Die Löcher sind die Hauptsache an einem Sieb

Otto Sander liest Joachim Ringelnatz

Von Roman KernRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roman Kern

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

" ...als ich noch so klein und dumm war wie ihr ..." - so spricht Kuttel Daddeldu seine Kinder an, als er anhebt, eine durchaus eigenwillige Version des Märchens vom Rotkäppchen zum Besten zu geben.

So mag sich mancher Zuhörer auch durchaus angesprochen und zugleich in seine Kindheit oder Jugend zurückversetzt fühlen; die meisten Menschen haben recht früh das erste Mal Kontakt mit Joachim Ringelnatz. Es ist ein wenig so wie mit Christian Morgenstern: man liebt es oder man hasst es. Die Ringelnatz-Liebhaber sind meistens bereit zuzugeben, dass der eigenwillige Dichter ihr Verständnis von Humor nachhaltig beeinflusst hat. Es ist jene besondere Art, um die Ecke zu denken und zu sprechen, die sofort ins Auge fällt, etwa wenn Ringelnatz schreibt: "Ein weibliches Rekördchen hatte sich besoffen, mußte mal aufs Örtchen; als es wieder rauskam, war es schon übertroffen". Otto Sander, der dieser Produktion seine Stimme lieh, formuliert es so: "Mit ihm gelacht und mit ihm geweint habe ich nun schon seit manchem Jahrzehnt - mit ihm gelangweilt habe ich mich noch nie."

Otto Sander, der Mann mit der wundervoll knarzig-rauchigen Kehle. Der Magier, der mit abwärts fahrender Stimme " ...über dem schlafenden Kuttel Daddelduhuuu ..." den Hörer so wundervoll hinführt auf ein einsam zwischen zwei Episoden Seemannsgarn sitzendes Nebelhorn. Otto Sander, der - hört man genau hin - oft genug lachen musste am Ende der kurzen Stücke, die er vortrug, was im Studio leider fast immer weggeschnitten wurde. Einmal, bei einem Teil der "Sprüche" von Nummer 23, setzt er erneut an, unter der doppelten Anstrengung, nicht zu lachen und sich zugleich das Maul zum Sächsisch zu verbiegen: "Die Kuh gibt Milch und kommt aus Leipz'sch, wer zuviel trinkt, der bekneipt sich."

Die vorliegende Produktion vereint 37 Stücke des Mannes, der mit bürgerlichem Namen Hans Gustav Bötticher hieß und alles andere als einen geradlinigen Lebenslauf vorzuweisen hatte. Ursprünglich in Sachsen geboren, kam er bald nach Hamburg, fuhr einige Jahre seiner Jugend zur See und gelangte später nach München, wo er begann, in Künstlerkreisen zu verkehren. Eine Zeit lang fuhr er als Bänkelsänger von Ort zu Ort und beendete jeden seiner Auftritte mit seinem Lieblingslied "La Paloma". So ist es nur konsequent, wenn die musikalischen Zwischenspiele von Gerd Besseler häufig in weinerlicher oder auch trunken-schräger Weise auf dieses Thema zurückgreifen.

Ein Engagement im Berliner Kabarett " Schall und Rauch" wurde zum dann Wendepunkt; die Bühne sollte sein Beruf werden: fünfzehn Jahre lang trat Ringelnatz mit Schlaghose und Matrosenbluse in aller Welt auf als "Seemann Kuttel Daddeldu". Am 17. November 1934 starb er in Berlin. Die Beerdigung folgte seinem Wunsch, zu den Klängen von "La Paloma" zu Grabe getragen zu werden.

"Ich bin eine alte Kommode, oft mit Tinte und Rotwein begossen, manchmal mit Fußtritten geschlossen; der wird kichern, der nach meinem Tode mein Geheimfach entdeckt", heißt es in einem seiner Stücke. Jene Passage aus der "Ansprache eines Fremden an eine Geschminkte vor dem Wilberforcemonument" sollte geradezu prophetische Kraft haben: Heute ist Ringelnatz mit einer ganzen Reihe seiner Werke in jedem gut sortierten Buchladen vertreten und erfreut sich wieder großer Beliebtheit.

Es ist gerade das Tänzeln zwischen Humoristischem und Tiefsinn, das Oszillieren zwischen den Lachern und den Rührungstränen im Augenwinkel. So sehen wir in dem wunderbaren Stück "Ein ganzes Leben lang" eine Eintagsfliegenfrau: Recht lebhaft erinnert sie eines Abends ihren schon etwas müden Mann an alles, was sie gemeinsam erlebt haben. Mit der Bedächtigkeit eines Greises antwortet er immer weniger, bis zuletzt die Stimme von Otto Sander in wohligem Knarren seinen Atem in die Ewigkeit entlässt: "lang, lang ist's her, lannggggg ..."

Wer herausfinden oder nochmals überprüfen will, was es mit den vielen anderen Kleinodien aus dem "Geheimfach" des Joachim Ringelnatz auf sich hat, dem sei die vorliegende Produktion wärmstens ans Herz gelegt. Otto Sander spricht die versammelten Texte meisterhaft. Keine Sekunde langweilt man sich - eher ist es bedauerlich, dass nicht mehr Material vorliegt. Gerd Besseler versieht die Texte mit Zwischenspielen, die recht kurz sind und immer den richtigen Ton treffen. Die sinnvolle Gliederung der einzelnen Stücke, die Gestaltung desCovers mit Hilfe Ringelnatz'scher Illustrationen sowie der informative und anregend geschriebene Begleittext tun ein Übriges: Hier ist eine rundum überzeugende Produktion gelungen.

Titelbild

Joachim Ringelnatz: Ich bin etwas schief ins Leben gebaut. CD.
Patmos Verlag, Düsseldorf 2004.
51 Minuten, 14,95 EUR.
ISBN-10: 3491911567

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