Kratzer im Panzer der Zeit

Das "Jahrbuch für Lyrik 2005"

Von Jürgen EgyptienRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Egyptien

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das "Jahrbuch für Lyrik 2005" ist diesmal in Kapitel eingeteilt, die alle Autoren - mit einer Ausnahme - nach ihrer Generationszugehörigkeit sortieren. Das führt beim vorgesehenen Lesen im chronologischen Krebsgang zu einigen Auffälligkeiten. So stellt man fest, dass bei der jüngsten Generation das größte Maß an Epigonalität anzutreffen ist, denn hier tönt der Grünbein-Stil und guckt die Kling-Worttechnik fast hinter jedem Vers hervor. Positiv heben sich davon aber die formbewussten Gedichte von Jan Wagner und das flotte und witzige Frankfurt-Porträt von Viktor Kalinke ab. Der 60er Jahrgang steuert den deutlich umfangreichsten Textteil bei, der dies aber auch durch Qualität legitimiert. Hier begegnet man lyrischen Tonlagen aus einem weiten Spektrum auf hohem Niveau. Lutz Seiler schreibt in einem poetologischen Gedicht die Tradition der hermetischen Dichtung fort, Hans Schmelcke liefert ein schönes Beispiel für den Typus der paradoxalen Gedankenlyrik, für die Raoul Schrott in seiner mitabgedruckten Verteidigungsrede für die Poesie eine Lanze bricht, und Norbert Hummelt und Jürgen Nendza geben Probestücke ihrer sensiblen, mit originärer Bildsprache sich an Erinnerung und Erfahrung herantastenden Wahrnehmung.

Den 50ern muss man hingegen ein schlechtes Zeugnis ausstellen. Insgesamt wirkt diese Generation am schwächsten, ihr mangelt es vor allem an poetischer Phantasie. Die Beispiele wirken teilweise wie unfreiwillige Reminiszenzen an die Alltagslyrik der neuen Subjektiven in den 70er Jahren. Von den älteren Autoren seien wenigstens Ludwig Fels und Heinz Czechowski genannt. Fels überrascht mit seinem vorzüglichen Gedicht "Adlernebel", dessen "Kratzer am Panzer der Zeit" wie Nendzas ,Wanderdüne Liebe' zu den Formulierungen zählt, die haften bleiben. Czechowski mischt in der altbewährten Manier der Sächsischen Dichterschule auf launige und dabei technisch versierte Weise Privates und Geschichtliches und serviert es mit einem guten Schuss (Selbst-)Ironie.

Außerhalb der Generationenkapitel bietet das "Jahrbuch für Lyrik" eine Auswahl an Lautgebilden vor allem von Carlfriedrich Claus, Josef Anton Riedl und Valeri Scherstjanoi, deren Präsentation die Handschrift des Mitherausgebers und Lautpoeten Michael Lentz verrät. Freilich tritt an den Beispielen das Dilemma zu Tage, dass ihre Rezeption, d. h. ihre Vergegenwärtigung ohne den Klangkörper, unbefriedigend bleiben muss. So plädiert denn auch eine der vier so genannten essayistischen Einlassungen für die stärkere Berücksichtigung der akustischen Dimension der Lyrik. Dieses Plädoyer von Bastian Böttcher hätten die Herausgeber vielleicht beherzigen und die Lautgebilde auf CD beilegen sollen. Eine weitere Einlassung stammt von Matthias Politycki und redet sich ein wenig in Rage gegen die von ihm ,Verstörer' genannten Autoren, in deren Gedichten man "lange nach Inhalten oder wenigstens einem sinnvollen Satzbau fahnden" muss. Sein Votum für das lebenspralle und erfahrungsgesättigte Gedicht sitzt wohl einer allzu naiven Vorstellung von Authentizität auf und ignoriert den historischen Status lyrischen Sprechens, dem sich Raoul Schrott in seiner eindringlichen "Verteidigung der Poesie" widmet.

Schrott geht von der These aus, dass die ursprüngliche Funktion von Dichtung darin bestanden habe, "Information erinnerbar zu machen", und sie daher in eine Legitimationskrise geriet, als der Übergang von der Oralität zur Schriftlichkeit sie dieser Aufgabe enthob. Schrott versucht nun herauszuarbeiten, dass diese Entlastung von der Weitergabe eindeutiger Informationen die Poesie in den Stand setzte, ihre Metaphernsprache zu einem "Erkenntnisinstrument" auszubauen, das unserer Methode der Welterschließung mittels Analogiebildung aufs genaueste entspricht. Schrott treibt dann einigen begrifflichen Aufwand, um die Poesie als zeitgemäßes Modul zu definieren, das durch die Kombination verschiedener Ordnungssysteme nach "Abbildungsmodalitäten für die Wirklichkeit" und "Versuchsanordnungen zu ihrer Erschließung" sucht. Zu Recht betont Schrott hier, dass gerade diese Kombinatorik das Erkenntnisverfahren der Dichtung von einer bloßen Imitation der Techniken der Informatik unterscheidet. Als Ziel der Poesie bezeichnet er es, die Paradoxie und Widersprüchlichkeit der Welt zu zeigen. Das ist sicher richtig, wenn auch nicht unbedingt neu. Aber das Richtige kann man ruhig in neuen Worten noch einmal sagen. Das gilt ebenso für Schrotts These, dass "der Reim auch eine biologische Basis besitzt", die doch einer der berufenen lyrischen Altmeister, Peter Rühmkorf, mit seinen Frankfurter Vorlesungen "agar agar zaurzaurim" schon vor längerem in einem ganzen Buch entfaltet hat. Gleichwohl: Schrotts Rede ist anregend und sympathisch wie das ganze Unternehmen "Jahrbuch der Lyrik", das der ständige Herausgeber Christoph Buchwald diesmal mit seinen praxisorientierten "Neun Handreichungen zum Umgang mit Gedichten" abrundet.

Titelbild

Christoph Buchwald / Michael Lentz (Hg.): Jahrbuch der Lyrik 2005.
Verlag C.H.Beck, München 2004.
190 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3406517080

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