Hand-Werk

Silke Pasewalck untersucht die 'Poetik der Sinne' beim späten Rilke

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Selbstbegegnung in der Kunst und die Notwendigkeit der Selbstentäußerung in sie gehören im Hinblick auf die Wirklichkeit von Dichtung vermutlich zusammen, sind von ihr nicht abzulösen: Die Dichtung hat, wie Paul Celan in seiner Büchner-Preisrede "Der Meridian" treffend anmerkte, auch noch im technischen Akt der Niederschrift "den Weg der Kunst zu gehen" - in der Hoffnung, dass ein Leser der Handschrift nicht nur die tote Schrift, sondern möglicherweise auch die lebendige Hand des Schreibenden wahrnehmen kann, eine Hand, von der Celan in einem Brief an Hans Bender schreibt, sie gehöre "nur einem Menschen, d.h. einem einmaligen und sterblichen Seelenwesen, das mit seiner Stimme und seiner Stummheit einen Weg sucht". Und Celan fügt mit Emphase, und indem er den Wahrheitsanspruch an die Begegnung der Person knüpft, hinzu: "Nur wahre Hände schreiben wahre Gedichte. Ich sehe keinen Unterschied zwischen Händedruck und Gedicht". Obwohl Celan sich bestrebt zeigt, mit seinem Terminus "Handwerk" eine Abgrenzung von gängigen Dichtungskonzepten vorzunehmen - "Man komme uns hier nicht mit 'poiein' und dergleichen. Das bedeutete, mitsamt seinen Nähen und Fernen, wohl auch etwas anderes als in seinem heutigen Konzept" - hat er wie kaum ein zweiter erkannt, welch fundamentale Rolle die sinnliche Wahrnehmung in lyrischen Texten spielt.

Alles, was in den Bereich der Sprache fällt, zum Mittel ihrer semiozentrischen Inversion wird, bedeutet nicht mehr, sondern ist selber der Prozess der Bedeutsamkeit; es verweist nicht mehr auf etwas Abwesendes, sondern ist selbst der Prozess seiner Vergegenwärtigung. Ihren Kulminationspunkt erreicht die Inversion zunächst in den "Neuen Gedichten" Rilkes, dann aber auch in dessen späten und spätesten Gedichten, was Paul de Man sehr anschaulich gezeigt hat. Paul Celan, dessen genaue Vertrautheit mit der Dichtung Rilkes vielfach bezeugt, aber unter diesem Aspekt kaum untersucht ist, knüpft an diese Tradition an. Kaum eine Figur seiner frühen und mittleren Lyrik tritt mit so unverhohlener Dringlichkeit hervor wie die Inversion. Aber es ist charakteristisch für Celan, dass diese Figur zu abstrakter Reinheit radikalisiert wird, keinen ornamentalen Glanz mehr duldet und am Ende durch ein Verfahren preisgegeben wird, das Werner Hamacher mit der Formulierung "Inversion der Inversion" beschrieben hat.

Während die poetologische Brücke Rilkes in die Texte Celans noch nicht ausreichend untersucht wurde, ist zumindest ein beklagenswertes Desiderat der Rilke-Forschung jetzt behoben: eine Analyse der Bedeutung einer "Poetik der Sinne" für Rilkes Spätwerk, die zugleich den Dichter selbst im Lyrik-Diskurs der ästhetischen Moderne zu verorten sucht. Ausgehend vom Bild der "fünffingrigen Hand" der Sinne in Rilkes kunst- und literaturtheoretischer Schrift "Ur-Geräusch" (1919), in dem der Dichter vom Künstler generell fordert, dass er alle Sinne ausbilden und entwickeln müsse, erschließt Silke Pasewalck erstmals die poetologische Argumentation Rilkes und weist sie in seiner dichterischen Praxis nach. Dabei verzichtet die Verfasserin explizit auf ein wahrnehmungstheoretisches Modell als Grundlage, da dieses ihrer Meinung nach die Eigenart und nicht zuletzt die Provokation des Rilkeschen Ansatzes verstellt hätte. Somit richtet sie den Fokus auf eine Explikation der Sinne aus Rilkes Texten selbst heraus und verzichtet auf eine Kontextualisierung durch Bezug auf den Sinnesdiskurs zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Zu Recht unterstreicht Silke Pasewalck, dass die Rilke-Forschung sich bisher einseitig auf die Funktion des Sehens kapriziert habe, einem Sinn, dem man vorrangig im mittleren Werk Rilkes begegnet. Demgegenüber unterstreicht sie, dass sich im Übergang zum Spätwerk das Wahrnehmungskonzept nachhaltig verändere; nur unter Berücksichtigung der Beteiligung aller Sinne werde man der spezifischen Konstitution der Texte des späten Rilke gerecht. "Dem Sehen tritt nicht nur das Hören zur Seite, auch die anderen sinnlichen Modi, das Fühlen, Riechen und Schmecken, erlangen tendenziell gleichwertige Bedeutung."

Diese Annahme scheint synästhetische Konzepte zu evozieren, die im Zeitkontext der ästhetischen Moderne insbesondere aus dem Symbolismus heraus entwickelt wurden. Jedoch, so wird im Verlauf der Untersuchung deutlich, liegen Rilkes "Poetik der Sinne" keineswegs synästhetische Übertragungen zugrunde, da das Verhältnis der einzelnen Sinne zueinander vielmehr als Konfiguration gedacht werden müsse, die in drei Schritten entwickelt wird: erstens in der Betrachtung der poetologischen Reflexionen, zweitens in der Analyse der Bedeutung der einzelnen Sinne und drittens in exemplarischen Interpretationen der Gedichte des späten Rilke, die das Potential der "Poetik der Sinne" aufzeigen. Schon das erste Kapitel bietet eine detaillierte Untersuchung des von der Forschung - bis auf wenige Ausnahmen - lange Zeit sträflich vernachlässigten Aufsatzes "Ur-Geräusch", der von Pasewalck im Kontext der späten poetologischen Reflexionen Rilkes programmatisch gelesen wird. Dabei wird herausgearbeitet, dass "Rilkes Sinnespoetik weder der in der abendländischen Tradition von Ästhetik und Dichtungstheorie verankerten Hierarchie der Sinne folgt noch synästhetisch fundiert ist. Vielmehr halten alle fünf Sinne im Zuge eines ihnen auferlegten 'Gebietsgewinns' auf eine Grenze des sinnlich Erfahrbaren zu, und zwar vermittels eines doppelten Vorgangs: der Erweiterung der einzelnen 'Sinngebiete' und der Übersetzung zwischen den Sinnen".

Die sich daran anschließenden Kapitel zwei bis sechs der Arbeit konzentrieren sich auf die einzelnen Sinne. Begonnen wird mit dem 'Sehen', da dieser Sinn - zentral noch für das mittlere Werk - im Übergang zu den späten Texten eine radikale Umwertung erfährt. Obwohl der Sehsinn für das poetische Raumkonzept Rilkes weiterhin unabdingbar ist, gelingt es der Verfasserin anhand der "Gedichte an die Nacht", zumal der "Spanischen Trilogie", den "Erlebnis"-Texten und dem Motiv des Meteors zu zeigen, dass "die Grenze zwischen 'Innen' und 'Außen' in der späten Dichtung [Rilkes] keine Gültigkeit mehr besitzt, sondern durch eine Bewegungsstruktur der Perspektive ersetzt wird, die auf eine Permeabilität dieser Grenze zielt". Das ist zweifelsohne richtig, spielt aber bereits für den zentralen Text der mittleren Phase, "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge", eine mindestens ebenso gewichtige Rolle, was der Verfasserin jedoch entgeht. Das nachfolgende Kapitel widmet sich einer Analyse des Tastsinns, der von Rilke häufig im Konnex mit der Sinneswahrnehmung thematisiert wird und ähnlich stark von der von Pasewalck konstatierten "Umwertung" betroffen ist. Diese Veränderung ist der haptischen Geste als Bewegung und Tendenz selbst eingeschrieben, insofern sich im Spätwerk Rilkes ein Übergang vom Greifen über die Berührung zum Körper- und Raumgefühl vollzieht. Die in den Gedichten dieser Werkphase zu beobachtende Spannung zwischen Fassbarkeit und Unfassbarkeit lässt ermessen, warum sich Celan gerade für diese Texte so stark interessiert hat.

'Geruch' und 'Geschmack', die im Zentrum der nächsten Kapitel stehen, werden nach Ansicht der Verfasserin nun nicht um-, sondern aufgewertet, da diese 'niederen Sinne' in der ästhetischen Tradition seit dem 18. Jahrhundert eher marginalisiert worden seien. Beide stehen in einem komplementären Verhältnis zueinander: "Der Geruch ist absent und zugleich plötzlich präsent; der Geschmack ist unmittelbar präsent und zugleich flüchtig und in Auflösung begriffen. Damit figuriert der Geruch für einen Bereich der Wirklichkeit, der sich weder sehen oder fühlen noch begreifen läßt, insbesondere den Tod, während der Geschmack komplementär das 'Hiesige' - mit einem Leitwort des Spätwerks gesprochen - als Vergängliches betrifft". Abgeschlossen wird die Untersuchung der einzelnen Sinne durch das 'Hören', dem innerhalb der Sinneskonfiguration des Spätwerks eine exzeptionelle Stellung zukommt, da es in der Interdependenz zwischen Raum und Gehör die Bewegungsstruktur der Perspektive par excellence realisiere. Gleichwohl etabliere sich das Auditive nicht auf Kosten des Visuellen, sondern das Spätwerk könne dank der Neubewertung des Akustischen, was bei Rilke immer das Spektrum von Musik, Geräusch, Stille und Schwingung konnotiert, das "Äquivalenzverhältnis zwischen Sichtbarem und Hörbarem" umsetzen. Überzeugend kann Silke Pasewalck zeigen, dass Rilkes Spätwerk an den Grenzen der Erfahrbarkeit laboriert, indem die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung in engstem Zusammenhang mit Rilkes poetischem Raumkonzept und dem Verhältnis von Leben und Tod steht. Entscheidend für diesen Zusammenhang ist Rilkes Idee der 'Kontur' und sein Begriff der - metasinnlich konzipierten - 'Schwingung'. Die Verfasserin hat nicht nur überzeugend und kenntnisreich herausgearbeitet, dass und wie in der Dichtung des späten Rilke sinnliche Wahrnehmung thematisiert und in lyrische Praxis umgesetzt wird; die Arbeit sollte auch dazu beigetragen, dass sich auf der Folie dieses Wahrnehmungskonzepts Rilkes Stellung innerhalb der modernen Lyrik neu beurteilen lässt. Celan, der unbestritten bedeutendste deutschsprachige Lyriker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hat Rilkes lyrische Bemühungen stets zwischen den Polen der Lesbarkeit und Unlesbarkeit situiert und damit dessen fundamentale Bedeutung für die Lyrik der Moderne insgesamt, aber auch für seine eigenen Texte erkannt. Daran sollte anzuschließen sein.

Titelbild

Silke Pasewalck: "Die fünffingrige Hand". Die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung beim späten Rilke.
De Gruyter, Berlin 2002.
331 Seiten, 78,00 EUR.
ISBN-10: 3110172658

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