Der Vergangenheit entgegen

Zur Hörbuchfassung von Uwe Timms Roman "Am Beispiel meines Bruders"

Von Andrea PotzlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Potzler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit "Am Beispiel meines Bruders" hat Uwe Timm eine Erzählung vorgelegt, die der eigenen Vergangenheit nachgeht. Die Geschichte ist schnell erzählt: Uwe Timm berichtet vom Bruder, der nach der Amputation beider Beine in einem Feldlazarett starb. Aber erst nach dem Tod der Eltern und der Schwester kann er dessen Vergangenheit nachspüren. Karl Heinz Timm, der in Gesten und Worten der Familie immer gegenwärtige Bruder, meldete sich 1942 freiwillig zur Totenkopfdivision der SS. Uwe Timm hat wenig eigene Erinnerungen an den großen, zu dieser Zeit jedoch erst neunzehnjährigen Bruder. Als dieser starb, war der Autor drei Jahre alt. Er erfährt vor allem aus den Erzählungen seiner Eltern und dem Tagebuch des Älteren, was dieser für ein Mensch gewesen sein mag.

Aus der Lesung von Gert Heidenreich wird jedoch klar, wie schwierig und scheinbar oft unerträglich dieses Sichnähern ist. Immer wieder reagiert Timm fassungslos, angesichts der Tatsache, wie der Bruder sich in die Totenkopfdivison hat einreihen können. Aus dem Tagebuch erfährt er, dass des Bruders Meinung über die feindlichen Truppen keine war, die in den Gegnern Menschen sah. Da ist nur die Rede davon, welche unmenschliche Behandlung den eigenen Leuten zuteil wurde. Es werden keine Schuldfragen aufgeworfen, die den Anteil der Deutschen an den Gräueln des Krieges kritisch beleuchten. Letztlich verweigert der Bruder die Erzählung der Geschehnisse mit den immer wieder in Uwe Timms Buch erwähnten Worten: "Hiermit schließe ich mein Tagebuch, da ich für unsinnig halte, über so grausame Dinge wie sie manchmal geschehen, Buch zu führen."

Die Spekulationen können da freilich nicht ausbleiben: War im Bruder doch ein Funken Menschlichkeit, der nicht nur das eigene Wohl, das der Verwandten und der Kameraden umfasste? Timm berichtet davon, und Heidenreich trägt in kongenial nüchterner Stimme vor. Da ist kein Mitleid, aber auch keine Anklage zu hören - auch wenn es schwer zu fallen scheint.

Das Beachtlichste an diesem Werk ist eben dieser ruhige Ton, der den Zuhörer spüren lässt, dass es Timm ein notwendiges Anliegen gewesen sein muss, über den eigenen Bruder schreibend nachzudenken. Fast nebenbei liegt uns mit dieser Suche nach der Vergangenheit nicht nur eine Bewältigung der eigenen Geschichte, sondern darüber hinaus eine Darstellung eines deutschen Mannes zur Zeit der Nationalsozialisten vor. Das Beispiel scheint für Timm nur durch die Verwandtschaft zu Karl Heinz ein außergewöhnliches zu sein, nicht aber betrachtet im historischen Kontext. Wie viele, fragt er, waren schon im Widerstand, wie viele verweigerten die Erschießung von Zivilisten, wo eine Verweigerung nachweislich nicht einmal bestraft wurde? Tatsächlich bringt er zahlreiche Belege aus Büchern von Geschichts- und Politikwissenschaftlern für das freiwillige Sichfügen in das Unglaubliche der Kriegsverbrechen und der Massenvernichtung. Die Details machen das Buch in seiner nüchternen Beschreibung nahbar. Man erfährt scheinbar Unwichtiges in der oft so lakonischen Erzählung, wie etwa, mit welchem Händedruck Uwe Timm und seine Mutter stilles Einvernehmen signalisierten.

Zudem stellt der Bruder den exemplarischen Anlass zur Aufarbeitung der Geschichte der eigenen Familie dar.

Es liegt auf der Hand, dass es sich hier um Timms persönlichstes Buch handelt, in dem immer auch wieder das eigene Befinden während des Sammelns der Geschichten und des Schreibens geschildert wird. Mit Gert Heidenreich ist der Idealfall eines Vorlesers besetzt worden: Es ist mir nicht denkbar, Timms Buch von einem anderen in ähnlich beeindruckender Weise gelesen vorzustellen. Seine ruhige und klare Stimme, die unweigerlich vorangeht ohne irgendetwas zu überstürzen, aber doch zugleich um die Unvermeidlichkeit des Fortschreitens der Erzählung zu wissen scheint. Ich werde die Abende, an denen ich ihm lauschte in guter und nachdenklicher Erinnerung behalten.

Titelbild

Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders. 4 CDs.
Random House Audio, Köln 2004.
280 min, 29,50 EUR.
ISBN-10: 3898306534

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