Über die meisten weiß man am wenigsten

Robert von Friedeburg gibt einen Überblick über die Forschung zur "Lebenswelt und Kultur der unterständischen Schichten in der Frühen Neuzeit"

Von Thomas SchwietringRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Schwietring

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die europäischen Gesellschaften der Frühen Neuzeit waren ständische Gesellschaften. Doch die überwiegende Zahl der Menschen in jenen Gesellschaften gehörte keinem Stand an. Es handelte sich um "unterständische Schichten", worunter in der ständischen Gesellschaft aber eben nicht "Unterschichten" und ebenso wenig bloß fahrendes Volk, Vagabunden, Kriminelle oder sonstige soziale Randgruppen zu verstehen sind.

Das Interesse an den Lebenswirklichkeiten der breiten 'einfachen' Bevölkerung hat seit einem guten Jahrzehnt stark zugenommen. Die Neuorientierung der Volkskunde als empirische Kulturwissenschaft, das Interesse an der Alltags- und Volkskultur im Kontext der Diskussionen um den Kulturbegriff u. a. in der Geschichtswissenschaft, die verschiedenen Ansätze der Historischen Anthropologie, das zu einer immer differenzierteren Betrachtung führende starke Interesse an der Frühen Neuzeit, die Alltags-, Mentalitäts-, Mikro-, Sozial- und Kulturgeschichte - alle diese Forschungsrichtungen haben substanzielle Beiträge und neue Sichtweisen zu diesem Themenbereich geliefert.

Die genaue Abgrenzung zwischen ständischen und unterständischen Schichten ist dabei nicht immer leicht zu ziehen. Sie ist, wie insgesamt die Erforschung der Lebenswirklichkeit der unterständischen Schichten, mit dem Problem behaftet, dass es an Quellen mangelt. Schriftliche Zeugnisse liegen zumeist nur in den Fällen vor, wo Personen in Konflikt mit der Obrigkeit gerieten oder in gerichtliche Auseinandersetzungen verwickelt waren, woraus sich die Gefahr einer systematischen Fehlwahrnehmung von unterständischen Schichten einzig unter den Gesichtspunkten von Ungehorsam, abweichendem Verhalten, Kriminalität, Aufbegehren und Protest ergibt, die dann nicht selten kurzerhand als "Widerstand" von Unterprivilegierten gegen die ständische Ordnung gedeutet werden.

Dass eben diese Einschätzung, die lange Zeit die Geschichtsschreibung beeinflusst hat und auch heute noch als forschungsleitende Perspektive genutzt wird, in die Irre führt, ist eine der zentralen Einsichten, die sich aus dem durchweg kompetenten wie differenzierten Forschungsüberblick ergeben, den der in Amsterdam lehrende Historiker Robert von Friedeburg vorgelegt hat. So referiert der Autor zahlreiche Studien, die belegen, in welchem Ausmaß die unterständischen Schichten an der Kultur und der sozialen Ordnung der ständischen Gesellschaft teilhatten und ihre Normen und Werte mittrugen. Beispielsweise finden sich etwa Trunkenheitsdelikte in Wirtshäusern und Störungen der öffentlichen Ordnung ebenso häufig bei ständischen Handwerkern wie bei unterständischem Gesinde, Soldaten und Tagelöhnern.

Die Kultur der unterständischen Schichten, so das erste zentrale Fazit, war keine "Gegenkultur". Ebenso muss man sich, dies ist die zweite übergreifende Erkenntnis, von der lieb gewordenen These einer mehr oder minder einheitlichen "Volkskultur", die einer Kultur der Eliten gegenüberstand - etwa im Anschluss an Robert Muchembled - verabschieden. Die Begriffe der "Volkskultur" und allgemein des "Volks" als Deutungsschema sind vielmehr selbst historisch als Resultat der gesellschaftlichen Umbrüche der Reformationszeit zu situieren und zu entsprechend zu dekonstruieren.

In diese Richtung zielen beispielsweise auch Studien über offensichtliche Randgruppen und Gegenkulturen, etwa die Welt der Gauner und Räuberbanden sowie die vagierenden Gruppen entlassener Soldaten. Neben die Frage, ob diese Gruppen tatsächlich in der Lage waren, eine autonome Gegenkultur mit einem Mindestmaß an Stabilität zu entwickeln, tritt die Feststellung, dass bereits zeitgenössische literarische Stereotype einen Anteil am Bild einer - zum Teil romantisch idealisierten - kulturellen Eigenwelt hatten.

Das Interesse der neueren Forschung ist somit eine genaue und detaillierte Betrachtung der sozialen Lagen, Handlungsspielräume und kulturellen Orientierungen der Angehörigen unterständischer Schichten, deren Spektrum sich von Hausangestellten, Handwerksgesellen und landarmen Kleinbauern über sesshafte Tagelöhner bis hin zu Landsknechten, fahrendem Volk oder organisierten Räuberbanden erstreckt. Ein wichtiger Beitrag zu einer so differenzierenden Untersuchung stammt im Übrigen aus der Geschlechtergeschichte, die gezeigt hat, zu welch komplexen individuellen Handlungskonstellationen die Hierarchien von ständischer Lage einerseits und Geschlecht andererseits führen konnten.

Auch aufgrund des gerafften Charakters eines Forschungsberichts tritt die inhaltliche Erörterung einzelner Elemente der kulturellen Praxis der unterständischen Schichten hinter der Skizzierung der eingangs umrissenen allgemeinen Tendenzen der Forschung zurück. Als große Bereiche kulturellen Lebens werden unter anderem Religion und Frömmigkeit, Sitten und Gebräuche an Feiertagen sowie der Glaube an magische Praktiken und deren Anwendung, die Teilhabe an Hexenglaube und Hexenverfolgung, Charivari und Karneval, Ehre und Unehrlichkeit sowie Signier- und Lesefähigkeit oder gar der Besitz von Flugschriften diskutiert. Diese und alle weiteren Aspekte werden dabei, und das ist eine große Leistung des Bandes, nicht statisch, sondern unter dem Gesichtspunkt ihrer Umwälzungen im Zuge von Reformation und Konfessionalisierung diskutiert. Ganz allgemein lässt sich die Konfessionalisierung als Prozess der Überlagerung und schrittweisen Auflösung der Ständestruktur deuten. Daran hatten selbstverständlich die medialen Neuerungen durch die Verbreitung von Flugschriften, die Entstehung einer tendenziell alle Stände erfassenden Lesekultur, die grundlegenden Veränderungen der Vorstellungen von (religiösem) Wissen sowie der Wandel der Frömmigkeit einen wichtigen Anteil.

Besonders am Beispiel der Hexenprozesse lässt sich das Verhältnis von Hoch- und Volkskultur, die Verflechtung von reformatorischen Bemühungen, der Verbreitung aufklärerischen Wissens und der alltäglichen Praxis des Glaubens an Magie sowie von Denunziationen und Gewaltakten in seiner ganzen Komplexität und regionalen Unterschiedlichkeit verfolgen. Dabei hat die neuere Forschung eine Reihe von Thesen hervorgebracht, die älteren Auffassungen auf überraschende Weise widersprechen. So wurde herausgearbeitet, dass die Konjunktur von Hexenprozessen gerade auch eine Folge von aufklärerischen Bestrebungen war, gegen Aberglauben und magische Praktiken vorzugehen. Ebenso hält es die neuere Forschung für bei weitem zu einseitig, Hexenverfolgung als ein Disziplinierungsinstrument der Obrigkeit zu verstehen. Vielmehr hielt die Bevölkerung an ihrem Recht zur Initiierung von Hexenprozessen als demonstrativem Akt rechtlicher und politischer Selbstbestimmung gerade im mehr oder minder offenen Konflikt mit staatlichen Institutionen und deren Interesse an der Einschränkung dieser Prozesse fest.

Von Friedeburgs Buch ist als Band 62 in der Reihe "Enzyklopädie deutscher Geschichte" erschienen. Das Ziel der von Lothar Gall herausgegebenen und auf etwa einhundert Bände angelegten Reihe ist es, auf relativ knappem Raum einen Überblick über den Stand der Forschung zu einem bestimmten Teilbereich zu geben. Dementsprechend gliedern sich die Bände in drei Teile: einen "enzyklopädischen Überblick", einen Abriss der "Grundprobleme und Tendenzen der Forschung" sowie ein Verzeichnis von Quellen und Forschungsliteratur. Von Friedeburg hat das angestrebte Ziel in vorbildlicher Weise erreicht.

Titelbild

Robert von Friedeberg: Lebenswelt und Kultur der unterständischen Schichten in der Frühen Neuzeit. Enzyklopädie Deutscher Geschichte Band 62.
Oldenbourg Verlag, München 2002.
134 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3486557955

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