Eine Reise durchs "weltreich der abgetauchten begriffe"

Wulf Kirstens lyrische Summe aus 50 Jahren

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ende der Fünfziger kübelte Peter Rühmkorf mit seinem "Lied der Naturlyriker" Spott über die "Bundes-Schäfergilde", die ihr "höchstes Heil im Schrebergarten" finde und höchstens mal "auf die Quendelbarrikaden" gehe. Liest man aus jenen Jahren Gedichte von Wulf Kirsten, der auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs gerade zu schreiben begann, scheint das Rühmkorf'sche Spottlied ein trefflicher Kommentar, säumen doch Quendel, Wegwarte, Günsel und Distel seine Verse, tummeln sich doch auf seiner Strophenflur die allbeliebten Lerchen, die melancholisierenden Krähen und dann und wann ein Maulwurf, den Kirsten nach dem Brauch seiner ostdeutschen Heimat "mondwolf" nennt. Konventionell und ein wenig harmlos klingen frühe Verse: "an warmen sommertagen / äpfel und birnen reifen / hochgeladene erntewagen / sperrige äste streifen".

Bald jedoch wurde Kirstens Werk zu einem idealen Biotop für endemische Arten und Worte. Er gehörte nie zu den Feld-, Wald- und Wiesen-Eskapisten. Vielmehr war und ist er ein genau Schauender, der Feld, Wald, Wiese als - zunehmend gefährdeten - Lebensraum von vielgliedrigen, tausendnamigen Tier- und, Pflanzengesellschaften erkennt, als Sphäre unendlicher bäuerlicher Plackerei. Und überall sieht er die Spuren der Menschheits-, der Erdgeschichte und seiner eigenen.

auf keiner karte verzeichnet,
nicht auffindbar mehr
region einfältiger lehmkabachen,
die wäldische kindheit
im winkel der häusler,
schlicht wie ein kalkbrennerleben,
barfuß über distel und strunk.
die satzzeichen zur biografie
rochen nach lunte und
fielen vom himmel als brandfackeln
mit feuerschwänzen.

Die Stätten seiner Kindheit gibt es, siebzig Jahre nachdem Kirsten in Klipphausen bei Meißen geboren wurde, tatsächlich nicht mehr. Die Landschaft wurde vielerorts statt von Traktoren gepflügt, von Planierraupen zerwühlt; wo die Landwirtschaft blieb, verwandelte die DDR-Kollektivierungspolitik kleinräumige Felder mit Hecken, Wegrainen und Wäldchen in Agrarsteppen: "ausgestorbene / wahrheiten, flurbereinigte flurnamen die fülle".

Das lyrische Werk Wulf Kirstens stemmt sich seit fünfzig Jahren - mal resignierend, mal wütend - gegen dieses Verschwinden, indem es bewahrt, erinnert, benennt. Eine Summe daraus präsentiert sein Sammelband "erdlebenbilder": über 250 Gedichte, einige darunter unveröffentlicht.

Das Buch ist, ob man Kirsten erstmals oder wieder liest, nichts weniger als eine reich gefüllte Wundersamentüte, deren keimfreudiger Inhalt bei der Lektüre auf fruchtbaren Boden fällt. Da schießt Denk- und Fühl-Vergnügen auf, da wächst die Neugier, da grünt die Einbildungskraft, da blüht die Fantasie, da erntet man Erkenntnisse scheffelweise. Ganz von selbst erweitert sich der Wort-Schatz in diesem "weltreich der abgetauchten begriffe", begegnen einem die Ausdrücke kombine, göpel, rajohlen, karbatschen, klabastern, liedrian, hedel und schiebbock. Im Gegensatz zu den späten verzichtet Kirsten in den frühen Texten nie auf die Poesie der Termini technici, treffen sie doch klangvoll die ihm vertraute untergehende oder untergegangene Welt. Eine Reihe der Ausdrücke findet man - wie auch Eigennamen und wenige historische Zusammenhänge - im Anhang erklärt, manche kennt allerdings nicht einmal der große Wahrig, so dass man andere Wörterbücher bemüht; und jeder Fund vertieft den Lesegenuss. Kirsten ist sich des Umstands wohlbewusst: "dein gereut ist mit worten / umzirkt, die längst keiner mehr kennt". Seine Verse haben die Aufgabe einer Saatgutbank, sie sollen diese Worte keimfähig konservieren und im besten Falle wieder unters Volk bringen. Martin Walser beschrieb Kirstens Lyrik so: "Die Sprache urteilt nicht. Sie schleppt Sachen heran. Gegen das Vergessen."

mit dem quersack kam
der flickschuster
geschurrt im schatten der kirschbaumallee,
die tölpischen stiefel zu riestern,
kumte samt riemung zu bessern.
scharwerkern und schafscherern
ätzte granniger fusel den schlund.
sackflickersermon wehte verworren
wie ein dialog zwischen hanf und jute.
das tagwerk des gesindes
blieb randvoll gefüllt,
war nichts als schund und plack.
vom zugriff der schwieligen fäuste
die hölzernen griffe
poliert.

Obwohl er ein Mann der leisen Töne ist, schreien solche Verse danach, laut gelesen zu werden, und die vielen Gedichte mit langem Atem und Freude am Sinnsprung wie "ZUSPRUCH" gewännen leicht Preis und Publikum bei Poetry Slams, klingen sie doch so assonanz- und binnenreimreich, so widerborstig, sinnsprungfreudig, kantig, kraft-, schwung- und humorvoll, als hätte Quirinus Kuhlmann mit August Stramm, Arno Schmidt und Ernst Jandl ein Sprach-Quartett gegründet.

Kirsten ist, obwohl sehr viele Gedichte Natur zum Thema haben oder sie als Sinnreservoir nutzen, weit mehr als ein melancholischer Naturlyriker, er steht nicht nur in der oft genannten Nachfolge von Johannes Bobrowski / Peter Huchel. Der Band "erdlebenbilder" beweist schlagend, wie viele Register der Bewunderer Silbermanns zu ziehen in der Lage ist: Bitter genau bedichtet er eine Haussuchung, empathisch tragische Künstlerschicksale, emphatisch Kindheitserinnerungen, plastisch Erhebungen von Bauern und Arbeitern, lakonisch das Altern, akribisch den modernen Wortmüll, balladesk-böse den Brand einer Essigfabrik, souverän das Rezensentengeschwätz, und in dem Gedicht "beinhart" das Phänomen der Mitreisenden im Zug. An mehr als einer Stelle spürt man eine Rühmkorf verwandte Seele, die literarische Avantgarde mit Traditionssättigung, kenntnisreiche Heimatliebe mit Nationalismus-Ekel, Benennungsakribie mit kluger Sprachskepsis, bedauernde Misanthropie mit Sympathie gegenüber den Verlierern verbindet.

Technisch gesagt wirkt Kirstens Lyrik, die so tief empfunden wie hoch reflektiert ist, immer wieder wie 3-D-Gedichtkino mit eingebauter Geruchsorgel, so unmittelbare Evidenz besitzen seine Wortbilder: "eine fettschicht schwamm / auf der sommersupppe: / rapsfelder". Das gilt nicht nur für die Natur, wie ein Ausschnitt aus "landgasthof" zeigt:

an jedwedem tag
gluckst durch die gläsernen mundstücke
schwalchweise einheimisches bier
in die sanft schwellenden bäuche
der flaschentrompeter.
...
auf bierfilzen
klebt die brauereireklame
als magerer köder
ist anvertraut dem vierten tischbein.

Natürlich lässt sich "erdlebenbilder" als lyrische Autobiografie im doppelten Sinne lesen, aus der man die Entwicklung des Künstlers genauer ablesen kann als die der Person. Unverdrossen hat der leidenschaftliche Radfahrer, Wanderer und "wortsüchtige" Sammler Wulf Kirsten seine Werklandschaft durchstreift und die dabei entstandene Kollektion erweist ihn unbestreitbar als einen der wichtigsten und lebendigsten Lyriker Deutschlands.

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Wulf Kirsten: Erdlebenbilder. Gedichte aus 50 Jahren. 1954-2004.
Ammann Verlag, Zürich 2004.
416 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3250104647

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