Entgrenzungen des Theaters

Ein Sammelband untersucht "Theatralität und die Krisen der Repräsentation"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den vergangenen Jahren hat sich die eher generelle Vorstellung dessen, was man unter dem Begriff 'Theater' versteht, nicht unerheblich verschoben. Je nach Kontext haben sich Umfang und Grenzen des Begriffs verändert: Neben den seit langem bekannten und in der Forschung vielfältig behandelten Grundbedeutungen - Theater als soziale Institution, Theater als besondere Kunstform, die mit heterogenen Materialien wie dem menschlichen Körper, der Stimme, unterschiedlichen Objekten, Licht, Musik, Sprache, Lauten etc. arbeitet und Aufführungen hervorbringt, Theater als Produkt einer medienspezifischen Kommunikation, die durch ihren transitorischen Charakter gekennzeichnet ist, Theater als Gebäude sowie Theater als besondere Form kultureller Kommunikation - bezeichnet Theater im Rahmen einer 'Ästhetik des Performativen', wie sie vor allem von Erika Fischer-Lichte formuliert wurde, "unterschiedliche Phänomene und Prozesse auf verschiedenen kulturellen Feldern, wie z. B. eine spezifische Zuordnung von Akteuren und Zuschauern, Maskierung, Rollen-Spiel, effektvolle Inszenierungen von Auftritten, Abgängen, Situationen und Ereignissen, die in unterschiedlichen kulturellen Systemen anzutreffen sind". Mit der Etablierung dieses erweiterten Theaterbegriffs gehen die Entgrenzung des Theaters hin zu anderen Genres von cultural performances wie Ritualen, Festen, politischen Versammlungen sowie eine generell zu beobachtende Theatralisierung des gesellschaftlichen und politischen Lebens einher. Damit wird ein die Geisteswissenschaften lange Zeit dominierender 'Irrtum' korrigiert, demzufolge ein gravierender Unterschied zwischen der modernen europäischen Kultur und nicht-westlichen Kulturen bestehe. Während man davon ausging, dass sich das Selbstverständnis westlicher Kulturen vor allem in Texten und Monumenten formuliert habe, erkannte man, nicht-westliche Kulturen bezögen ihre identitätsstiftenden Akte primär über theatrale Prozesse, d. h. über jegliche Formen von cultural performances, die man im 'zivilisierten' Europa so nicht antreffe. Diese Überzeugung ist durch den cultural turn der Geisteswissenschaften nachhaltig erschüttert worden, konstatiert und formuliert sich unsere Gegenwartskultur doch mittlerweile weniger in schriftlichen Zeugnissen als vielmehr in theatralen Prozessen der Inszenierung und Darstellung, die erst durch mediale Vermittlung zu kulturellen Ereignissen werden.

Fraglos sprengt dieser fundamentale Wechsel der Materialität der Kommunikation (vom Text zu theatralen Prozessen) auch die Grenzen der einzelnen kulturwissenschaftlichen Disziplinen. Erforderlich werden nicht nur interdisziplinäre Ansätze, sondern vielmehr eine Re-Formulierung von Forschungsstrategien, die mit der Einführung des Begriffs 'Theatralität' ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Diese Neudefinition von Theater zeichnet ein von Erika Fischer-Lichte herausgegebener Tagungsband "Theatralität und die Krisen der Repräsentation" nach, der sich an vier Aspekten orientiert, die für die einschlägigen Theorien von 'Theatralität' konstitutiv sind: Performance/Aufführung, Inszenierung, Körperlichkeit und Wahrnehmung. In ihrer Einleitung weist die Herausgeberin darauf hin, dass zwei prinzipiell differente Varianten von 'Theatralität' zu unterscheiden seien: Erstens meint Theatralität "die Gesamtheit aller Materialien bzw. Zeichensysteme, die in einer Aufführung Verwendung finden und ihre Eigenart als Theateraufführung ausmachen, also die je spezifische Organisation von Körperbewegungen, Stimmen, Lauten, Tönen, Licht, Farbe, Rhythmus etc., wie sie von der Inszenierung vorgenommen wird". Zweitens wird Theatralität "außerhalb des Rahmens und der Reichweite von Theater als autonomer Kunst oder auch als sozialer Institution" definiert als "'prä-ästhetischer Instinkt' (Nikolaj Evreinov) des Menschen", der als "Kultur erzeugendes und die Kulturgeschichte vorantreibendes Prinzip nicht nur der Kunst, sondern auch Religion, Recht, Sitte und Politik als Bedingung ihrer Möglichkeit zugrunde liegt". Bereits in ihrer dreibändigen "Semiotik des Theaters" (1983) hatte Fischer-Lichte auf sehr überzeugende Art und Weise Theatralität als einen spezifischen 'Modus der Zeichenverwendung' durch Produzenten und Rezipienten definiert, der menschliche Körper und die Objekte ihrer Umwelt in theatrale Zeichen verwandelt. Damit ließe sich Theatralität auch als "Inszenierung von Körpern im Hinblick auf eine je besondere Art der Wahrnehmung bestimmen, die einerseits aufgeführt, andererseits jedoch auch in Texten, Bildern, Filmen und anderen Medien vorgenommen werden kann".

Die einzelnen Beiträge des Sammelbandes verwenden Theatralität nun als heuristisches Instrument bei der Untersuchung der beiden großen Repräsentationskrisen in der europäischen Kultur, die wiederholt für das ausgehende 16. und das 17. Jahrhundert (vor allem natürlich in Foucaults bahnbrechender Studie "Les mots et les choses" von 1966) sowie für das ausgehende 19. und das 20. Jahrhundert diagnostiziert worden sind. Legitimiert wird ein solcher Ansatz vor allem dadurch, dass sich gleichzeitig mit der Krise der Repräsentation immer auch ein neuer Theaterbegriff ausbildete, in dessen Folge sich eine Theatralisierung anderer Arten von cultural performances wie z. B. in Festen, Hinrichtungen, politischen Zeremonien u. a. beobachten lässt. Schließlich fungierte Theater in beiden Epochen als eine Art kulturelles Modell, worauf "die Ubiquität des Topos vom Theatrum mundi bzw. Theatrum vitae humanae im 17. Jahrhundert und die exzessive Verwendung von Theaterbegrifflichkeiten in sämtlichen kulturellen Bereichen in beiden Epochen hinweisen".

Der hier präzise formulierte und an diversen Beispielen verifizierte Ansatz, zwischen der Entwicklung eines neuen Theaterbegriffs sowie der Theatralisierung anderer Arten von cultural performances auf der einen Seite und der Krise der Repräsentation auf der anderen Seite eine Beziehung herzustellen, ist in hohem Maße plausibel und einleuchtend. Vor allem die Anfang des 20. Jahrhunderts zu beobachtende Explikation einer Re-Ritualisierung des Theaters und die Entwicklung neuer, als gemeinschaftsstiftend konzipierter Inszenierungsstrategien sprechen hier eine deutliche Sprache. Zu erinnern wäre daran, dass Vertreter der historischen Avantgarde-Bewegungen in Manifesten und Programmschriften, vor allem aber in eigenen Inszenierungen eine Transformation von Theater in ein Fest (etwa Max Reinhardt), ein Ritual (z. B. Antonin Artaud), eine politische Versammlung (wie Erwin Piscator) oder eine Zirkusveranstaltung (z. B. Sergej Eisenstein) proklamierten. Solche Transformationen hatten, worauf Erika Fischer-Lichte mit Recht hinweist, "eine Dominantenverschiebung zum Ziel: weg von den referentiellen hin zu den performativen Funktionen". Damit wird Theater neu definiert: "als eine performative Kunst, in der die referentiellen Funktionen den performativen untergeordnet sind". Angesichts dieser Beobachtungen ist die grundlegende Annahme der Beiträger nicht von der Hand zu weisen, dass Repräsentationskrise, Neudefinition des Theaterbegriffs und Theatralisierung unterschiedlicher Gattungen von cultural performances auch im 20. Jahrhundert eng miteinander verknüpft sind.

Angesichts der glänzenden Vorarbeiten Erika Fischer-Lichtes und der Beiträger dieses Sammelbandes sowie der gelungenen Etablierung des Begriffs 'Theatralität' darf man auf die Fort-Schreibungen dieses Konzepts und seine Applizierbarkeit auch auf andere Epochen gespannt sein; denn zwischen dem Ende des 16. Jahrhunderts und dem Anfang des 20. Jahrhunderts liegt schließlich auch das in diesem Sammelband ausgesparte 18. Jahrhundert, in dem die Krise der Repräsentation (etwa in Lessings "Laokoon") ebenfalls mit neuen Konzepten des Theaters (so neben Lessing beispielsweise auch in Kleists Dramen) enggeführt wird.

Titelbild

Erika Fischer-Lichte (Hg.): Theatralität und die Krisen der Repräsentation. DFG-Symposion 1999.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2001.
620 Seiten, 99,90 EUR.
ISBN-10: 347601827X

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Titelbild

Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
378 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 3518123734

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