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Ralf Rothmann schildert in "Junges Licht" das Ende einer Kindheit im Ruhrgebiet

Von Christoph JürgensenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Jürgensen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nachdem ihn "Hitze" (2003) zuletzt in das heutige Berlin geführt hatte, ist Ralf Rothmann nun in seine eigentliche literarische Landschaft und Zeit zurückgekehrt: in das Ruhrgebiet der 60er Jahre. Hier waren die Romane "Stier" (1991), "Wäldernacht" (1994) und "Milch und Kohle" (2002) angesiedelt, mit denen Rothmann sich den Ruf eines 'Pott-Poeten' erworben hat. Zwischen Zeche und Arbeitersiedlung spielt auch sein jüngster Roman "Junges Licht".

Doch Rothmann schreibt nicht nur seine Mentalitätsgeschichte des Ruhrpotts fort, sondern er bleibt zugleich demjenigen Thema treu, das das Gravitationszentrum all seiner Bücher bildet. Seit seinem Debüt mit dem Gedichtband "Kratzer" (1984) liegt sein genauer Blick auf der als unterdrückend erfahrenen Kindheit und Pubertät seiner Protagonisten, auf den körperlichen und seelischen Verletzungen, die in der Kindheit erlitten werden. Und er richtet sich auf den Versuch, aus dieser Familienhölle und den vorgeschriebenen Lebensläufen zu entkommen, also "hemmungslos frei" zu sein, wie es in "Stier" einmal heißt.

Auch "Junges Licht" knüpft an dieses Thema an und erzählt von den ganz normalen Alltagskatastrophen: Der 12-jährige Julian wächst in beengenden, ärmlichen Verhältnissen auf, traktiert gleichermaßen von den Nachbarsjungen wie von den Lehrern und seiner ketterauchenden und überforderten Mutter, die ihn schlägt, bis die Kochlöffel zerbrechen. Um zu zeigen, dass Julian nicht einmal die kleinen Fluchten aus dieser Enge gelingen, genügt Rothmann eine knappe Szene: Um eine Entschuldigung für nicht erledigte Hausaufgaben zu haben, schneidet sich Julian mit einer Rasierklinge in den Handballen und reibt den Kopf eines Streichholzes in die Wunde - erst am nächsten Tag in der Schule fällt ihm auf, dass er sich für die falsche Hand entschieden hat.

Ansonsten passiert scheinbar nicht viel. Es sind Sommerferien, Julian wird beim Klauen im örtlichen "Spar"-Laden erwischt, kauft sich mit Bier und Zigaretten in seine Bande zurück, himmelt die nur wenig ältere, aber wesentlich reifere Nachbarstochter Marusha an und fährt mit dem Fahrrad seines Vaters an den See und liest den "Lederstrumpf". Doch dann kommt, kaum merklich zunächst, Bewegung in die Handlung, eine Bewegung, die auf ein Unglück zuläuft und das Ende von Julians Kindheit bedeuten wird. Die gallenkranke Mutter fährt mit der Schwester an die Nordsee, und Julian bleibt mit seinem Vater zurück. Hatte sich die sexuelle Aufladung der Atmosphäre zuvor nur vage angedeutet, wird sie jetzt immer handfester. So lässt Herr Gorny, Kumpel von Julians Vater und zugleich der Vermieter, seine päderastischen Neigungen immer deutlicher zutage treten. "Dein Vater ist ein kräftiger Mann ... Hast Du ihn schon mal nackt gesehen? - 'Ich? Nein?' - Aber ich. Wir sehen uns alle wie am ersten Tag. [...] Es gibt Kleine und Große. Krumme und Gerade. Manche sind sogar beschnitten. Würdest du das gern mal sehen?" Und auch die lolitahafte Marusha wird in ihrem Verhalten immer ungezügelter - häufig dringen nun Geräusche aus ihrem Zimmer, die dem Jungen unerklärlich sind.

Die Zutaten für eine erotische Katastrophe sind damit zusammen, und die ergibt sich, als der Vater Julian und Marusha zu einem Kollegen mitnimmt. Dort entwickelt sich innerhalb kürzester Zeit ein turbulentes Saufgelage, das einer der Höhepunkte des Romans ist. Mit sicherem Timing für groteske Komik lässt Rothmann seine Figuren hier die Kontrolle verlieren - und unschwer lässt sich erraten, dass der Vater mit Marusha im Bett landen wird. Als der Erzähler dies entdeckt und daraufhin enttäuscht von zu Hause fliehen möchte, verkündet ihm ein skurriler Alter eine der Einsichten, die kennzeichnend für die Erzählwelten von Rothmann sind: "Wohin du auch gehst, du bist auf der Welt, mein Junge. Und die ist immer dieselbe."

"Die guten Texte wachsen immer noch aus finsterm Grund", hat Heiner Müller einmal gesagt, und auf wenige Texte trifft dieses Diktum so zu wie auf "Junges Licht". Rothmanns Roman wächst in zweierlei Hinsicht aus finsterem Grund: buchstäblich aus den dunklen Schächten des Bergbaus und bildlich aus der Erfahrung familiärer Gewalt. Dabei gelingt Rothmann ein faszinierend anschauliches Bild dieser Region und ihrer Menschen, das nie in einen platten Detailrealismus oder in Sentimentalität abgleitet. In poetischer Verdichtung wird dem Leser ein sozialer Mikrokosmos präsentiert, der derart fest gefügt ist, dass sich nur am Rande etwa durch die Musik der Rolling Stones die revolutionären Veränderungen andeuten, die in der restlichen Welt gerade vor sich gehen. Im Pott ist davon nicht viel zu bemerken. Porträtiert wird eine kleinbürgerliche Welt, in der beim Gemüsehändler angeschrieben wird und sich die Vorstellungen von Glück kaum über einen abbezahlten Fernseher hinausbewegen.

Doch ganz ohne Hoffnung entlässt Rothmann seinen Protagonisten nicht in die Erwachsenenwelt, denn, formuliert der Alte die zweite wichtige Weisheit des Buches: "Wenn du dich für die Freiheit entschieden hast, kann dir gar nichts passieren. Nie." Von dieser, zugegeben etwas kitschigen Botschaft strahlt am Ende etwas Licht in das Ruhrpottdunkel. Und so muss die Familie des Erzählers am Schluss des Buches wegen der Verfehlung des Vaters zwar ausziehen, doch der letzte Blick in das leere Kinderzimmer ist von einer vorsichtigen Helligkeit: "Ein wenig Licht brach durch, Staub tanzte in den Strahlen, und plötzlich waren die Vögel, all die Meisen, Gimpel und Pirole, wieder da. Hauchzart und grau, wie ein Wasserzeichen an der Wand."

Titelbild

Ralf Rothmann: Junges Licht. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
237 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3518416405

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