Eine Schatzkiste gefüllt mit Liebe

Ein Anthologiebändchen der schönsten Liebesgedichte und -geschichten von Rainer Maria Rilke

Von Annina MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Annina Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Hörst du, Geliebte, ich hebe die Hände- / hörst du: es rauscht ... / Welche
Gebärde der Einsamen fände / sich nicht von vielen Dingen belauscht? / Hörst
du, Geliebte, ich schließe die Lider, / und auch das ist Geräusch bis zu
dir. / Hörst du, Geliebte, ich hebe sie wieder ... / ... aber warum bist du
nicht hier."

Diese lyrische Kostprobe aus Rilkes Schaffen reicht schon, um ins Schwärmen zu geraten, und mit ein bisschen Kenntnis über Rilkes Leben und seine Liebschaften kann sich der Leser vorstellen, an wen die vor Verlangen und Sehnsucht gefüllten Schriften wohl gerichtet waren und in welcher Stimmung der Autor sie verfasst hat. So wäre es beispielsweise vorstellbar, dass das obige Gedicht mit dem Titel "Die Stille" aus dem Jahre 1900 vielleicht seiner gerade beendeten Beziehung mit Lou Andreas-Salomé, einer schillernden Persönlichkeit der Münchner Bohéme und Verfasserin der ersten Nietzsche-Biographie, gegolten hat. Der schönen und attraktiven Lou, die er 1897 kennen lernte, lagen die Männer reihenweise zu Füßen. Kein Wunder also, dass sich auch der damals 22 Jahre junge Dichter Hals über Kopf in sie verliebte. Die über zehn Jahre Ältere schien perfekt zu sein, bis auf den einen - nicht unwesentlichen - Makel: Sie war verheiratet und nicht gewillt, sich scheiden zu lassen, weshalb ihre Beziehung zu Rilke auch keine Zukunft hatte. Sie übte jedoch großen Einfluss auf den angehenden Dichter aus und änderte seinen Rufnamen von René zu "Rainer" - denn der mutete ihrer Meinung nach "männlicher" an. Doch das Jahr 1900 lässt, will man die biografische Lesart forcieren noch eine andere Vermutung über die Adressatin zu. Nach der aussichtslosen Beziehung zu Lou Andreas-Salomé siedelte Rilke in die Künstlerkolonie Worpswede bei Bremen über. Dort begegnete er der Bildhauerin Clara Westhoff einer ehemaligen Schülerin Auguste Rodins. Die beiden heirateten 1901 - also könnte das Gedicht auch ihr gegolten haben. Nach knapp einem Jahr Ehe kam die Tochter Ruth zur Welt, gleichwohl stellte sich kein Familienleben ein. So beschloss das Paar, sich in Freundschaft zu trennen, um voneinander ungestört der jeweiligen Arbeit nachgehen zu können.

Trotz der gescheiterten ersten Annäherungs- und Liebesversuche mangelte es dem 1975 in Prag geborenen Rilke in seinem Leben nicht an Frauen und Verbindungen, aus deren Erfahrungen er Stoffe für seine Werke schöpfen konnte. Schließlich galt er als "charmant" und brach bis zu seinem Tode 1926 in Val-Mont in der Schweiz noch etliche Frauenherzen. Die Leipziger Insel-Verlegerin Vera Hauschild hat nun die schönsten Liebesgedichte und -geschichten aus einer Zeitspanne von 30 Jahren für das Anthologiebändchen "Rainer Maria Rilke. Über die Liebe." ausgewählt. Neben Gedichten aus den verschiedensten Lebensjahren und -phasen Rilkes enthält die Sammlung auch Prosa. Obwohl bei allen das Thema Liebe im Mittelpunkt steht, sind die Stücke trotzdem abwechslungsreich und beleuchten viele Facetten: das Vertrauen, die Begierde und den Sex, aber auch die Untreue, das Verlassen, die Einsamkeit und zuletzt den Tod. So unterschiedlich die Inhalte der einzelnen Stücke sind, so unterschiedlich ist auch die Metrik der Gedichte, was jedem von ihnen seinen besonderen Klang und seine ganz eigene Atmosphäre verleiht. Dadurch kann sich der Leser in das "Lyrische Ich", das die Geliebte meist persönlich anspricht, hineinversetzen und mitschwärmen, mitjauchzen, mitleiden und mitflehen. "Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn, / wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören, / und ohne Füße kann ich zu dir gehen, / und ohne Mund noch kann ich dich beschwören." Solche heißen "Ergüsse" der Leidenschaft sind einfach zu überwältigend, als dass sie den Leser kalt lassen könnten.

Rilkes Leben, das nur 51 Jahre lang währte, wurde in der Kindheit von schwierigen Ereignissen geprägt. Der Ehekonflikt der Eltern endete in der Scheidung. Als er mit etwa zehn Jahren auf eine Militärschule in Österreich geschickt wurde, brach das ohnehin zart besaitete Kind aufgrund der rauen Sitten und Gebräuche physisch und psychisch zusammen. Mit dem Schreiben begann der sensible Rilke schon als Jugendlicher und widmet sich verstärkt der Dichtkunst. Bevor er zwanzig wurde, hatte er schon seinen ersten Gedichtband veröffentlicht.

Das jüngste Buch "Über die Liebe" ist nicht nur für Liebende gedacht. Es ist ebenso für diejenigen geeignet, die sich nach Romantik sehnen oder lediglich einen Anstoß für ihre Phantasien brauchen. Die Gedichte wecken Gefühle, die vielleicht schon lange vergessen und verborgen waren. Auch äußerlich ist das Buch schön anzuschauen: Rot - wie die Liebe - eingebunden und mit dem Gemälde "Tanz in Bougival" von Pierre-Auguste Renoir auf dem Umschlag. Also von innen wie von außen ein wahres Schatzkistchen.

Titelbild

Rainer Maria Rilke: Über die Liebe. Geschichten und Gedichte.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
120 Seiten, 5,00 EUR.
ISBN-10: 3458347615

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch