Literarische und außerliterarische Negotiationen

Ein Sammelband widmet sich Kafkas "Textverkehr"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist von Anfang an bemerkt worden, dass Kafkas Werk, wie vielleicht kein anderes des 20. Jahrhunderts, von Schrift-Verkehren spricht; man hat seinem Interesse für die Ordnungen der Zeichen nachgespürt, die ihr Spiel in der Zone zwischen Gewalt und Ausflucht entfalten: im Schriftspiel der Briefe, die den schreibenden und lesenden Figuren ihre Orte anweisen; im Schriftspiel der Literatur, das hieraus in zwanghafter Notwendigkeit erwächst; als Beziehungsstrom zwischen den Menschen, in den der Dritte, der Parasit, als Störender und Initiator von Kommunikation zugleich sich einnistet; im Rauschen der Sprache, die sich ihrer Bedeutungen entkleidet; in den "weißen Zeichen" des exilierten Dichters, die durch die Medien moderner Kommunikationstechniken strömen; in der Dialektik von Eigentümlichkeiten und Fremde der Zeichen schließlich, wie sie sich exemplarisch in der Begegnung Kafkas mit dem "Jargon", der jiddischen Sprache, dokumentiert. Bereits Elias Canetti hat scharfsinnig den Zusammenhang von Leben und Schrift nachgezeichnet: Um sinnvoll zu werden, lässt Kafka dem Leben nur einen Ausweg - es muss durch seine Feder hindurch, es muss Schrift werden. In der präzisen Linienführung der Hand-Schrift verengt sich zwar das Leben, aber es ordnet sich auch. Der schreibende Körper nimmt sich so weit zurück, dass er als beschriebener und tätowierter Körper durch das Nadelöhr der Imagination hindurchgelangt und als Textur weiterlebt.

Interessant ist jedoch, dass sich die Forschungsarbeiten zumeist darauf beschränkt haben, Analogien zu extratextuellen Diskursen zu konstatieren, ohne die komplexen Detailübernahmen und Transformationsprozesse im Einzelnen zu rekonstruieren und die intertextuellen Verfahren Kafkas methodisch zu reflektieren. Zudem hat die Forschung bislang die durchaus heikle Frage zu umschiffen verstanden, warum Kafka einerseits zum einzigartigen Modellfall der Moderne erklärt, andererseits aber an deren Peripherie gerückt wurde. Rühmliche Ausnahme ist lediglich die kleine Kafka-Studie Gilles Deleuzes und Félix Guattaris (1975), die in ihrer verblüffenden Lektüre der erhaltenen Fragmente von Kafkas Aufsatz über "kleine Literaturen" vor Augen führen, wie eine "deterritorialisierte" Literatur funktioniert, indem sie deren Struktur an Kafkas eigenem Werk detailgenau aufzeigen. Der von Claudia Liebrand und Franziska Schößler edierte Sammelband "Textverkehr. Kafka und die Tradition" versucht diese Lücken zu schließen. Berücksichtigung finden in den jeweiligen Beiträgen sowohl von Kafka explizit genannte Bezugsautoren, die teilweise auch schon von der Kafka-Forschung aufgenommen wurden, als auch Autoren, die bislang noch nicht im Zusammenhang mit Kafka diskutiert wurden. Dessen intertextuelles Verfahren, so die beiden Herausgeberinnen in ihrer Einleitung, zeichne sich dadurch aus, dass "Hypotexte unterschiedlichster Herkunft, Höhenkammliteratur wie Unterhaltungsliteratur, Lexikoneinträge wie Details aus Künstlerbiographien, Mythen wie Bildergeschichten sich überlagern und gegenseitig transformieren, ja bis zur Unkenntlichkeit entstellen". Im Zentrum der Betrachtung steht Kafkas Text-Verkehr mit Kleist, Novalis, Jean Paul, Flaubert, Plessner und Thomas Mann. Zu berücksichtigen sei ferner, dass "das intertextuelle Verfahren Kafkas intermedial angelegt ist", was vor allem mit Kafkas Bezug zu den Bildergeschichten Wilhelm Buschs expliziert wird.

Zurückgegriffen wird dabei vorwiegend auf einen weiten Begriff von 'Intertextualität', der es erlaubt, nicht nur literarische Prätexte in den Blick zu nehmen, sondern vielfältige Diskurse des kulturellen Feldes um 1900, die für Kafkas Texte einschlägig sind - etwa der juristische, der darwinistische und der anthropologische Diskurs. Die Beiträger gehen mithin - im Anschluss an Stephen Greenblatts Konzept der poetics of culture - den komplexen Tauschbeziehungen zwischen literarischen und außerliterarischen Texten nach. Greenblatt fasst den Produktionsprozess von Kunst bekanntlich als ein "subtiles, schwer faßbares Ensemble von Tauschprozessen, ein Netzwerk von Wechselgeschäften, ein Gedränge konkurrierender Repräsentationen" auf und spricht von "komplexen, unablässigen Leih- und Verleihgeschäfte[n]". Demgemäß rücken die von Bianca Theisen untersuchten "Evolutionsphantasien" Kafkas, wie er sie in der "Verwandlung" oder im "Bericht für eine Akademie" vorführt, genauso in den Blick wie die Verflechtungen und engen Interferenzen zwischen juristischem Diskurs und literarischem Text, die Harald Neumeyer unter dem Aspekt von "Dispositiven der Macht" in Kafkas Erzählung "In der Strafkolonie" verortet. In den Aufsätzen des Sammelbandes findet jedoch auch das enge, einflussphilologisch ausgerichtete Intertextualitätskonzept (Broich/Pfister, Genette) Verwendung, um möglichst "die Vielfalt der intertextuellen Strategien Kafkas zu erfassen". Darüber hinaus wird in einer Art Metareflexion über Kafka als Leser und sein prekäres Verhältnis zur 'Tradition' nachgedacht. Eine besondere Trouvaille präsentiert Tina-Karen Pusse in ihrer luziden Analyse von Kafkas Rezeption pornographischer Literatur (sadomasochistischer Ausrichtung), die zeigt, dass diese Referenz weniger über sadomasochistische Sexual- als über sadomasochistische Lektürepraktiken verrät. Kafkas Texten werden als "Meta-Pornos" gelesen: "Sie funktionieren gegenläufig zur Pornographie und legen dadurch ihre Funktionsweise offen. Nicht die 'Geschichte' ist der Vorwand, sondern umgekehrt: die Kopulation bringt notwendig die Geschichten hervor". Vor allem im "Proceß" und in der "Strafkolonie" werden Lesen und Schreiben als sadomasochistische Akte präsentiert, indem beide Texte dieses Phänomen in einer Weise inszenieren und re-inszenieren, dass die Lesenden zu Komplizen dieses Schriftspiels werden.

Das unbestrittene Verdienst der einzelnen Beiträge ist ihr Blick für die vielfältigen Negotiationen zwischen literarischen Texten auf der einen sowie zwischen literarischem Text und außerliterarischem Kontext auf der anderen Seite, die anschaulich machen, auf welche Weise Kafkas Texte auf andere Texte "antworten", "in einer Art spielerischer Traditionszertrümmerung" andere Texte weiter-, wider- und umschreiben. Auch wenn sich in den letzten Jahr(zehnt)en Kafka-Forschung der Eindruck verdichtet hat, es gebe nichts Neues mehr zu entdecken, der verschärfte Blick auf den reichhaltigen Text-Verkehr, den Kafka mit literarischen und außerliterarischen Diskursen pflegte, von denen der Sammelband ja nur Ausschnitte präsentiert, wird auch in den kommenden Jahren sicherlich noch für so manche Überraschung sorgen.

Titelbild

Claudia Liebrand / Franziska Schößler (Hg.): Textverkehr. Kafka und die Tradition.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2004.
389 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-10: 3826026608

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