Nach den Regeln eines Musikstücks

Kurt Schwitters' Lautpoesie im Hörvergleich

Von Helge SchmidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helge Schmid

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zehn Jahre liegen zwischen den beiden Interpretationen von Kurt Schwitters' berühmtester Lautdichtung, der "Ursonate", die hier zu würdigen sind, und zehn Jahre waren ins Land gegangen, ehe Schwitters seine "Lautsonate" in Viersatzform "nach den Regeln eines Musikstücks konstruiert" hatte - zehn Jahre von der (vermutlich) ersten Anregung durch ein Plakatgedicht Raoul Hausmanns bis zur fertigen Lautkomposition: 1. Satz: Einleitung und Rondo, 2. Satz: Largo, 3. Satz: Scherzo - Trio - Scherzo, 4. Satz: Presto - Denoumont - Kadenz - Finale.

Die Vorgeschichte dieses ungewöhnlichen Kunstwerkes, angesiedelt zwischen Lautpoesie und Lautmusik, ist oft erzählt worden: "KiKaKoKú! Ek oraláps!" (1897), das laut Hausmann "erste Lautgedicht der Civilisation", stammte von Paul Scheerbart, und noch im gleichen Jahr entstand sein Lautgedicht "Lifakûbo iba solla", das Scheerbart in das Gästebuch von Itty Löscher eingetragen hatte. Die erste "Lautsonate" ließ jedoch noch 25 Jahre auf sich warten, und im Rückblick schrieb Hausmann: "Erst trug Schwitters mein Gedicht im 'Sturm' als 'Portrait Raoul Hausmann' vor, später, gegen 1923, hatte er es stark ausgebaut in 50facher Wiederholung[,] und endlich 1932 hatte er das Scherzo 'lanke trrgll' und andere Teile dazu erfunden und das Ganze als 'Urlautsonate' in seinem MERZ Nr. 24 veröffentlicht."

Als Geburtsstunde der "Ursonate" gilt der Prager Merz-Antidada-Präsentismus-Auftritt von Kurt Schwitters und Raoul Hausmann im September 1921. Hausmann rezitierte dort seine Lautgedichte "OFFEAH" und "fmsbw". Hausmanns Buchstabenfolge "fmsbwtözäu" soll dabei Schwitters zu seinem "Fümms bö wö tää zää Uu" inspiriert haben, und das "qjyE" aus "OFFEAH" war demnach das Vorbild des "kwiiEe" seiner "Ursonate". Zwischen 1922 und 1932 komponierte Schwitters an seiner Sonate in Urlauten, deren Vorstufen er häufig öffentlich zum Besten gab. Am 5. Mai 1932 schließlich ließ er die "Ursonate" in den Studios des Süddeutschen Rundfunks in Stuttgart aufzeichnen. Das Tondokument ist bis heute Vorbild aller Schwitters-Einspielungen.

Der Theaterwissenschaftler Arnulf Appel und der (spätere) Verleger Eric Erfurth machten sich Anfang der neunziger Jahre an eine neue Aufführung der "Ursonate" und präsentierten sie erstmals in den Räumen des Münchener Kunstvereins. Der Literaturwissenschaftler, Autor und Rezitator Bernd Rauschenbach, Jahrgang 1952, bekannt als Mitarbeiter der Arno-Schmidt-Stiftung, studierte genau zehn Jahre später seine Version der "Ursonate" ein. Beide Aufnahmen können Werktreue für sich in Anspruch nehmen, setzen aber durchaus unterschiedliche Akzente.

Bei der Länge des Vortrages halten sie sich in etwa an die beiden Vorgaben, die Schwitters gemacht hat: "Die Dauer der ganzen Sonate ist ca. 35 Minuten" - Rauschenbach bleibt mit exakt 30 Minuten knapp darunter - und "Immer wieder werden die Melodien abgeändert, wiederholt, so daß die Länge des ganzen 55 Minuten beträgt" - mit circa 53 Minuten folgt Arnulf Appel dieser Werkbeschreibung. Die über 20-minütige Differenz der beiden Einspielungen hat auch Konsequenzen für die Vortragsdynamik: Während Appel mit gedämpfter Agogik durch die Partitur führt, seinen Vortrag insgesamt getragener anlegt und die Pausen zelebriert, dabei das Angebot des Zeilenumbruchs zum Luftholen nutzend, eilt Rauschenbach mit größerer Dynamik und höherem Tempo durch die Zeilen, die formalen Abschnitte flott und zugleich sorgfältig akzentuierend. Beide, Arnulf wie Rauschenbach, sind Sprechkünstler von hohen Graden, die ihre sauber bis in hohe Lagen geführte Stimmen ideen- und variantenreich einzusetzen wissen. Während Ersterer mit seiner sanften und klar konturierten Stimme jedoch an die Grenzen seiner Kapazität gehen muss, ist Letzterem der Schwierigkeitsgrad der Lautkomposition kaum anzumerken - so klang- und spannungsvoll artikuliert er das Schwitter'sche Vokal- und Konsonantengewitter und beschließt seinen Vortrag der "Ursonate" mit Schwitters' berühmten "Nießscherzo" und einer Lachorgie, die beweisen, dass er selbst die anspruchsvollsten Partituren aus der Geschichte der Lautdichtung mühelos einzustudieren und vorzuführen weiß.

Mit leichtem, angenehm timbriertem Stimmenklang trägt Rauschenbach auch noch eine Auswahl 35 kleinerer Texte aus Schwitters' Fundus vor, darunter "An Anna Blume" (1919), "Denaturierte Poesie" (1922), "Kleine Geschichte aus der Untergrundbahn" (1933), "Wir leben 25 Minuten zu spät" (1938) und "Das viereckige Luftloch" (1942). Ein Hochgenuss!

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Kurt Schwitters: Ursonate. Inszenierung von Arnulf Appel und Eric Erfurth. Vorgetragen von Arnulf Appel.
1 CD mit Booklet (8 Seiten). Eine Aufnahme des Bayerischen Rundfunks.
Logo Verlag Eric Erfurth, Obernburg a. M. 1994.
54 Minuten, 21,00 EUR.
ISBN-10: 3980308715

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Titelbild

Kurt Schwitters: Von der Gurgel bis zur Zehe. Vorgetragen von Bernd Rauschenbach. 2 CDs Booklet (12 Seiten). Eine Aufnahme von voco fauxPas, artag-studio, Zürich.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2003.
94 Minuten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3036911421

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