Jedem Verfall wohnt eine schöpferische Kraft inne

Ariane Wild untersucht "Poetologie und Décadence in der Lyrik Baudelaires, Verlaines, Trakls und Rilkes"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Deutungsmuster für historische und kulturelle Phasen ist der Begriff der "Décadence" seit der Antike bekannt, auch wenn das Wort selbst erst von den französischen Aufklärern durchgesetzt wurde; seither fungiert die Décadence als Phase des Niedergangs in den verschiedensten Geschichts- und Entwicklungstheorien, die einen rhythmischen Auf- und Abstieg von Nationen, Kulturen usw. zugrunde legen: so etwa auch in Schopenhauers Bild vom ewigen Kreislauf der Geschichte. Bis zur Mitte der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts spielte der Terminus ausschließlich in Frankreich eine Rolle, dann wurde er zum europäischen Modewort, das vor allem die Abwehrreaktion einer jungen Schriftstellergeneration auf den Fortschrittsglauben und die Banalitäten der zeitgenössischen Industriegesellschaft artikulierte. Als positive Selbstkennzeichnung scheint der Begriff der Décadence der schöpferischen Intelligenz also zur Kompensation ihres objektiven Funktionsverlusts im Hochkapitalismus zu dienen, zur Verarbeitung jener gesellschaftlichen Entfremdung, die sie selbst zunächst schmerzhaft als "neue Einsamkeit" erfuhr. Dabei ist es weniger der Verlust an Lebenskraft als vielmehr dessen Konsequenz oder Begleiterscheinung: eine zum Vitalitätsverlust komplementäre psychische Verfeinerung, Sensibilisierung und Ästhetisierung, die den 'positiven' Gehalt im Décadence-Begriff ausmacht. Im deutschen Kulturraum ist er am nachdrücklichsten von Nietzsche verwendet und in dessen Rezeption popularisiert worden, und zwar unter Neuakzentuierung seines kritischen Gehalts. Nietzsche spricht von "décadence" und vom Typus des "décadent" in kritischer Absicht und polemischer Schärfe vor allem im Blick auf die Person und die künstlerische Praxis Richard Wagners.

Ariane Wild hat nun den Versuch unternommen, den Begriff der Décadence mit demjenigen der Poetologie engzuführen. Anhand der Gedichte der beiden für die Entwicklung der Décadence im Bereich der Lyrik bedeutendsten französischen Autoren, Charles Baudelaire und Paul Verlaine, ist sie bestrebt zu zeigen, wie die Décadence-Erfahrung das dichterische Selbstverständnis auch deutschsprachiger Autoren wie Georg Trakl und Rainer Maria Rilke formt. Zunächst werden in grundlegenden Kapiteln die Themenbereiche Poetologie und Décadence abgesteckt, bevor in Einzelkapiteln zu den vier Lyrikern untersucht wird, welche spezifische Form von poetologischer Lyrik die Erfahrung von Décadence jeweils hervorbringt. Abschließend vergleicht Wild die verschiedenen Arten miteinander, auf die - aus dem Erlebnis von Verfall und Tod - poetologische Gedichte entstehen. Durchaus neu und interessant ist der Annahme der Verfasserin, dass die Décadence-Erfahrung eine für die Zeit eigene Form des poetologischen Gedichtes hervorbringe. Ihrer Meinung nach ergibt sich eine grundsätzliche Verbindung der Gattung des poetologischen Gedichtes und der Epoche der Décadence vor allem daraus, dass es sich in beiden Fällen um Literatur der Krisenzeiten handelt. Dabei stelle das Gefühl, in eine Endzeit geboren worden zu sein, nicht unbedingt eine allgemeingültige Erfahrung dar, sondern betreffe in erster Linie "Intellektuelle und Künstler, die angesichts der Modernisierung, Technisierung und Vermassung der Welt ihre eigene Rolle neu definieren und legitimieren müssen". Das Dichterbild, das die Literatur der Décadence entwirft, ist deswegen von der Frage bestimmt, "wie [der Dichter] mit dieser Erfahrung umgeht, was für ein Verhältnis zur Gesellschaft er hat, wie er seine Aufgaben und Funktionen definiert und was das Ziel seiner Dichtung sein soll". Wesentliche Fragen sind, ob "der Dichter einen Ausweg aus dem Verfall findet und ihm etwas entgegensetzen kann und ob er mit seiner Dichtung eventuell dazu beitragen kann, diese Erfahrung zu bewältigen oder das Verfallende zu bewahren". Diese Ansätze prädestinieren die Lyrik der Décadence damit nach Meinung Wilds dazu, poetologische Lyrik zu sein.

Mag dieser Ansatz auf den ersten Blick seine uneingeschränkte Berechtigung für Baudelaire, Verlaine und Trakl haben, so stolpert man doch über den Namen Rilke, zumal die Forschung in den letzten Jahr(zehnt)en Rilke zwar als von der französischen Lyrik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beeinflusst erachtet hat, gleichwohl aber konstatiert, sein Gesamtwerk könne nicht als der Décadence-Literatur zugehörig eingeordnet werden. Zwar werden durchaus Themenbereiche der Décadence in Rilkes Texten analysiert, jedoch kaum als solche benannt. Das mag vor allem an dem recht unpräzisen Gebrauch des Begriffs der Décadence liegen: Manfred Engel und Ulrich Fülleborn etwa gehen davon aus, dass Rilkes Texte lediglich am Anfang das Gedankengut der Décadence aufweisen, dieses aber sehr bald durch die dann überall präsente Lebensbejahung übersteigert und aufgehoben wird. In Rilkes späten Gedichten sehen sie insofern eine Ablehnung der Décadence, als sie sich thematisch dem Hässlichen und Schrecklichen zuwenden würden. Da die Forschung zur Décadence nun aber gerade in der seit Baudelaire ansichtig werdenden "Ästhetik des Hässlichen" deren charakteristisches Merkmal sieht, stimmen offenkundig die Parameter dieser Bewertung nicht. Es ist nun das große Verdienst der Arbeit Ariane Wilds, diesen Deutungsrahmen schärfer als bisher zu konturieren und ihn für die Rilke-Forschung fruchtbar zu machen.

Dass Rilke das Wort Décadence, das sich von Frankreich ausgehend über ganz Europa verbreitet hatte, durchaus geläufig war, beweist ein Brief, den er im Februar 1912 an Artur Hospelt schreibt. Bezug nehmend auf "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" führt Rilke aus: "es sind durchaus hoffnungsvolle, große, zur Leistung anfordernde Einsichten, die über dem Schweren und Unüberwindlichen sich einstellen, aber man darf nie vergessen, daß sie innerhalb dieses Buches [gemeint ist der 'Malte'] die Bestandteile eines Untergangs geworden sind, so sehr, daß es gewiß viele geben wird, die über der Dekadenz des Verlaufes, die Höhenlage der einzelnen Punkte gar nicht aufnehmen mögen und den Brigge als das verzweifelte Buch eines Entmutigten recht weit weg legen". Bekanntlich ging es Rilke im "Malte" weniger um die bloße Wiedergabe der modernen Erfahrung, sondern um die Durchdringung von Außen- und Innenwelt, von Objekt- und Subjektraum und um die Struktur der individuellen Bildvorstellungen, die das bewusste Ich von der Realität konstruiert. Was vor allem auf den ersten Seiten der Prosaminiaturen dokumentiert wird, ist die Darstellung einer schockartig sich vollziehenden Krise. Überwältigt von den Erfahrungen der Moderne in der "fremde[n], fremde[n] Stadt", ist Malte gezwungen, alles Gewohnte in Frage zu stellen, seine Vergangenheit, das Gelebte wie auch das Geschriebene. Er wird, wie Hansgeorg Schmidt-Bergmann treffend bemerkt hat, "[b]uchstäblich [...] zu einem Anfänger, der sich erst einmal der Realität vergewissern muss, das sich die gewohnten 'Bedeutungen' ihm fortschreitend entziehen". Malte erfährt in Paris die Realität buchstäblich leiblich, "zwischen den Organen".

Zu illustrieren ist Rilkes Poetik des "sachlichen Sagens" und einer "Ästhetik des Hässlichen" auch anhand eines Briefes an Lou Andreas-Salomé, wo er am 18. Juli 1903 Folgendes über Paris anmerkt: "Und was für Menschen bin ich seither begegnet, fast an jedem Tage; Trümmern von Karyatiden, auf denen noch das ganze Leid, das ganze Gebäude eines Leides lag, unter dem sie langsam wie Schildkröten lebten. Und sie waren Vorübergehende unter Vorübergehenden, allein gelassen und ungestört in ihrem Schicksal. Man fing sie höchstens als Eindruck auf und betrachtete sie mit ruhiger sachlicher Neugier wie eine neue Art Tier, dem die Not besondere Organe ausgebildet hat, Hunger- und Sterbeorgane. Und sie trugen das trostlose, missfarbene Mimikry der übergroßen Städte und hielten aus unter dem Fuß jedes Tages, der sie trat, wie zähe Käfer, dauerten, als ob sie noch auf etwas warten müßten, zuckten wie Stücke eines zerhauenen großen Fisches, der schon fault, aber immer noch lebt. Sie lebten, lebten von nichts, vom Staub, vom Ruß und vom Schmutz auf ihrer Oberfläche, von dem, was den Hunden aus den Zähnen fällt, von irgendeinem sinnlos zerbrochenen Dinge [...] O was ist das für eine Welt! Stücke, Stücke von Menschen, Teile von Tieren, Überreste von gewesenen Dingen, und alles noch bewegt, wie in einem unheimlichen Winde durcheinandertreibend, getragen und tragend, fallend und sich überholend im Fall". Für Rilke ist die Großstadt ein Schmerz-Ort, ein Ort, an dem er Verfallserfahrungen macht. Die ihm begegnenden Menschen kann er nur noch fragmentarisch wahrnehmen, als hätte der Prozess der Verwesung bereits eingesetzt. Paris sieht er als von nahem Untergang und totaler Zerstörung bedroht, wobei die Rezeption der allgemeinen Vergänglichkeit den Dichter veranlasst, sein Dichtertum neu zu bestimmen. Nicht nur im "Malte", auch in Rilkes mittleren, späten und spätesten Gedichten stehen Décadence und poetologische Reflexionen in engem Zusammenhang. Mit der Leid(t)erfahrung der modernen Großstadt verbindet sich für Rilke auch die Möglichkeit, neue Themenbereiche für die Literatur und damit neue Schreib-Räume zu entdecken. Rilke stellt - ähnlich wie Trakl, anders jedoch als Baudelaire und Verlaine - der Großstadt die Natur als Ort entgegen, an dem das Dasein der Menschen nicht entfremdet ist und der damit positiver belegt ist als die Stadt, was Ariane Wild in ihrer Arbeit unterstreicht: "Während die Stadt bei ihm mehr und mehr zum Ort des unausweichlichen Verfalls wird, ist die Natur zwar ebenfalls mit zahlreichen Verfallsmerkmalen ausgestattet, sie bietet dem Menschen und insbesondere der Dichter-Gestalt aber auch eine Rückzugsmöglichkeit vor der dem Verfall unterworfenen Wirklichkeit [...] oder kann Ort eines unschuldigen nicht entfremdeten Daseins sein und so der von Verfall und Schuldhaftigkeit gekennzeichneten Stadt entgegengesetzt werden".

Eng damit verbunden ist bei Rilke der Motivstrang des Dichters als Außenseiter. Der Dichter der Décadence versteht sich expressis verbis als Einsamer, der aus der Gesellschaft ausgestoßen ist, aber auch aufgrund seines dichterischen Vermögens eine Sonderstellung einnimmt. "So ist seine Einsamkeit zum Teil erlitten, zum Teil gewollt, denn das Leiden regt den Dichter zu dichterischer Reflexion an und erweist sich so als notwendig für das Entstehen des Gedichtes. Außerdem bestätigt das Ausgestoßensein seine besondere Stellung als Dichter". Gleichwohl ist Rilke der einzige der von Ariane Wild behandelten Lyriker, bei dem aus der Décadence-Erfahrung eine Form von poetologischer Lyrik entsteht, die den Dichter zumindest dahingehend unterwegs sieht, den Verfall zu überwinden. Ob ihm dies tatsächlich im Text- und/oder Lebens-Raum gelungen ist, mag dahingestellt bleiben.

Titelbild

Ariane Wild: Poetologie und Décadence in der Lyrik Baudelaires, Verlaines, Trakls und Rilkes.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2002.
344 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-10: 3826022149

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