Der körperliche Leib

Ulle Jäger konzipiert eine Theorie der Inkorporation

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lange Zeit fand die von Gesa Lindemann in die Genderforschung hineingetragene Unterscheidung zwischen Leib und Körper dort wenig Resonanz. In den letzten Jahren änderte sich das jedoch zunehmend. Jüngstes Ergebnis dieser Tendenz ist die von Ulle Jäger unter dem Titel "Der Körper, der Leib und die Soziologie" vorgelegte Theorie der Inkorporierung. Mit ihrer Arbeit entwickelt die Lindemann-Schülerin ein theoretisches Konzept, wie der Köper als sozialwissenschaftlicher Gegenstand - also nicht allgemein als geisteswissenschaftlicher - in der "Gleichzeitigkeit von (diskursivem) Körperwissen einerseits und gelebter (leiblicher) Erfahrung andererseits" gedacht werden kann. Jägers Ansatz nimmt nicht nur auf die Arbeit von Gesa Lindemann Bezug, sondern ebenso auf verschiedene Theoreme Michel Foucaults, Judith Butlers, Helmuth Plessners und Pierre Bourdieus, die von der Autorin gelegentlich derart ausführlich referiert werden, dass ihre eigenen Gedanken fast hinter ihnen zu verschwinden drohen.

Zwei Begriffe sind für Jägers Ansatz zentral: Inkorporierung und körperlicher Leib. Ersterer ist ein seit einigen Jahren in den Geistes- und Sozialwissenschaften geläufiger Terminus und besagt, "dass sich die soziale Ordnung im Körper niederschlägt und durch diese Materialisierung reproduziert". Meist, so moniert die Autorin, werde jedoch mit einem weitgehend unklaren Körperbegriff operiert, so dass der Begriff der Inkorporierung "untertheoretisiert" bleibe. Dieses Defizit will Jäger mithilfe des zweiten Begriffs, dem von ihr geprägten Neologismus "körperlicher Leib" beheben. Hierzu verbindet sie in ihrer Theorie - und eben auch in dem neuen Begriff - die "phänomenologische Perspektive auf den Leib" mit der "poststrukturalistische[n] Perspektive auf den Körper".

Jäger entwickelt die Theorie der Einverleibung mittels einer "Doppelbewegung von Kritik und Ergänzung" weiter, die auf der Präsumption beruht, dass der körperliche Leib "doppelt gegeben" ist: zum einen als Körper, der in verschiedenen Wissensdiskursen - wie etwa in dem der Wissenschaft - zum Objekt gemacht wird, und zum anderen als Leib, also als "lebendige[r] Körper, der ich selber bin". Es handelt sich daher bei Körper und Leib nicht etwa um zwei verschiedene Erkenntnisobjekte. Vielmehr bezeichnen die Begriffe zwei verschiedene Perspektiven oder Zugangsweisen auf ein und denselben 'Gegenstand'. Doch stehen die Begriffe nicht nur für einen unterschiedlichen methodischen Zugang, sie entsprechen auch der "doppelte[n] Gegebenheitsweise des Gegenstandes Körper". Dabei ist der Begriff Körper der von Foucault und Butler vertretenen Körpertheorie zugeordnet, wohingegen der Begriff Leib, der immer auch "das Selbst, um dessen Leib es je konkret geht", beinhaltet, für eine "phänomenologische Annäherung" an das Körperthema steht. Als Körper betrachtet ist der körperliche Leib "Objekt neben anderen Objekten". Als Leib betrachtet ist er jedoch "der lebendige, der gelebte Körper, und damit zugleich das Selbst, dem sich andere Objekte und auch der eigene Körper präsentieren". Es ist also dieser eine Gegenstand, in dem Leib und Körper miteinander "verschränkt" sind, den Jäger mit dem Neologismus "körperlicher Leib" bezeichnet. Denn er erlaube den bislang "abstrakt gehaltenen" Begriff der Inkorporation gesellschaftlicher Ordnung konkreter zu fassen und ermögliche es zugleich, die Bedeutung von Leiblichkeit als "soziologischer Basiskategorie" zu berücksichtigen.

Da es nun, wie die Autorin aus guten Gründen sagt, einen "unschuldigen Rückgriff auf den natürlichen Körper" nicht gibt, entwickelt sie zugleich ein Organon, das es ermöglicht, "den Körper als sozial und damit als nicht natürlich (im Sinne von vorgesellschaftlich) zu begreifen, ohne seine Materialität und die an diese geknüpfte Erfahrung des Selbst aus dem Blick zu verlieren". Ziel dieses Unternehmens ist es, "den Leib als Ort der Reproduktion sozialer Ordnung sichtbar und befragbar machen" und der sozialwissenschaftlichen Forschung so ein "neues Universum" zu erschließen.

Unter kritischem Rückgriff auf Butler - in deren frühen Arbeiten sich der "Einfluss der Phänomenologie" bemerkbar mache, der jedoch mit "Gender Trouble" verloren gegangen sei - und auf deren Konzept von Veränderung, dem Jäger eine "Überbetonung der Zeitlichkeit" bei gleichzeitiger Vernachlässigung des Räumlichen vorwirft, entwickelt die Autorin einen Begriff von Materialität, der "Aspekte der Erfahrung und des Selbst" des "gelebten Körpers" berücksichtigt. Denn wenn man den Körper vollständig in Gender auflöse, stelle sich die Frage, wie unter Aufgabe jedes "natürlichen Rests an Körperlichkeit" dennoch "die Materialität von Körpern im Sinne der an diese geknüpften Erfahrungen" erhalten werden kann. Dies könne gelingen, wenn der Leibbegriff so in Butlers Theorie eingeführt werde, "dass er mit den körpertheoretischen und machtanalytischen Überlegungen vereinbart werden kann". Erst der "Eigensinn des Leibes" mache plausibel, wie die von Butler betonten Effekte der Substanz, der Grenze, der Fixierung und der Oberfläche entstehen. Die "Perspektive des Leibes" wäre so als weiterer Diskurs zu verstehen und der "mit dem jeweiligen historischen und sozialen Körperwissen verschränkt[e]" Leib als "Ort", "an dem die Macht wirksam wird", aber auch als "potentieller Ort des Widerstands".

In einem nächsten Schritt wendet sich die Autorin Bourdieus Habituskonzept zu, dem es zwar an einer Differenzierung zwischen Körper und Leib mangele, die jedoch mit Hilfe von Plessners Theorie der "exzentrischen Personalität" in Bourdieus Theorie eingeführt werden könne.

Was Menschen von sich selbst spüren, sich ihnen "als hier und jetzt aufdrängt", ist der Autorin zufolge zwar materiell, aber zugleich "Ergebnis eines sozial geprägten Prozesses der Materialisierung". Letzteres entspricht zwar nicht exakt den Darlegungen von Butler, wie Jäger meint, denn bei der Californischen Philosophin ist der Prozess der Materialisierung nicht allgemein sozial, sondern diskursiv geprägt. Dennoch trifft zu, dass Jägers Verschränkungsthese die - wie sie wiederholt unscharf formuliert - "poststrukturalistische Kritik" an der Tradition der Phänomenologie unterläuft und es ermöglicht, "einen Mittelweg zwischen konstruktivistischen und essentialistischen bzw. naturalistischen Ansätzen einzuschlagen".

Wie die Autorin betont, versteht sie ihre Arbeit nicht etwa als "Endergebnis", das übernommen werden solle, sondern als "Anfang", von dem sie hofft, er werde "kritisiert und erweitert". Möge ihr Werk also in den Diskurs eingehen.

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Ulle Jäger: Der Körper, der Leib und die Soziologie. Entwurf einer Theorie der Inkorporation.
Ulrike Helmer Verlag, Königstein 2004.
234 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-10: 3897411431

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