Mehr als "Sand in den Schuhen Kommender"

Ulla Hahns Auswahl deutscher Gedichte "Stimmen im Kanon"

Von Anna EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anna Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie sind wieder da, die Kanons: Marcel Reich-Ranicki hat einen Kanon deutscher Romane, Erzählungen und Dramen erstellt sowie seine persönliche Anthologie "Meine Gedichte" ediert, die Süddeutsche Zeitung-Bibliothek läuft seit 33 Wochen, und Ulla Hahn hat vor einem Jahr eine Auswahl deutscher Gedichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart veröffentlicht: "Stimmen im Kanon". Dabei betont Hahn die musikalische Bedeutung des Begriffs "Kanon", der sich aus verschiedenen Stimmen zusammensetzt. Der Band versammelt auf 368 Seiten 234 Gedichte, die Hahn - selbst erfolgreiche Lyrikerin und Prosaistin - für die ZEIT-Schülerbibliothek empfohlen hat.

Angefangen beim anonymen Verfasser von "Dû bist mîn, ich bin dîn" und Walther von der Vogelweide über Gryphius, Klopstock und Claudius hin zu Klassikern wie Goethe und Schiller, den Romantikern Novalis, Brentano und Eichendorff, weiter zu Droste-Hülshoff, Heine, Mörike und Fontane sowie schließlich zum 20. Jahrhundert bietet Hahns Anthologie einen umfassenden Überblick über die deutsche Lyrik. Unter den Lyrikern des 20. Jahrhunderts finden sich im Vergleich zum "Echtermeyer" von Benno von Wiese - einer lange gebräuchlichen Anthologie von 1954, die mehrere Neuausgaben erlebte - neben den lang Etablierten auch einige neu aufgenommene Lyriker wie beispielsweise Wilhelm Lehmann, Gertrud Kolmar, Karl Krolow, Karl Mickel und Rolf Dieter Brinkmann. Da gibt es zum Beispiel Gertrud Kolmar und ihr Gedicht "Die Fahrende" zu entdecken:

Nackte, kämpfende Arme pflüg ich durch tiefe Seen,
In mein leuchtendes Auge zieh ich den Himmel ein.
Irgendwann wird es Zeit, still am Weiser zu stehen,
Schmalen Vorrat zu sichten, zögernd heimzugehen,
Nichts als Sand in den Schuhen Kommender zu sein."

Aber wie kommt es zur Neuaufnahme von Lyrikern in einen Kanon? Der Kanon - aus dem Griechischen übersetzbar mit "Regel" oder "Maßstab" -, der sich ursprünglich auf die anerkannten heiligen Schriften bezog und erst seit Ende des 18. Jahrhunderts auf die Literatur angewendet wird, bezeichnet generell eine Auswahl literarischer Texte von mustergültigen Autoren, die eine ganze Kultur oder ein bestimmte Gruppe für wertvoll hält. Aus diesem Grunde ist er auch variabel und ändert sich mit der Zeit, sodass ehemals berühmte und anerkannte Autoren herausfallen und neue hinzukommen können. In diesem Sinne bereichernd ist im vorliegenden Band beispielsweise Hahns Hinzunahme der Ringparabel aus Lessings "Nathan" und der Beginn des "Nibelungenliedes", die sich beide im Gattungsgrenzbereich zwischen Lyrik und Epik befinden.

Der handliche Hardcover-Band der Reclam Jubiläums-Edition umfasst neben den Gedichten ein Nachwort von Hahn, ein knappes Autorenregister und ein nützliches Verzeichnis mit den Überschriften und Anfängen der Gedichte.

Möglicherweise, um die schwierige Diskussion über die Bedeutung gegenwärtiger Stimmen im aktuellen Kanon zu vermeiden, hat sich Hahn entschieden, keine Gedichte lebender Autoren aufzunehmen. So bricht die Melodie mit Brinkmann, der 1940 geboren ist und Mickel, der 2000 gestorben ist, ab. Gerade für Schüler könnten aktuelle Gedichte erfrischend sein, da hätte man sich mehr Mut bei der Auswahl gewünscht. Auch Lyriker der DDR, wie Reiner Kunze, Volker Braun, Wulf Kirsten und Sarah Kirsch fehlen. Da hätte man lieber von Goethes 19 Gedichten ein paar abknapsen können, um mehr Raum für das 20. Jahrhundert zu schaffen; dann hätten die Dadaisten beispielsweise mit mehr als einem und Paul Celan mit mehr als zwei Gedichten präsentiert werden können. Von Nachteil sind auch die fehlenden Entstehungsdaten der Gedichte, eine Chronologie ist nur an der Reihenfolge der Dichter abzulesen.

Bis die 60er Jahre hinein verstand man den Kanon als einen bildungsbürgerlichen Katalog. Ab den 70ern, im Zeichen der Ideologiekritik, wurde er stark kritisiert, insbesondere als Machtinstrument der herrschenden Gruppe, die die Texte und Traditionen kultureller Randgruppen ausgrenzt und abwertet. Gegen die Abschaffung von Kanons jedoch steht die Einsicht, dass eine gemeinsame Basisliteratur auch die Kommunikation darüber ermöglicht. Durch Diskussion und Neugier kann dieser Kanon gesprengt werden. Dazu fordert Hahn im Nachwort auf, eigene Vorlieben klar zu äußern und eigene Stimmen zu betonen, denn: diese "Sammlung ist nur ein mögliche."

Titelbild

Ulla Hahn (Hg.): Stimmen im Kanon. Deutsche Gedichte.
Reclam Verlag, Ditzingen 2003.
368 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 3150105366

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