Die Wiederkehr der Verdrängten

Eine Textsammlung von Sabina Spielrein

Von Rainer ZuchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Zuch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Gründungsgeschichte der Psychoanalyse ist auch eine Geschichte persönlicher Auseinandersetzungen. Die Gründerväter der modernen Tiefenpsychologie waren nicht nur bestrebt, gemeinsam eine neue Psychologie auf den Weg zu bringen, sondern auch ihre verschiedenen Theorien und Therapien gegen als Konkurrenten begriffene Kollegen durchzusetzen.

Dabei waren unterschiedliche Ansätze fast immer personal gebunden, theoretische Auseinandersetzungen liefen auch auf persönlicher Ebene ab, fachliche Beziehungen waren stark subjektiv geprägt. Im Zentrum stand Freud und die von ihm ins Leben gerufene Internationale Psychoanalytische Vereinigung, die die Etablierung der Psychoanalyse in Gestalt einer nach strengen Regeln organisierten wissenschaftlichen Schule zum Ziel hatte.

Es muss ein eigenartiges Klima geherrscht haben, in dem gegenseitiges Vertrauen schnell in Misstrauen gegenüber vermeintlich defätistischen Regungen wie auch umgekehrt umschlagen konnte, die Beteiligten aber zugleich ihre eigenen Motive und die ihrer Partner oder Kontrahenten nach den selbst gesetzten psychologischen Maßstäben analysierten. Kein Analytiker ist frei von Komplexen und Neurosen, dessen waren sich alle Beteiligten bewusst, was aber niemanden daran hinderte, diese auch strategisch einzusetzen. Der Bruch zwischen Freud und Jung etwa war die Folge solcher fachlichen und persönlichen Differenzen, woran auch die Tatsache nichts änderte, dass beide dies ausführlich reflektierten.

Dass die Analytikerin Sabina Spielrein bis heute nahezu unbekannt geblieben ist, ist maßgeblich solchen Auseinandersetzungen geschuldet. Johannes Cremerius bezeichnete sie 1987 zu Recht als "ein frühes Opfer der psychoanalytischen Berufspolitik". Meist taucht sie nur als eine Fußnote in Zusammenhang mit Freud oder Jung auf, in deren komplizierter Beziehung zueinander Spielrein unter die Räder geriet.

Sabina Spielrein wurde 1885 in Rostow in Russland geboren und kam 1904 in die Psychiatrische Klinik Burghölzli, wo sie von Jung wegen schwerer psychischer Störungen behandelt wurde. 1906 begann sie in Zürich Medizin zu studieren. Um diese Zeit setzte eine Liebesbeziehung mit Jung ein, die dieser jedoch 1909 abrupt und einseitig beendete. Indem er eine private Beziehung mit einer Patientin angefangen hatte, verstieß Jung gegen das psychiatrische Berufsethos und handelte sich persönliche und fachliche Probleme ein. Spielrein bat daraufhin Freud um Hilfe, der sie jedoch beschwichtigend abwimmelte und sich mit Jung solidarisierte.

Da Spielrein inzwischen selbst eine Ausbildung als Analytikerin abgeschlossen hatte und mit ihrer Dissertation "Über den psychologischen Inhalt eines Falles von Schizophrenie (Dementia Praecox)" 1911 in ein Gebiet vorstieß, welches auch Freud und Jung intensiv bearbeiteten, drohte ihnen hier eine fachlich durchaus gleichrangige Konkurrentin zu erwachsen. In der Folge erwiesen sich Freud und Jung im doppelten Sinne als Gründerväter, in der sie der "kleinen Autorin" (Jung) die fachliche Anerkennung und einen Platz im Lehrgebäude der Psychoanalyse verweigerten. Beide waren bestrebt, die "Spielrein-Angelegenheit" unauffällig zu "erledigen".

Es ist nur ein schwacher Trost, dass die fehlende Unterstützung seitens der beiden wichtigsten Schulbildner der frühen Psychoanalyse wahrscheinlich mitverantwortlich war für Spielreins Ablehnung jeglicher Orthodoxie. Bereits in den frühen, bekannteren Schriften wie ihrer Dissertation und vor allem "Die Destruktion als Ursache des Werdens" (1912) zeigte sich die Unabhängigkeit ihrer Argumentation, woran auch Jungs impliziter Vorwurf, sie habe von ihm abgeschrieben, nichts ändert. Diese und ihre späteren Texte zeigen einen analytischen Ansatz, der sich mehr noch als ihre bekannteren Fachkollegen das Zuhören und Verstehen der Patientengeschichte in den Mittelpunkt stellt und eher das Lehrgebäude für eine funktionierende, d. h. heilende Therapie opfert, als die Patienten der Theorie einzupassen.

Die meisten Texte verfasste Spielrein zwischen 1911 und 1923. 1912 siedelte sie nach Wien über, ging aber 1923 zurück in die Sowjetunion. Dort arbeitete sie weiterhin als Psychoanalytikerin, baute ein Kinderheim auf und konzentrierte sich auf die Analyse von Kindern. 1936 wurde die Psychoanalyse in der Sowjetunion verboten. Als 1941 deutsche Truppen Rostow besetzten, fielen Spielrein und ihre Töchter den Judenmord-Aktionen der Nazis zum Opfer.

Das vorliegende Buch versammelt erstmals alle zugänglichen Schriften Spielreins in einem Band. Diejenigen Texte, die in Französisch oder Russisch entstanden, werden zweisprachig veröffentlicht. Den Abschluss bilden ein Quellenverzeichnis und eine stichwortartige Biografie. Damit werden die "Sämtlichen Schriften" zu einem Kompendium, an dem niemand vorbeikommt, der sich mit dieser zu Unrecht vergessenen Psychoanalytikerin beschäftigt.

Titelbild

Sabina Spielrein: Sämtliche Schriften. Mit einem Vorwort von Ludger Lütkehaus.
Psychosozial-Verlag, Gießen 2002.
396 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3898061469

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