Wissenschaftsgeschichte für Literaturwissenschaftler

Nachzeichnung und Einordnung von J. K. Wezels Anthropologiekonzept

Von Christoph Schmitt-MaaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Schmitt-Maaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Arno Schmidt Wezels Werk als "diese alten Bücher des ehrwürdigsten Gott-, Welt- und Menschenhasses" für das 20. Jahrhundert wiederentdeckte, hat sich die Literaturwissenschaft weitgehend in der von Schmidt vorgezeichneten Bahn bewegt. Die profunde, gleichzeitig aber sachliche und gut verständliche Dissertation Nowitzkis möchte nun neue Wege beschreiten: Ausgehend von der Wezel-Forschung, die auf Parallelen zwischen dem mechanistischen Menschenbild eines La Mettrie oder eines John Locke hingewiesen - diese aber kaum nachgewiesen - hat, möchte der Autor die Verzahnung von Ästhetik, Pädagogik und Anthropologie im Werk Wezels (1747-1819), insbesondere aber in dessen "Versuch über die Kenntnis des Menschen" (1784/85) herausarbeiten.

Nowitzkis Kritik scheint berechtigt, wiederholt sich doch der Hinweis auf La Mettrie fast schon stereotyp in vielen neueren Beiträgen der Wezel-Forschung. Um die (berechtigte) Annahme der Kenntnis zeitgenössischer Anthropologie bei Wezel zu rekonstruieren, breitet der Autor eine Fülle von Material aus. Durch begriffs- vor allem aber wissenschaftsgeschichtliche Darlegungen gelingt ihm die Einordnung von Wezels Menschen- und Weltbild in den Kontext der (spät-)aufklärerischen Anthropologie. Zunächst zeichnet Nowitzki den zeitgenössischen Problemgehalt der Aufklärungsanthropologie nach und referiert die Positionen Krügers, Unzers und Platners. Dadurch ist er zunächst in der Lage, die Wezel-Forschung begrifflich zu korrigieren (etwa hinsichtlich der Termini mechanistisch und mechanisch), neben diesen synchronen Darstellungen und Analysen besticht aber insbesondere die kontextuelle, problemorientierte und wissenschaftsgeschichtliche Einordnung. Sie macht Begriffs- und Vorstellungsverschiebungen greifbar und erlaubt die abschließende Einordnung des Wezel'schen Anthropologiekonzeptes.

Dessen Ausgangspunkt ist die Frage nach den Handlungstriebfedern des Menschen. Anthropologie - verstanden als die Wissenschaft vom Zusammenhalt von Körper und Seele - kann laut Wezel nur über empirisch-induktive Reflexionen und Versuche gewährleistet werden: Als "Bestimmung des Menschen" gilt ihm die "Kenntniß des Menschen." Der gewählte Weg soll mittels Selbst- und Fremdbeobachtung die Grenzen zwischen Körper und Geist, den Anteil des Körperlichen am Geist und schließlich die Art dieser Teilhaftigkeit darstellen. Wezels belletristisches Werk lässt sich aus dem Gedanken dieser Versuchsanordnung heraus begreifen und verliert so den oft konstatierten nihilistischen Beigeschmack.

So komplex die Fragestellung und die davon tangierten Probleme sind, so nachvollziehbar stellt Nowitzki dieselben dar. Vor allem die Nachzeichnung der zeitgenössischen Wissenschaftsgeschichte und die Einkreisung des eigentlichen Themas überzeugt den Leser argumentativ. Die ungeheuren Entwicklungen im Menschenbild zwischen 1750 und 1790 macht er trotz der kompakten Darstellungsweise nachvollziehbar. Dass sich das Buch nur zu einem Drittel mit Wezel beschäftigt und die vorausgehenden Teile der Einordnung dienen, ist kaum ein Manko angesichts der eingehenden Beschäftigung auch mit den unbekannteren Kleinschriften Wezels. Ein reflektierendes Schlusskapitel, dass die geleisteten Erträge noch einmal in Bezug zum Ausgangspunkt setzt, wäre sicherlich hilfreich gewesen, dafür entschädigt jedoch das Personenverzeichnis. Es wäre wünschenswert, wenn die Literaturwissenschaft diese profunde Arbeit zur Kenntnis nähme und sie auf die belletristischen Texte Wezel anwendete.

Titelbild

Hans-Peter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Widerstreit.
De Gruyter, Berlin 2003.
458 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3110177250

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