Das Auge begehrt

Jeffrey Eugenides' Debütroman spielt mit der Position des Erzählers

Von Sebastian DomschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Domsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einem Interview erklärte Jeffrey Eugenides einmal seine Poetik anhand einer Kindheitserinnerung: "Mein Vater schaute immer vorne in die Kameralinse, um zu sehen, wieviel Film noch drin ist. In allen unseren Familienfilmen sehen sie erst uns und dann das große braune Auge meines Vaters. Und das wurde für mich zum Symbol, dass der Erzähler in den Geschichten selbst auftauchen sollte." Damit gibt der Pulitzerpreisträger Eugenides seinen Lesern einen Tipp an die Hand, einen Hinweis darauf, wohin sie zuerst sehen sollten bei seinen Büchern: auf die Position des Erzählers. Denn das Spiel mit dieser Position ist es, was die Romane des griechischstämmigen, in Berlin lebenden Amerikaners so besonders macht. Das gilt für seinen epochalen Großroman "Middlesex", mit dem er sich international als gefeierter Autor etablierte, und in dem der Erzähler auf allen Ebenen, also auch der der Erzählung, zwischen den Geschlechtern changierte und nicht zu fassen war. Es gilt aber auch für seinen Erstlingsroman "The Virgin Suicides", der 1993 erschien, und nun unter dem fürchterlichen Titel "Die Selbstmord-Schwestern" auf Deutsch vorliegt.

Die Geschichte an sich klingt nach einer Konstruktion, die bewusst gewagt sein soll, und dabei vielleicht etwas über das Ziel hinausschießt. Gleich fünf Töchter haben die Lisbons, und alle werden sie Selbstmord begehen in einem leicht spießigen, von kränkelnden Ulmen gesäumten Vorort einer nordamerikanischen Großstadt, die Detroit sein könnte, aber auch eine beliebige andere. Auf den ersten Selbstmord reagieren die zu Bigotterie neigenden Eltern mit einem fast vollständigen Rückzug von der Welt, schließen sich und die Töchter im verwahrlosenden Haus ein, bis es zur großen Katastrophe kommt, fast etwas antiklimaktisch auf den letzten Seiten. Aber bis dahin sollte man längst kapiert haben, dass es nicht um die Tat gegangen ist, sondern um die Beobachtungsposition. "Die Selbstmord-Schwestern" ist keine Novelle, hier wird nicht von einer unerhörten Begebenheit erzählt, hier wird das Unerhörte, Unbegreifbare daran selbst zum Thema gemacht.

Die Geschichte wird aus einer erinnernden Wir-Perspektive geschildert, und das ist mehr als ein grammatischer Taschenspielertrick, denn es gelingt Eugenides tatsächlich, seinen Erzähler unbestimmbar zu machen. Er ist ein Kollektiv der heranwachsenden Jungen, die in der Nachbarschaft der Lisbons leben, und für die die Lisbon-Mädchen Objekte endloser Beobachtung, Faszination und Erregung sind. Sie schreiben ihre Beobachtungen in Tagebüchern nieder, protokollieren kurze Gespräche und sammeln Gegenstände, die mit den Mädchen in Kontakt gekommen sind, wie Reliquien.

Die Erzähler sind besessen von dem Gedanken, den Lisbon-Töchtern nahe zu sein, zum Kern ihres Wesens vorzudringen, aber alles, woran sie sich festhalten können, sind Oberflächen. Mit dem Tod der Mädchen wird diese Unmöglichkeit der Nähe zur unumstößlichen Tatsache, doch hält das die Erzähler nicht von ihrem Vorhaben ab. Ohne es explizit auszusprechen wird deutlich, dass sie in der Zeit nach den Selbstmorden angefangen haben, von Dritten so viel wie möglich über die Schwestern herauszubekommen. Die Erzählung, die weit zurück in die Vergangenheit der siebziger Jahre blickt, gibt vor, sich scheinbar auf umfassende Recherchen, auf Gespräche mit weiteren Nachbarn, Bekannten, Lehrern und sogar den Eltern zu stützen. Die Schwestern sind den ganzen Roman über eingekreist: ganz im wörtlichen Sinne räumlich von den Nachbarsjungen in den umliegenden Häusern, vom Elternhaus selbst, das die Eltern zur undurchdringlichen Festung ausbauen, aber auch von den unzähligen Blicken und Meinungen ihrer Umwelt, von den Gerüchten und Geschichten, die um sie herum kursieren. Ein Ring aus Erzählungen, der sie auch in der Gegenwart noch immer umfängt, in dem sie noch immer eingekreist sind, und der doch nicht greifbar ist. Das Geheimnis bleibt ungelöst und auch unlösbar. Darin liegt die Genialität von Eugenides' Erzählkonstruktion, die auf unnachahmlich elegante Weise demonstriert, dass man das, was man am meisten begehrt, niemals erreichen kann.

Titelbild

Jeffrey Eugenides: Die Selbstmord-Schwestern. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Mechthild Sandberg-Ciletti und Eike Schönfeld.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2004.
251 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3498016717

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