Lasst Euch in die Füße schneiden

Dieter M. Gräfs dritter Lyrikband "Westrand"

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hier sind Gedichte Montagen mit "schnellem Wechsel der Redeperspektiven", "Lücken und Brüche", keine Zusammenhänge seien mehr kenntlich - kurz: "Hier wird gezappt", so verzweifelt Wulf Segebrecht am dritten Lyrikband von Dieter M. Gräf mit dem entlegenen Titel "Westrand". Den Gedichten von Dieter M. Gräf fehle jede emotionale Beteiligung, klagt er in der Frankfurter Allgemeinen.

Es scheint wahr, auf den ersten Blick bietet sich dem Leser ein Scherbenhaufen, auf dem er sich mit nackten Füssen zu bewegen hat. Verwirrt huscht der Leser von der Türkei nach Indien, in die Wüste und nach Los Angeles; Geschichten blutiger Schlachten, Stalingrad, RAF und Prinzessin Diana kommen zusammen. Die Scherben passen nicht zusammen, schneiden in den Verstand. Es ergibt sich kein einheitliches Bild, das Lesen schmerzt. Wörter scheinen auf den ersten Blick wahllos aneinander gereiht, einzelne Wörter sind sogar zerrissen, zerschnitten, erst nach Zeilen findet sich ein weiteres Fragment. Christel Heybrock schreibt: "Man entdeckt Bruchstücke visueller Vorgänge, Fragmente von Bildern außerordentlicher Schärfe - aber nichts fügt sich zusammen."

Gräf, geboren 1960 in Ludwigshafen am Rhein, lebt seit 1991 als Schriftsteller in Köln. Sein erster Lyrikband "Rauschstudie: Vater + Sohn" erschien 1994, sein zweiter Gedichtband "Treibender Kopf. Gedichte" 1997. Wie für seine ersten beiden Gedichtbände erntete Gräf mit dem dritten Band viel Lob und Kritik.

"Westrand" wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Preis "Buch des Jahres 2002" durch den Förderkreis deutscher Schriftsteller in Rheinland-Pfalz. Thomas Lehr betonte in seiner Laudatio, dass Dieter Gräf an den neuralgischen Punkten suche, "an denen die Schlüsselsymbole unserer Nationalgeschichte gelagert sind, in einem letztlich irrationalen, schrecklich rasch politisierbaren Bereich". Genau das schien Wulf Segebrecht zu stören. Als "postmoderne Gleichgültigkeit" charakterisiert er den Höllenmut Gräfs bei der Beschwörung historischer Figuren und politischer Systeme. Vor den Aussagen des Lagerkommandanten in Auschwitz, Rudolf Höss, schreckt Gräf nicht zurück, bringt sie in einen Rhythmus - das ist "böse Poesie", glaubt Susanne Riedel in der Wochenzeitung "Die Zeit". Hier schreibt tatsächlich ein Getriebener. Verbindungen werden geschaffen, die unter die Haut gehen: Der Leser sieht Menschen vor einer Grube, nackten Menschen wird Gold aus dem Gesicht gebrochen, und eine Limousine hält an: "Vergib einer orgelnden Seele, geschleifte Marie". Attacke!

Eine Gratwanderung an der Grenze des Erträglichen. Die Scherben sollen in die Füße schneiden, die Verwirrung ist gewollt. Gräf provoziert und fordert den genauen Blick. In einem langen Anhang gibt der Autor dem Leser Hilfestellungen für die gebrochene Rede in den Gedichten. Es eröffnet sich eine erstaunliche Mehrdimensionalität, die vielstimmigen Verse - Susanne Riedel spricht gar von "Zwölftonmusik" - verlangen nach Geduld, ohne die der in kurze Zeilen gepresste verdichtete Inhalt vollkommen unkenntlich bleibt.

Und wenn Gräf mit dem Anhang und den Erläuterungen Scherben kittet und einen Rettungsanker Richtung Realität auswirft, dann wird dadurch nur noch deutlicher, was er eigentlich mitteilen will. Dass nämlich die Realität aus zerrissenen Bildern besteht, deren zeitliche oder räumliche Einordnung keine Rolle spielen. Alle Fragmente spielen zusammen, rotieren im Schädel des Lesers und ergeben ständig neue Zusammenhänge. Andere Facetten rücken in den Mittelpunkt, manches erleuchtet, als wenn man die Gedichte zum ersten Mal studierte. Ein wahrlich lohnenswertes Erlebnis.

Titelbild

Dieter M. Gräf: Westrand. Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
160 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3518413457

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