe Nachkriegszeit. Indem er seiner Tochter Carina von den vergangenen Erlebnissen erzählt und gleichzeitig an einem Roman über diese Kindheitsjahre arbeitet, spiegelt sich das Jetzt in der Vergangenheit. In den Spaziergängen mit der Tochter werden das Gewesene und der Augenblick heraufbeschworen. Der Erzähler findet und erfindet sich - angestachelt durch die Neugier und den unbelasteten Blick des Mädchens. Die Tochter ist es auch, die im Roman prägnant den Schreibimpuls Kurzecks auf den Punkt bringt, eine Poetologie in nuce: "Also müssen mier nämlich die sein, die sich das alles merken, du und ich, merk es dir!"

Alles hat miteinander zu tun: Die Welt besteht aus unzähligen Assoziationsschleifen, Motivketten knüpfen sich unentwegt fort. Im Autobiografischen kommt die sehr direkte und zugleich stilisierte Prosa Kurzecks zu sich selbst. Aber stets ist die autobiografische Form eine gebrochene, gebrochen schon durch die Zeit, die sich zwischen Erleben und Aufschreiben schiebt: eine Rekonstruktion der Wirklichkeit, eine Neuschöpfung.

Es geht um das Vergehen der "ruckenden" Zeit, die eingefroren werden soll. Es geht um eine ungeheure Verdichtung. So mager und zurückgenommen die Themen, die verhandelt werden, so intensiv die Auseinandersetzung mit einem Ich, das sich immer wieder in Selbstgesprächen zu fassen sucht. Dieses Ich ist jene Instanz, durch die der Alltag hindurch fließt und in der sich Geschichten, Gesehenes und Begebenheiten ablagern. Im Bild des Kirschkerns, den der Erzähler, nachdem der Schnee im März geschmolzen ist, auf einem Feldweg entdeckt, wird diese Form der Weltwahrnehmung im neuen Roman mitreflektiert: "Und hat sich seither herumgetrieben, der Kern. Immer an der Luft. Sonne, Wind, Regen. Ein Vagabundenleben. Und lang auch unter dem Schnee. Erst ein Regen- und dann ein Schneewinter, sagte ich, ihr wisst es ja selbst. Und jetzt so hell und so leicht der Kern. Ausgebleicht und verwittert, sie trocknen von innen aus, deshalb so leicht. Immer wenn man einen findet, jeden März oder alle paar Jahre, fallen einem alle früheren wieder ein. Und die Tage und Orte dazu. Und wer man gewesen ist und was man sich dabei gedacht hat. Die ersten warmen Tage."

Bei Kurzeck geht es nicht um Handlung, sondern um die Auffächerung eines vielschichtigen Jetzt - und um Sound. Die Texte sind musikalische Gebilde, in denen der Klang der Alltagssprache, aber auch Dialekte und Jargons hörbar gemacht werden. Sie sind präzise geformt, und wenn der Autor sie bei Lesungen auf seine eindringliche, fast mantrahafte Weise vorträgt, wird ihr rhythmisches Prinzip noch deutlicher: Sie nehmen die Bewegung des Gehenden auf, dem die Tätigkeit des Gehens schon nicht mehr bewusst ist, dem Außen und Innen verschwimmen, dessen Denken vollkommen mit dem Takt der Welt korrespondiert. Gleichklang und Repetition: Es sind kleine Verschiebungen, die in diesem Text stattfinden, subtile Variationen werden bedeutsam, die Kurzecks Prosa immer wieder öffnen. Die Romane sind im wahrsten Sinne genau komponiert.

"Du erzählst dir die Welt, du erzählst dir dich selbst", heißt es einmal. Seinen Ton hat der 60-jährige Peter Kurzeck in mittlerweile sieben Romanen entwickelt. Er ist unverkennbar. Das verrückt Selbstbezügliche und Wunderbare dieses Erzählprojekts hat tatsächlich mit der Angst vor Vergänglichkeit zu tun. Mit einer Erinnerungssucht. Und mit der Poesie, die dem prosaischen Alltag abgerungen werden muss.

Titelbild

Peter Kurzeck: Ein Kirschkern im März. Roman.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
282 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3878779356

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