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Nicholson Baker zeichnet in "Checkpoint" einen verbalen Königsmord auf

Von Christian MariotteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Mariotte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn die zwei Amerikaner aus dem Fenster schauen, sehen sie ein paar Bäume in der Ferne. "Ich glaube, es ist gleich rechts davon. Genau da."

Die Geschichte spielt im Spätfrühling 2004. Jay hat sich in diesem Hotelzimmer einquartiert, obwohl er nicht weiß, wie er die Rechnung bezahlen wird. Er hat einen Freund zu sich gerufen, um ihm etwas Lebenswichtiges mitzuteilen. Nach einer langen Reise erfährt Ben zwei Dinge, die ihm nicht wirklich gefallen: Erstens besitzt Jay eine Waffe, zweitens hat seine Entscheidung für ein Hotel in der Nähe des Weißen Hauses nichts mit Zufall zu tun.

Als "Checkpoint" im Hochsommer 2004 in den USA erschien, löste es eine ethische Debatte aus, die kaum angebracht schien.

Um es vorweg zu sagen: Dieser Roman, der ausschließlich in einem Hotelzimmer spielt, ruft keineswegs zum Mord am amerikanischen Präsidenten auf. Ob auch das Werk des Schriftstellers Nicholson Baker an ihm keinen Schaden nimmt, ist hingegen eine andere Frage.

In Bakers erstem Roman "Rolltreppe" (deutsch 1991) fertigte der Ich-Erzähler eine wissenschaftliche Studie über Beschaffenheit und jährliche Frequenz seiner Gedanken an. 580-mal dachte er demnach an seine Geliebte, 34-mal an die Möglichkeit, sich eine neue Arbeit zu suchen, und 13-mal hegte er Mordgelüste. Kein einziger der 46 aufgezählten Gedanken betraf die Politik. Mit "Checkpoint" findet der schon klischeehaft angepriesene Blick Bakers für Details ein neues Objekt, an dem er sich abarbeitet. "Man kann nur noch so tun, als würde man aufs Weiße Haus marschieren, während das Haus tatsächlich weit weg im Mittelgrund ist und man in so einem kleinen Park steht und sein Schild in die Luft hält". Die Beschreibung eines Protestmarsches auf das Weiße Haus, der wegen der Sicherheitsmaßnahmen eigentlich nur simuliert werden kann, zeigt ebenso plastisch was Macht ist, wie das Porträt von Menschen, die sie einmal besessen haben: "[Dies ist] bei Recherchen über den Kalten Krieg immer der quälende Teil. Du findest die Nummer und rufst an. Vielleicht meldet sich dann ein Sohn oder eine Tochter, vielleicht auch eine Pflegerin, und nachdem du lange gewartet hast, meldet er sich schließlich. Er hat eine krächzige Altmännerstimme: 'Hallo?' Früher mal, vor langer Zeit, hatte er eine starke, harte Haltung den Russen gegenüber, und jetzt weiß er gar nicht mehr so genau, was damals ablief, was die Motive waren, warum es diese ganze Aufregung gegeben hat. Wahrscheinlich hat er eine hellblaue Hose an, und wahrscheinlich trägt er keinen Gürtel."

Die Selbsterneuerung Bakers ist von den meisten Rezensenten nicht gewürdigt worden. Allerdings mangelt es der fingierten Diktafonaufzeichnung eines Streitgespräches fast immer an dem, was die zwei vorangehenden Textstellen auszeichnet: einer Distanz, die, wenn nicht unbedingt räumlich oder zeitlich, so wenigstens die Herangehensweise an den Gegenstand prägen sollte. Vielleicht hätte Baker, der in einem frühen Buch seine Bewunderung für John Updike kundgab, den Erzählungsband "Bech in Bedrängnis" (deutsch 2000) lesen sollen. Der fiktive Schriftsteller Izzy Thornbush schreibt dort schon im Jahre 1974 einen Roman über Richard Nixon - und tut sich damit selber weh.

Ist die genuin literarische Kritik an "Checkpoint" also meistens gerechtfertigt, so möchte man in einem Punkt Baker doch eher verteidigen. Oft konnte man lesen, das Buch sei durch einen Konstruktionsfehler entstellt. In der Tat ist Jay geistig gestört. ("Ich hatte mal Probleme, aber ich bin jetzt stabil"). Entzieht dies den unzähligen Argumenten, die er gegen die amerikanischen Machthaber aufbringt, nicht jede Grundlage? Hier verwechseln die Rezensenten ganz offenkundig die Kunst des Romans und die der Rhetorik. Nicht nur, dass dieser Hintergrund die Figur um vieles glaubwürdiger macht. Er ermöglicht es Baker auch, eine Personenkonstellation einzusetzen, die dem Dialog eine zwingende Dynamik verleiht. Sie rührt von der ungemeinen Ähnlichkeit her, die den (vielleicht) künftigen Mörder mit seinem Widerpart eint: auch er am Rande der Gesellschaft, an seiner Umwelt leidend, hat er es gerade noch geschafft, nicht ins Abseits zu fallen. Dies hängt nicht zuletzt mit seinem Lehrerberuf zusammen.

Der Mann, der den Präsidenten ermorden will, erzählt übrigens, welche "ein-Dollar-Jobs" er in den letzten Monaten ausgeübt hat. Erst hat Jay sich als Dachdecker versucht. Dann hat er Hummerkörbe geschleppt. Nun arbeitet er in einer Landschaftsgärtnerei. Flüchtig erscheint hier eine vertraute Gestalt der amerikanischen Literatur. Wir sind nicht mehr bei Nicholson Bakers Alltagsbeschreibungen, sondern bei den existenziellen Nöten eines viel größeren Schriftstellers. In einer klassischen Szene von John Fantes Romans "Ich - Arturo Bandini" sitzt die Titelfigur in einem Hotelzimmer und liest einen Zettel, der unter die Tür geschoben worden ist: "Entweder ich zahlte oder ich verschwand". Seine Reaktion auf das Problem offenbart ein Genie, das Bakers Figuren niemals erreichen werden: "Ich löste es, indem ich die Lichter ausknipste und zu Bett ging".

Titelbild

Nicholson Baker: Checkpoint. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2004.
140 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3498006428

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