Ein harter Kampf über zwölf Kapitel

Thorsten Beckers türkischer Held boxt sich durch "Sieger nach Punkten"

Von Katharina HübelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katharina Hübel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Schlag sitzt tief. Wenn sich zwei streiten, und sei es in einem literarischen Boxkampf, so sollte sich der Dritte - in dem Fall der Leser - freuen können. Doch unverhoffterweise wird die Lektüre von Thorsten Beckers Neuerscheinung "Sieger nach Punkten" stellenweise selbst zum Kampf. Punktet sie in einigen Runden eindeutig in der Kategorie Technik, so hat sie den Meisterschaftstitel am Ende doch nicht ganz erringen können. Wie in einem fairen Boxkampf sollte hier allerdings nicht nur ausgeteilt werden, denn "Sieger nach Punkten" hat für manche Sprach- und Erzähltechnik wohl eine kleine Medaille verdient.

Es ist die große Metapher des Wettstreits um die Nummer Eins in Europa, die Thorsten Becker ausgehend von einem Boxring nahe Monaco entfaltet. Einmal geht es um den Kampf in zwölf Runden zwischen dem türkischen Helden Nasrettin Oztürk und seinem westeuropäischen Kontrahenten im Superfederleichtgewicht. Zum anderen kämpft hier das versammelte osmanische Reich gegen Europa, durch 14 Jahrhunderte Geschichte. Runde für Runde wird die literarische Simplizität des boxerischen Hau-Drauf-Spielchens Nasrettins durch erzählerische Verschmelzung mit der Geschichte seiner Urahnen metaphorisch aufgeladen - hier stehen sich nicht nur Mann und Mann, sondern Kulturkonzepte gegenüber. Wo der Westeuropäer, getroffen von der Sportlerfaust, auf der Stelle im K. O. niedersinken würde, macht Nasrettin die raue Mystik seines tiefanatolischen Volkes zum Stehaufmännchen. Sitten wie Brautraub und Blutrache, von Generation zu Generation weitergegeben, stählen den Körper durch eine wilde Widerstandskraft des Geistes.

Dabei sind es vor allem die Einschübe zur historischen Entwicklung der heutigen Türkei vom 7. bis ins 20. Jahrhundert, die für den starken Umfang des Buches knapp unter der psychologischen Grenze von tausend Seiten sorgen. Der studierte Geschichtswissenschaftler Thorsten Becker weiß, wovon er schreibt, und er schreibt über die Geschichte eines Weltreiches von Bedeutung, das gemeinhin im deutschen Geschichtsunterricht wenig Beachtung findet. Ein Glossar mit türkischen Begriffen, eine Miniphonetik eben dieser Sprache und Landkarten mit dem Osmanischen Reich und Anatolien gehören zum liebevollen Inventar des Romans. Doch dadurch, dass die fiktive Erzählung und die Historie wenige Schnittpunkte finden - meistens lediglich die psychologische Konnexion im Geist des Helden während des Boxkampfes -, muss der Leser zu oft zwischen Gegenwart und uralter Vergangenheit, zwischen persönlicher Lebensgeschichte des Helden in Anatolien, Berlin, der Lebensgeschichte seiner Eltern und davon komplett unabhängigen geschichtlichen Ereignissen hin und her wechseln.

Inhomogenität ist auch auf der Ebene der Erzählung zu spüren. Thematisch und narrativ sind Anlehnungen an die Literatur der Weimarer Republik vorhanden. Motive wie Boxkampf, Kino und Großstadt sowie Erzähltechniken wie Perspektivwechsel und Kollage werden zitierend verwendet und in einer Episode geradezu verschwörerisch dem Leser offenbart: Nasrettin erteilt für ein Kabarettstück aus der Weimarer Zeit nach Klaus Manns "Mephisto" Boxunterricht an der Berliner Bühne - ein konspirativer Hinweis des technisch versierten Erzählers auf seiner literarischen Schnitzeljagd. Sprache und Narration sind stellenweise genial, wie zum Beispiel in einer Parodie von Faust-Prolog und Ringparabel gleichermaßen, bei der sich Mohammed, Jesus und Gott gemeinsam mit dem Krieg zwischen den Menschen auseinander setzen. Becker beweist des Öfteren sprachliche Kreativität, trumpft immer wieder mit ungewöhnlichen Beschreibungen und einem ganz eigenen Blick für die Dinge auf, der sich in Begriffen wie "Kebapschnipsler" oder "Nichtschweine" (für Muslime, die kein Schweinefleisch essen) spiegelt. Auch versteht sich der Autor durchaus auf Situationskomik - die Szene, in der er den 14-jährigen Helden in Berlin zu einem alteingesessenen Drogendealer mit einem Strauß roter Rosen als Tarnung schickt, ist eine der witzigsten Stellen im Roman.

Doch switcht der Erzähler zu oft zusammenhanglos zwischen verschiedenen Sprachebenen, zwischen Perspektiven, Zeiten und Genres hin und her. Spätestens ab dem Moment, in dem der Held nach Berlin auswandert, fällt der Roman genretechnisch auseinander: War die Lebensgeschichte des Helden in Anatolien noch lebendig und gleichsam märchenhaft wie nachvollziehbar, so wandelt sie sich in Berlin zur Gangster-Farce ohne weitere Tiefe, allerdings nicht zur versprochenen "Gastarbeitersaga". Sie gleitet vielmehr ab in den wüsten Dschungel verworrener Klischees, die gemeinhin über Ausländer auf deutschen Straßen gehegt werden. Nasrettin wird zur türkischen Miniausgabe von Al Pacino: Er raubt mit 14 Jahren, inspiriert durch klassische Gangsterfilme aus dem Kino, einen wehrlosen Penner aus, um sich und "seine Jungs" in Nadelstreifen einzukleiden und fortan Drogen zu verticken; die Straße wird zu seiner Schule fürs Leben, er kämpft sich durchs Schläger- und Kriminellenmilieu hoch zum Profistatus eines Boxers.

"Sieger nach Punkten" ist genau zum richtigen Zeitpunkt erschienen: Ein deutschtürkischer Roman findet Anklang beim Lesepublikum, das für diese Thematik sensibilisiert ist; dieses Jahr vor allem durch die Diskussion um den EU-Beitritt der Türkei oder auch durch die Frankfurter Buchmesse mit dem Schwerpunktthema "Arabische Welt". Die gegenwärtige Epoche, aufgewühlt von Kriegen zwischen christlich und muslimisch geprägter Welt, macht es zur Notwendigkeit, ein solches Buch zu publizieren. Allerdings ist gerade deswegen Thorsten Beckers Metapher vom Boxkampf zwischen den Kulturen ein heikles Unterfangen - besonders in den Teilen des Romans, in denen Differenzierung und Ausgewogenheit der fröhlichen Geschichte eines unbefangenen Straßengangsters weichen, der sich in der Liebe und im Leben nach oben boxt. Das könnte nämlich haarscharf an der Sensibilitätsgrenze manch eines Lesers vorbeigehen, der sich weniger Klischees und Kampfgetümmel, sondern vielmehr neue Betrachtungsweisen und Zugangswege zur anderen Kultur gewünscht hätte.

Titelbild

Thorsten Becker: Sieger nach Punkten. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2004.
928 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3498006207

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