Disziplinierte Sinnlichkeit

Vera Jung über Tanz- und Festkultur in der Frühen Neuzeit

Von Monika WoitasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Woitas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die abendländische Kultur ist über alle Epocheneinteilungen und Ländergrenzen hinweg von einer grundlegenden Ambivalenz geprägt, was ihr Verhältnis und ihren Umgang mit dem Körper angeht. Doch anders als man vielleicht vermuten möchte, war die negative Konnotation des Körperlichen nicht eine'Erfindung' christlicher Moralvorstellungen - auch wenn unter deren Einfluss im wahrsten Sinn des Wortes dessen zunehmende 'Verteufelung' erfolgte. Bereits Platon warnt vor einem Sittenverfall durch eine allzu exzessiv ausgelebte Körperlust, die umso verderblicher erscheint, je kunstvoller und überzeugender sie präsentiert wird. Andererseits war eine völlige Ausschaltung körperlicher Aktivitäten und sinnlicher Erfahrungen unmöglich, was eine Disziplinierung jener Lebensbereiche zwingend notwendig machte, in denen körperlich-sinnliche Erfahrungen im Zentrum standen - Festkultur, Tanz und Theater.

In ihrer Studie zu "Körperlust und Disziplin" widmet sich Vera Jung den ersten beiden Aspekten, wobei angesichts der Materialfülle und Komplexität des Themas die Einschränkung auf den deutschsprachigen Raum des 16. und 17. Jahrhunderts nicht nur notwendig, sondern mit Blick auf die aktuelle Forschungslage auch durchaus sinnvoll erscheint. Zeigt doch die Mehrzahl der bisher erschienenen Publikationen zu diesem Themenkomplex eine gewisse 'einseitige' Konzentration auf Italien und Frankreich, und hier besonders auf den Hof Ludwigs XIV. und dessen Rezeption im späten 17. und 18. Jahrhundert. Ein grundlegendes Verdienst Jungs besteht nicht zuletzt auch darin, dass in dem hier vorgelegten Band nicht nur eine Zusammenfassung der in zahlreichen Einzelstudien vorgelegten Ergebnisse erfolgt, sondern dass Brauchtumsformen und höfische Feste einander gegenübergestellt werden. Die Stärke der Arbeit liegt dabei weniger in der Präsentation wirklich neuer Erkenntnisse, sondern vielmehr in der gut strukturierten Zusammenstellung unterschiedlicher Aspekte, die so das Gesamtbild einer höchst differenzierten Festkultur des "Alten Reiches" entstehen lassen.

So ist der erste Teil der Studie der Festkultur in ländlichen Gesellschaften und deren wichtigsten Gestaltungselementen gewidmet, wobei die Darstellung der "Feste im Jahreslauf" dominiert. Als einziges "Fest im Lebenslauf" wird die Hochzeit erläutert, was auch dem wenig vorgebildeten Leser als defizitär erscheinen dürfte. Zumindest wäre ein einleitender Verweis auf andere Rituale und Feiern notwendig gewesen. Da ein wirkliches Interesse an Bräuchen und Volkskultur erst sehr spät erwacht, müssen zumeist Verbote und Berichte der staatlichen wie kirchlichen Obrigkeit als Informationsquellen dienen. Ebenso wie die in derartigen Untersuchungen immer wieder gern herangezogenen ikonografischen Quellen ist bei deren Interpretation allerdings größte Vorsicht geboten, da diese meist negativ gefärbten Sichtweisen ein verzerrtes Bild der Realität präsentieren.

Übertreibungen in die andere Richtung bietet die Mehrzahl der Quellen zur höfischen Festkultur, die im zweiten Teil der Studie vor allem anhand von Fallbeispielen erläutert wird. Hatten Feste im ländlichen Bereich in erster Linie zur Festigung gesellschaftlicher Strukturen und als notwendiger Ausgleich zur Alltagswelt fungiert, dienen sie im höfischen Bereich primär der Machtdemonstration des Herrschers. Diese Funktionsverschiebung hat unmittelbare Auswirkungen auf Anlage und Stellenwert des Festes wie auch seiner Einzelelemente. Eine Aufwertung der darstellenden Künste kommt dem Wunsch nach Repräsentation nach - prunkvolle Umzüge, theatrale Darbietungen und vor allem immer artifiziellere Tanzformen lösen als adäquate Formen dieser Selbstdarstellung die Turniere des Mittelalters ab. Und während im Volksfest überlieferte Handlungen den Ablauf bestimmen, zeichnen an den Höfen nunmehr namhafte Künstler wie Michelangelo oder Arcimboldo für die 'Inszenierung' verantwortlich.

Nachdem in diversen Überblickskapiteln die wesentlichsten Erscheinungsformen und Elemente höfischer Festkultur abgehandelt werden, wobei sich vor allem in den recht knapp gehaltenen Kapiteln zu Oper und Ballett leider einige kleinere Ungenauigkeiten, ja Fehler eingeschlichen haben, widmet sich die Autorin in zwei abschließenden Teilen jener Kunst, in der die Lust am Körper wie auch dessen Disziplinierung am offensichtlichsten zutage treten - dem höfischen Tanz. Der schlichten Beschreibung der gängigen Tanzformen, die dem (informierten) Leser Bekanntes zusammenfassend präsentiert, folgt eine Deutung dieser Praxis als Zivilisierung des Körpers, die zum Nachdenken wie zur Diskussion anregen dürfte. In einer konzisen Schlussbetrachtung werden schließlich die zentralen Ergebnisse und Beobachtungen zu den Festkulturen des untersuchten Zeitraumes nochmals aus verschiedenen Blickwinkeln (populare und höfische Festkultur; Rolle des Tanzes; sakrale und profane Feste; Körperlust und Disziplin; Tanz und Fest im "Zivilisationsprozeß") präsentiert.

Gerade angesichts einer stetig zunehmenden Tendenz zur immer kleingliedriger und enger disponierten Spezialstudie erscheinen derartig breit angelegte Darstellungen notwendig, wenn nicht gar überfällig. Dem Vorwurf der Oberflächlichkeit, der gegen solche 'Universalgeschichten' gerne erhoben wird, begegnet die Autorin durch einen ebenso ausführlichen wie kritischen Bericht zur Forschungslage sowie durch zahlreiche Anmerkungen und Verweise auf weiterführende Spezialliteratur in den immerhin 1700 Fußnoten. Kleinere Ungenauigkeiten, die sich aus einem so breit gefächerten Ansatz fast zwangsläufig ergeben, erscheinen dem Spezialisten zwar ärgerlich, dürften angesichts des Gewinns, den der interessierte Leser aus dieser Studie ziehen kann, jedoch zu verschmerzen sein.

Titelbild

Vera Jung: Körperlust und Disziplin. Studien zur Fest- und Tanzkultur im 16. und 17. Jahrhundert.
Böhlau Verlag, Köln 2001.
395 Seiten, 41,00 EUR.
ISBN-10: 3412116009

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