Mit Alien-Genen aufgeputscht und verschmolzen

Thomas Koebner gibt in der Reihe "Filmgenres" einen Band zu Science Fiction heraus

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Selbstverständlich kann ein Literatur-, Theater- oder Filmlexikon nicht alle einschlägigen Werke in seinen Stichwortkatalog aufnehmen. Niemand erwartet das. Dennoch ist es ein weit verbreiteter, schlechter Usus im Vorwort eines solchen Nachschlagewerkes zu betonen, dass keine Vollständigkeit angestrebt wurde, sondern eine Auswahl getroffen werden musste, die von der einen oder anderen KonsultantIn womöglich anders getroffen worden wäre. Sinnvoller als solche Eingeständnisse wäre es offen zu legen, nach welchen Kriterien die Auswahl erfolgte.

In dem von Thomas Koebner herausgegebenen Lexikon "Filmgenres: Science Fiction" findet sich beides: Das Kriterium der Auswahl - die vorgestellten Filme, so der Herausgeber, vergegenwärtigten wiederkehrende Formen oder prägnante Motive, seien künstlerisch oder tricktechnisch "besonders einprägsam" oder hätten andere Werke "angeregt" - geht einher mit dem obligaten Eingeständnis, "dass es weitere Filme gibt, die derselben Behandlung wert wären".

Zwar lässt sich sehr wohl begründen, warum etwa "Formicula" (1954), "vielleicht der typischste aller Science-Fiction-Filme der 50er Jahre" aufgenommen wurde, nicht jedoch "Tarantula" (1956), auch lässt sich nachvollziehen, wieso auf die Sequels der "Planet der Affen"-Reihe verzichtet wurde, doch das Fehlen von Filmen wie "Jurassic Park" (1993), "Men in Black" (1997) oder "Starship Troopers" (1997) ist schon schwerer zu verstehen. Letzterer wird immerhin in Andreas Friedrichs Eintrag zu "Formicula" erwähnt, jedoch mit der fehlgehenden Feststellung, der Film rufe "die Utopie von einem gerechten Krieg wach, in dem die ganze Welt vereint für ihre Freiheit kämpft". Andererseits ist aber auch Marcus Stigleggers Bemerkung im Lemma zu "Total Recall - Die totale Erinnerung" (1990) nicht vorbehaltlos zuzustimmen, der zufolge die Protagonisten von "Starship Troopers" "als menschenverachtende Raubtiere, zielgerichtete Instinktwesen, die der alltäglichen Destruktion allenfalls mit einer zynischen Bemerkung begegnen", gezeichnet werden. Von besonderem Gewicht ist jedoch die ebenso explizite wie unbegründete Absenz von "japanische[n] Produktionen - die eine eigene Art bilden" - und somit der "Gozilla"-Filme, durch deren Ausklammerung, wie eingestanden wird, ein ganzes Subgenre fehlt. Angesichts der stilbildenden Wirkungsgeschichte dieser Filme drängt sich der Verdacht auf, dass sie übergangen wurden, um eine These des Herausgebers zu stärken, der zufolge der SF-Film "vornehmlich als amerikanisches Genre erscheint". Andererseits bleibt angesichts des von Koebner genannten Aufnahmekriteriums unerfindlich, wie ein Film wie "Critters - sie sind da!" (1986) seinen Weg in das Buch finden konnte.

In seiner kurzen Einleitung begründet Koebner nicht nur die Auswahl der behandelten Filme, sondern stellt zudem kurz "die wichtigsten Motive der Science-Fiction-Phantasie" vor, die er in sechs Gruppen unterteilt: 1. "Modell-Gesellschaften", 2. "Begegnungen mit Außerirdischen", 3. "künstliche Menschen", 4. "anti-utopische Voraussagen von Terrorsystemen mit dramatischen Endzeitvisionen" 5. "Expeditionen ins All" und 6. "Reisen durch die Zeit". Womit auch hier - ähnlich wie bei den SF-Filmen - zumindest ein Subgenre unterschlagen wird. Zwar könnte man die Social-SF unter die "Modell-Gesellschaften" respektive unter die "anti-utopische[n] Voraussagen von Terrorsystemen" subsumieren, was jedoch deren nicht eben geringen Unterschied zu den Staatsutopien bzw. -dystopien verwischen würde. Völlig außen vor bleibt in dieser Aufzählung aber vor allem der Cyberpunk. Immerhin war es schlecht möglich, ihn bei den Filmen völlig zu übergehen. So wird zwar "The Matrix" (1999) vorgestellt, "Tron" (1981) hingegen sucht man schon vergeblich.

Wie sehr Koebner bereits hier, wo er noch das SF-Genre im Allgemeinen behandelt, den SF-Film vor Augen hat, wird deutlich, wenn er von "Menschenmassen" spricht, die "beinahe optisch verloren gehen in überdimensionalen Architekturen". (Herv. R. L.)

Die Lemmata beginnen mit Zusammenfassungen der jeweiligen Filmhandlung, denen in der Regel einige - oft etwas wahllos anmutende - Gedanken zum Film und dem zeitgenössischen Kontext seiner Herstellung folgen - oder auch zu dem, was den VerfasserInnen sonst gerade wichtig oder interessant erscheint. Nachdem Michael Hanisch beispielsweise denkbar knapp die Handlung des Kurz- und Stummfilms "Die Reise zum Mond" (1902) referiert hat, lässt er eine mehrseitige Hommage an den Regisseur folgen, die sicherlich begründet ist, jedoch mit dem Film selbst nichts mehr zu tun hat. Überraschende Thesen werden in den Lemmata kaum vertreten und schon gar nicht begründet. Ebenso selten sind Anmerkungen zur Schnitt- und Kameratechnik, zum Subtext oder zur Semiotik eines Films. Dabei sind die einzelnen Texte von unterschiedlicher Qualität. Ilona Grzeschnicks Würdigung des Films "Planet der Affen" (1968) bleibt ebenso wie Andreas Friedrichs Text zu den Frankenstein-Filmen "Frankenstein" (1931), "Frankensteins Braut" (1935) und "Mary Shelley's Frankenstein" (1994) weithin der Oberfläche verhaftet. Zweifellos steckt, wie Friedrich bemerkt, die "Schöpfungssequenz" in "Mary Shelley's Frankenstein" voller "sexueller Anspielungen". "Die gesamte Apparatur" erläutert er, "ahmt einen Geschlechtsakt nach". Nun ersetzen solche kurzen Anmerkungen zwar kaum eine Analyse oder auch nur eine zusammenhängende Interpretation, doch würde man sich mehr von ihnen wünschen. Auch Dorothee Ott dringt nicht in die Tiefen des Films "Barbarella" (1968) vor, aber immerhin versteht sie es, ihn mit einigem Witz nachzuerzählen. Lesenswert ist Andreas Rauschers kenntnisreiches Lemma zu den zehn "Star Trek"-Kinofilmen.

Auch Michael Gruteser hat mit seiner Beurteilung der "Alien"-Reihe einen der interessanteren Beiträge beigesteuert. Zumindest zählt er zu den reflektiertesten, wenn man auch nicht jeder seiner Analysen und Interpretationen - auch nicht den grundlegenden - zustimmen mag. Unzutreffend ist etwa, dass "die Company" erst in "Alien 3" (1997) "einen inzwischen dämonischen, das Alien übertrumpfenden Status erhält". Den besitzt sie von Anfang an. Auch ist mehr als zweifelhaft, dass der Plot von "Alien" (1979) "mit seiner scheinbaren Moral erstaunlich primitiv" ist. Ungeachtet dieses Verdikts bezeichnet Gruteser den Streifen als den "erste[n] erwachsene[n] Film in einem eher infantilen Genre". Vor dem vierten Teil, "Alien: Resurrecion" (1997), kapitulieren Grutesers Interpretationskünste: "Alles scheint sich auf eine Reflexion der bisherigen 'Alien'-Filme zu beziehen, doch im Chaos dieses Bezugssystems ist kein Sinn mehr zu finden." Der gute Eindruck, den Gruteser Beitrag dennoch hinterlassen könnte, wird durch zahlreiche stilistische Unzulänglichkeiten zerstört - an denen im Übrigen auch einige andere Lemmata leiden. Sind manche Formulierungen Grutesers nur unschön ("Diese Sequenz [der Chestburster] verhält sich zum vorangegangenen [dem Facehugger] wie ein Positiv (im wertneutralen Sinn) zum Negativ", "die Versagung von Menschlichkeit zur Vermeidung von Verbrechen ist das wohl wichtigste Motiv für Fincher in diesem Film") oder schief ("die mit Alien-Genen aufgeputschte Ripley" und auf der nächsten Seite "die mit Aliengenen verschmolzene Ripley"), so ist die Rede vom "Alienschiff, das die gespreizten Beine einer Frau evoziert" unfreiwillig komisch und sinnentstellend. Gemeint ist offenbar, dass das fremde, gestrandete Raumschiff im ersten Teil der Serie diese Vorstellung evoziert. Aber auch über diesen Befund ließe sich streiten. Andere AutorInnen sind zu anderen, plausibleren Interpretationen gelangt.

Titelbild

Thomas Koebner (Hg.): Filmgenres: Science Fiction.
Reclam Verlag, Stuttgart 2003.
544 Seiten, 10,80 EUR.
ISBN-10: 3150184010

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