Krise des selbstreferentiellen Ähnlichkeitsdenkens um 1700

Claus-Michael Ort liest Christian Weise als exemplarischen Fall

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Michel Foucault zufolge hat bis Ende des 16. Jahrhunderts in Europa das Ähnlichkeits-Denken die Wissenschaft beherrscht, seit dem 19. Jahrhundert dagegen herrscht das klassifizierende Differenz-Denken vor. Statt um Analogien und Verwandtschaften geht es dem modernen Denken um Abgrenzungen und Identitäten. Die vormals nicht relevanten Dichotomien von Subjekt und Objekt, von Zeichen und Bezeichnetem sowie von Wesen und Erscheinung sind Grundlagen des modernen, differenzierten und differenzierenden Denkens.

Im 17. und 18. Jahrhundert hat sich also ein Wandel vollzogen, der sich den literarischen Zeugnissen dieser Zeit mitgeteilt haben muss. Für Claus-Michael Ort lässt sich dieser Prozess am Beispiel des dramatischen Œuvres von Christian Weise (1642-1708) exemplarisch studieren. Dieses eignet sich für einen historischen Querschnitt in der Tat hervorragend, weil sein Autor um 1700 sozusagen auf der Trennscheide zwischen beiden epistemischen Systemen steht. Ort verknüpft diese Grenzsituation mit einem bei Weise ebenfalls gut zu studierenden medialen Übergang: Seine Stücke sollten sich außer auf der Bühne auch als Lesedramen bewähren, und auch diesen Unterschied hat Weise durchaus bedacht.

Im Zentrum der Untersuchung steht das von Ort exemplarisch analysierte "Zittauische Theatrum": Das ist die 1683 im Druck erschienene Sammlung der drei Dramen ("Jacobs doppelte Heyrath", der "Neapolitanische Haupt-Rebell Masaniello" und das "Lustige Nachspiel von Tobias und der Schwalbe"), die Weise im Jahr zuvor hat aufführen lassen. Bekanntlich war Weise Rektor des Zittauer Gymnasiums, wo er seit 1679 von seinen Schülern jährlich an drei aufeinander folgenden Tagen drei Theaterstücke aufführen ließ. Für die Pädagogik des 17. Jahrhunderts war das Theaterspielen ein wichtiges Erziehungsmittel, weil die spielenden Schüler "bey diesem löblichen Exercitio" einen fünffachen Nutzen davontrügen, wie Johann Rist schon 1634 erklärte:

1. werde Urteilsvermögen und Verstand durch die "außerlesenen Historien und Geschichten treflich erleuchtet" (Erwerb von Wissen); 2. würden die Schüler durch die Stücke den Lastern ab- und den Tugenden zugeneigt (moralische Festigung); 3. würde das Gedächtnis durch das Auswendiglernen trainiert; 4. werde die Stimme durch das Theaterspiel gekräftigt und die deutliche Aussprache geschult; und 5. lernen sie sich in der Öffentlichkeit "freymüthig" zu bewegen.

Primär war das Schultheater also ein auf den Nutzen der Beteiligten abgestelltes Unternehmen, erst in zweiter Linie kam es auf den Nutzen für das Publikum an (die beiden ersten Punkte in Rists Aufzählung, also Wissenserwerb und moralische Besserung, trafen natürlich auch für das Publikum zu). Insofern eignet dieser Institution etwas Selbstbezügliches, die ersten Adressaten des Stücks sind die beteiligten Spieler, denen zumindest der Zittauer Rektor Weise die Rollen auf den Leib schrieb. Daher meinte er noch 1690, dass sich seine Stücke "nicht so gut im Buche lesen" ließen "als auff der Bühne praesentiren". Andererseits verkannte er auch nicht, "was vor ein köstlicher Nutz auch aus solchen Schrifften zu fliessen pfleget", wie er in der Vorrede zu einer anderen Dramensammlung von 1700 schrieb. Nur war sein Einfluss auf den einsamen Leser natürlich bei weitem geringer als auf die spielenden Schüler und ihre zuschauenden Verwandten. Daher vesuchte er durch paratextuelle Zugaben rezeptionslenkend zu wirken. Aber auch die Texte selber, dies versucht Ort zu zeigen, sind bereits durch ihre Stellung zwischen sozialer Institution (Schultheater) und autonomer Literatur geprägt.

Parallelisiert wird diese mediale Zwischenstellung mit einer semantischen, welche den genannten epistemischen Bruch in gewisser Weise reflektiere. Weise hat noch Teil an dem Ähnlichkeitsdenken, wo er mit rhetorischen Analogien und emblematischen Bildern arbeitet, die ja nicht logisch argumentieren, sondern evident sein wollen (und eigentlich tautologisch sind). Andererseits aber schrieb Weise zunehmend auch auf den nicht mehr per Evidenz in der Theateraufführung zu überwältigenden Zuschauer, sondern durch Argumentation zu überzeugenden Leser hin, der nicht auf die "Gleichnüße" sieht, sondern nach intensiver Lektüre differenziert urteilt. Diese doppelte Struktur (präsentes Bild versus temporal und hierarchisch gegliederte Argumentation) prägt nun laut Ort sowohl die Einzelstücke, besonders die 'frei' erfundenen Komödien des dritten Tags (Weise ließ immer ein biblisches, ein historisches und ein freies Stück einstudieren), aber auch die jeweilige Trilogie insgesamt.

Dass man die medialen und semantischen Problemkreise auf diese Art wirklich nutzbringend kurzschließen kann, glaube ich nicht unbedingt. Ort tut es aber aus einem gewissen systematischen Zwang heraus, weil er nämlich das literarische Feld als einheitliches System im Sinne Luhmanns begreift. Obwohl Ort seine Studie sozialgeschichtlich fundiert wissen will (das Buch ist als Band 93 der Reihe "Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur" erschienen), wendet er sich explizit gegen "Ausschmückung" von Textbefunden "mit kurzschlüssigen sozialgeschichtlichen Zurechnungen". Stattdessen will er diskursgeschichtlich vorgehen und die "Diskurssemantik" von Weises Stücken in einer "mikroanalytischen Lektüre" exemplarischer Stücke aufschließen. Und in der Tat sind die Mikroanalysen, was heißt: die minuziöse Untersuchung bestimmter Textstellen, durchaus erhellend, auch wenn die diskursgeschichtliche Kontextualisierung der Ergebnisse meistens nicht stattfindet.

Im Grunde bleibt es bei einer genauen Analyse der literarischen Strategien, die Weise anwandte, halb noch der rhetorischen Tradition verhaftet, halb schon der offenen Argumentation verpflichtet, um sein Ziel zu erreichen: Affektkontrolle affektiv einzuüben. Ob es sich dabei um die im Untertitel der Studie genannte "literarische Epistemologie des späten 17. Jahrhunderts" handelt oder nicht, wird nicht deutlich.

Das liegt auch an dem sprachlichen Imponiergehabe Orts, welches das Buch zu lesen nicht gerade vergnüglich macht. Ja, ich möchte mit Georg Büchner sogar sagen, "die Kunstsprache ist abscheulich" und "ich meine für menschliche Dinge müsse man auch menschliche Ausdrücke finden".

Zum Beispiel die zwölfte Szene im vierten Akt des "Masaniello", wo der neue "Accord" zwischen dem aufständischen Volk und dem Vizekönig beschworen wird: Der ehemalige Fischer und gegenwärtige Revolutionsführer Masaniello trägt auf Wunsch des Adels und des Klerus ein silbernes Ehrenkleid, das ihn seinen Gefolgsleuten entfremdet. Nachdem nun die "Freyheit" erneut hergestellt sei, will er das Kleid ablegen und wieder seine gewohnte Arbeitskleidung anlegen. "Er reist an dem Kleide, und kann nicht zu rechte kommen, hiermit kniet er vor dem Vice-Roy" und bittet: "Ach ihr Excellentz erbarmen sich, und helffen mir das Kleid vom Leibe reissen, welches mir nicht ansteht." Doch der Vizekönig und Kardinal Philomarini helfen ihm nicht und meinen, dass ihm das Staatsgewand sehr gut stehe (sie wollen ja, dass Masaniello sich seinem Stand, seinem Wesen und seinen Genossen entfremdet). Masaniello wendet sich darauf an das Volk: "Ach ihr Leute, sehet wie wird ein ehrlicher Mann genöthiget, wider seinen Willen stoltze Kleider zu tragen: ach erbarmet auch, und betet vor mich, daß ich wieder zu meinen Fischer-Hosen komme".

Dass es Masaniello nicht gelingt, das Prunkgewand aus- und seine angestammte Kleidung anzuziehen, was in dem Stück den Anfang seines Untergangs markiert, beschreibt Ort so: "Seine soziale Desemantisierung zurück zum Fischer scheitert, er vermag es nicht, sich des temporären und uneigentlichen Signifikanten seiner usurpierten Rolle zu entledigen und das verhüllte eigentliche Signifikat seiner Standeszugehörigkeit und sozialen Funktion als Fischer wieder explizit mit den angemessenen Signifikanten zu bezeichnen. [...] Noch divergieren neuer Signifikant und altes, überdecktes Signifikat, also Rolle und Person bzw. uneigentliche aktuelle und eigentliche, noch virtuelle soziale Rolle. Schon scheint aber der eigentlich nun obsolete Staats-Habit und die neue Rolle mit dem 'Leibe' zu verwachsen, so daß der nach Philomarinis vorgeblicher Meinung 'verdiente' symbolische Lohn [...] zum Selbstverlust und zum Gegenstand kollektiver Fürbitten wird."

Titelbild

Claus-Michael Ort: Medienwechsel und Selbstreferenz. Christian Weise und die literarische Epistemologie des späten 17. Jahrhunderts.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2003.
240 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-10: 3484350938

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