Lob mit Fußtritten

Über den Nobelpreis für Elfriede Jelinek

Von Andrea GeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Geier

Elfriede Jelinek hat mit dem Nobelpreis die höchste und höchstdotierte Auszeichnung für Literatur erhalten. Geehrt wird eine streitbare, gesellschaftskritisch engagierte Schriftstellerin, deren Stimme wie nur wenige in der Medienöffentlichkeit gehört wird, und die mit und gegen die Medienberichterstattung ein vielgestaltiges Bild von sich als einer öffentlichen Person entwirft - nicht ohne den steten Hinweis, dass die Frau mangels Subjektstatus ja gar nicht für sich allein sprechen könne. Ein Paradoxon? Gewiss, doch ein produktives. Wie viele in Elfriede Jelineks Texten. Und damit wären wir beim eigentlichen Anlass der Ehrung, den man angesichts der Berichterstattung durchaus einmal hervorheben sollte: Jelinek wird der Nobelpreis verliehen für ein Werk, das über innovative Sprachspiele und Textverfahren - und dies in unterschiedlichen Gattungen - Kritik an der Gesellschaft übt. So liest sich auch die Presseerklärung der Schwedischen Akademie vom 7. Oktober 2004, welche die Begründung pointiert zusammenfasst: "Der Nobelpreis in Literatur des Jahres 2004 wird der österreichischen Schriftstellerin Elfriede Jelinek verliehen für den musikalischen Fluß von Stimmen und Gegenstimmen in Romanen und Dramen, die mit einzigartiger sprachlicher Leidenschaft die Absurdität und zwingende Macht der sozialen Klischees enthüllen".

Gemischte Freude

Die Schriftstellerin selbst äußerte sich nur wenig - sie fühle sich sehr geehrt, sei aber auch ein wenig erschrocken angesichts des zu erwartenden immensen Interesses der Öffentlichkeit für ihre Person - und erklärte, warum sie nicht zur Preisvergabe anreisen werde. Auch auf ihrer Homepage findet sich keine besondere Notiz zu diesem Ereignis; unter "Preise" ist nun lapidar vermerkt: "2004 Literaturnobelpreis. Verleihung am 10.12.2004 in Stockholm" (http://ourworld.compuserve.com/homepages/elfriede/). Erschrocken sind zweifelsohne auch Mitglieder der österreichischen Regierung, weshalb einige ihr Möglichstes taten, um der Preisvergabe an die viel geschmähte "Nestbeschmutzerin" das Anti-Österreich-Image zu nehmen und sie zu einem Lob der Literatur Österreichs zu erklären. Was umso nötiger schien, als sich die Kritik am "österreichlichen Menschen" (Jelinek: "Stecken, Stab und Stangl") und dem latenten bis offenen Faschismus seiner Heimat auch in der Begründung für die Preisverleihung findet. Solche Vereinnahmungsversuche sind ebenso erwartbar wie unvermeidlich. Und sie lassen sich beliebig wenden. So betont Robert Menasse: "Diese Auszeichnung ist der Sieg der Literatur über die Geistlosigkeit in unserem Land. Uns österreichischen Schriftstellern wird dieser Nobelpreis schon helfen in den Auseinandersetzungen, in denen wir stecken in Österreich." Austriakische Kämpfe, die mit der gelassenen Verwunderung kontrastierten, mit der die Preisvergabe anderswo aufgenommen wurde. Dass die Entscheidung international kein größeres Echo hervorrief, war absehbar. Jelinek wird bislang im Ausland kaum wahrgenommen, auch wenn Übersetzungen ihrer Prosatexte und Stücke vor allem in England, Frankreich, den Niederlanden und Italien vorliegen. Doch warum blieb es auch hierzulande so auffällig ruhig? Kein wütender Aufschrei, nirgendwo. Auch wenn Jelinek schon vorher zu den viel geehrten Autoren gehörte, die unter anderem mit dem renommierten Büchner-Preis ausgezeichnet wurde, gab es das doch noch vor kurzem: Jelinek, die Skandalautorin - und nun der Nobelpreis! An den Artikeln über die Preisvergabe lässt sich ablesen, dass nicht nur die Freude der Schriftstellerin gemischt war, wie es in den Kommentaren zu Jelineks Stellungnahmen hieß, sondern ganz offensichtlich auch die der Kritik.

Die nationale Presse bot vor allem Kurztrips durch das Œuvre: Jelineks Werk kreise um Beziehungen zwischen den Geschlechtern und innerhalb der Familienbande, um Sexualität, Macht, Gewalt, Faschismus und Tourismus, irgendwie komme alles immer gleichzeitig vor mit leichten Akzentwechseln, sogar mal Ausflüge in die Philosophie, die Stücke, nun ja, skandalös oder auch geschmacklos inszeniert, man erinnerte an Skandale.

Taucht man aus der Lektüre dieser Artikel wieder auf, reibt man sich verwundert die Augen. Wofür erhält Jelinek den Nobelpreis? Dafür, dass sie kritisch ist? Die zentrale Botschaft der Kommentare lautet: Jelineks Texte üben eine - teilweise überzogene, typisch österreichische - Gesellschaftskritik, insgesamt betrachtet irgendwie schon lobenswert; manchmal klingt dazu durch: aber irgendwie angestaubt, etwas totgelaufen, die Masche. Man vermittelt deutlich, dass das Provokationspotenzial ihrer Texte, das man früher stets lustvoll angeprangerte oder lobte, mittlerweile konsensfähig sei. Kein Grund zur Panik! lautet das neue Motto der Kommentare. Der Preis selbst wird als Zeichen dafür gelesen, dass Jelinek längst im Establishment angekommen ist. Damit ist aber nicht gemeint, dass sie im deutschsprachigen Raum schon vorher eine Star-Autorin war. Vielmehr sind Versuche zu beobachten, diese für die meisten völlig überraschende Vergabe in spöttischem Ton kleinzureden. Wie ein roter Faden durchzieht die Berichterstattung die Frage, ob Jelinek den Nobelpreis überhaupt verdient habe. Dabei kommen einige klägliche Ja- und viele Ja-Aber-Antworten heraus. Vordergründiges Lob, versehen mit ebenso vielen Fußtritten. ("Es tut mir leid, daß Sie das alles ausgerechnet an mich verschwendeten. Bei jemand anderem hätte ich es noch verstanden, aber bei mir?! Wer bin ich denn schon? Auserlesen bin ich nicht, eher schon ausgelesen, noch bevor ich unter Ihren Druck geriet. Ich verstehe Sie übrigens gut, bin ja selbst nicht gänzlich ohne Ehrgeiz." (Jelinek: "Ein Sportstück")

Alte Hüte, aufgeputzt

So recht scheint niemand der Schwedischen Akademie eine solche Wahl zuzutrauen, weder Befürworter noch Gegner: Dass Jelinek den Preis bekommt, ist ein grandioses Missverständnis. Wer so spricht, will die geschätzte Avantgarde-Autorin vor den Vereinnahmungen des Mainstreams retten. Dem Komitee wird dabei unterstellt, es habe sich gewissermaßen selbst ausgetrickst und aus Versehen eine Autorin erkoren, die radikaler sei als der Nobelpreis erlaube.

Die andere Seite schlägt, wenn es platt zugeht, erst einmal mit dem Quotenargument zu. Es ist zwar der Nobelpreis für Literatur, doch im Grunde - der Ton wird vertraulicher, der Kritiker nimmt uns sanft beiseite - ist es doch ein Preis der political correctness. Letzteres kommt gerne als behauptete Selbstverständlichkeit daher: "Zunächst ist die Preisvergabe, keiner bestreitet das [!], ein Quotenurteil" (Matthias Matussek). Was eigentlich insinuiert: nur ein Quotenurteil. Diese Abqualifizierung entsteht zum Teil aus einfacher Enttäuschung: Andere wären doch weit preiswürdiger gewesen! Die Missmutigen nehmen die Vergabe zum bloßen Anlass, andere Schriftsteller zu nennen, seien es Philip Roth oder Friederike Mayröcker (ist doch auch eine Frau - soll heißen: damit wäre doch sogar die Quote erfüllt gewesen). Wie stark das Quotenargument zur Wahrnehmung des Nobelpreises gehört, zeigen gerade auch die Lobeshymnen, die vielfach Verteidigungsreden ähneln: "Als ich die Nachricht vom Nobelpreis für die Jelinek erhielt, war ich zu Tränen gerührt. Das ist eine der besten Entscheidungen des Nobelpreiskomitees. Jeder irrt sich, wenn er meint, das war die Frauenquote. Die Elfriede Jelinek ist ja doch die Kassandra der zeitgenössischen Literatur und des deutschsprachigen Theaters" (Claus Peymann). Wer mit dem Quotenargument bestreitet, dass Jelinek den Preis wirklich verdient habe (dass unter Quotengesichtspunkten viele andere Schriftstellerinnen zur Wahl gestanden hätten, bleibt natürlich außen vor), würdigt auch den Nobelpreis selbst herab, was aber niemanden zu stören scheint. Aber im Zuge solcher Diffamierungen wird noch mehr verhandelt. Dem Lob auf die Gesellschaftskritik in Jelineks Werk (natürlich mit Einschränkungen) folgt auf dem Fuße eine disqualifizierende Bemerkung zur literarischen Qualität der Texte. Implizit oder auch explizit werden dabei alte Frontstellungen aktiviert, nämlich der Gegensatz von Autonomie-Ästhetik und politischer Literatur, und diese in verschiedenen Varianten serviert:

Anstatt über ästhetische Verfahren spricht man konsequent nur über die Themen der Texte und über Jelineks "Mut", ihre "Radikalität", über ihre ungeheure "Wut". Mutige Kritik und Verve, das kann man loben, ohne sich etwas zu vergeben, und es fällt leicht, denn man hat es schon oft gesagt. Dazu passen lieb gewonnene Anmerkungen zu autobiografischen Elementen der Texte (hitverdächtig: "Die Klavierspielerin"). Wenn überhaupt, dann wird von Ästhetik nur kurz und nebulös gehandelt: "Ihre größte Begabung ist neben ihrer irrlichternden [!] Sprachmusikalität sicherlich ihre unerschütterliche Menschenfeindschaft." (Iris Radisch)

In der Beliebtheitsskala sehr weit oben rangiert auch der Vorwurf des Ewig-Gleichen, des Ermüdenden, der fehlenden Innovationskraft. Gerhard Stadelmaier meint es auf den Punkt zu bringen: "Elfriede Jelinek ist eine Dramatikerin, die, wenn sie die Welt anschaut, nie dazulernen möchte." Unter dieser Devise lassen sich sowohl die immer gleichen Themen der Jelinek als auch ihre literarischen Verfahrensweisen kritisieren. Zwei Fliegen, eine Klappe. Da ist vom "Hamster im Laufrad" die Rede und davon, dass "vor den immergleichen Kulissen in standardisierter Kostümierung unter wechselnden Titeln vor einer eingeschworenen Gemeinde das immergleiche Stück" aufgeführt werde (Radisch). Oder vom "Wortequirlen": "Alles verquirlt sich mit allem, Ressentiments, Psychogurren, surreale Arie, hassendes Lodern, Vulgarität." (Matussek) Auf Dauer also sehr ermüdend, diese Jelinek. Die erfreuliche Botschaft an die Leser lautet: Kennt man nur ein Prosa- oder ein Theaterstück, kann man schon gut mitreden; es bleibt ja eh immer alles gleich. ("Hab ich das nicht schon mal gesagt? Macht nichts." Jelinek: "Erlkönigin").

Beliebt ist auch das Spiel "Jelinek gegen Jelinek". Man lobe wahlweise die frühe oder späte Jelinek, die Prosa- oder Dramen-Jelinek. Dass dabei schon das Lob nicht uneingeschränkt ist, versteht sich von selbst. So hebt etwa Matussek anerkennend den angeblichen Antifeminismus in "Die Klavierspielerin" hervor, weil Jelinek in diesem frühen, erfolgreichen Roman auch Frauen als zur Gewalt fähige Subjekte vorführe - als ob feministisches Denken umgekehrt darin bestehe, Frauen für genuin bessere Menschen zu halten. Dass die Frau Opfer, aber dabei nicht unbedingt gut ist oder immer recht hat, hat Jelinek nach der "Klavierspielerin" keineswegs vergessen. Dass diese Erkenntnis aber Geschlechterkampf-Szenarien mit geschlechtsspezifischen Opfer-Täter-Verhältnisses nicht einfach obsolet macht, will manchem Kritiker nicht einleuchten. Weil es ja nur heißen kann, dass Jelinek eine wichtige Entwicklung verpasst und eben nicht dazugelernt hat ("paula nimmt nur auf, sie verarbeitet nicht. wie ein schwamm, der nie ausgedrückt wird. [...] wie soll paula bloß was lernen? durch schaden natürlich. wodurch man klug wird." Jelinek: "Die Liebhaberinnen").

Aber auch umgekehrt wird ein Schuh daraus: Man kann gerade mit dem Blick auf die Ästhetik Jelinek ganz gut abkanzeln, diesmal hat sie allerdings irgendwann vielleicht etwas gelernt: "Für ihre frühen Dramen kann Elfriede Jelinek den Nobel-Preis nicht erhalten haben. Damals versuchte sie noch, dem Theater zu geben, was das Theater verlangte - Dialoge, Figuren, Handlung, Psychologie. Die Werke sind engagiert, aber in ihrem Sprachgestus von überraschender und ärgerlicher Beliebigkeit. Was gab also den Ausschlag?" (C. Bernd Sucher) Diese Frage wird zum Ansatzpunkt des Lobes, die sich auf "Die Textflächenfrau" (so der Titel des Artikels) bezieht. Sucher stellt die aus Sprache bestehenden Textsubjekte Jelineks den frühen Figuren entgegen; "wenn (!)" sie so schreibe, dann könne sie sich aus ihrer "Kreisdramaturgie" befreien, die ihre frühen Stücke geprägt habe: "Wenn Elfriede Jelinek nicht zuerst eine Figur erfindet, der sie dann beim Schreiben Gedanken, Gefühle, Vorurteile, Kämpferattitüden zuordnet, sondern genau gegensätzlich arbeitet, also über die Sprache eine Figur schafft, dann ist die Jelinek groß." Übersetzt: So richtig gelingen will es ihr nur selten.

Die Diagnose: (eigentlich) kein Talent, vielleicht ein paar gelungene kleinere Texte, klingt in vielen Artikeln an. Nicht jede/r äußert es so offenherzig wie Marcel Reich-Ranicki: "Das literarische Talent der Elfriede Jelinek ist, um es vorsichtig auszudrücken, eher bescheiden." Da der Kritiker nie einen Hehl daraus gemacht hat, dass ihm Jelineks Texte nicht gefallen, ist dieser Tenor wenig überraschend; dass er mit dem Titel "Die missbrauchte Frau" versehen wurde, mutet allerdings ironisch an. Denn er charakterisiert eben nicht nur ein zentrales Thema der Jelinek'schen Texte, sondern auch der Kritik.

Ein weites Feld, auf dem die Talentfrage abgehandelt wird, ist das der "Avantgarde". Hier treten ganz verschiedene Spielarten in Erscheinung. Eine der elegantesten ist die Verknüpfung von "Avantgarde" und Provinzialität bei Radisch: Mit dem Preis werde kein "großes Festspielhaus", sondern eine "kleine, schlecht ausgestattete Avantgardebühne" geehrt. Provinzliteratur für eine kleine "Gemeinde". Da liegt die Frage "Ist es überhaupt Avantgarde?" natürlich nahe, und die Antwort findet sich prompt: "Keine Avantgarde also, sondern eine ziemlich abgelatschte Feminismus-Front" (Matussek). Gesinnungsliteratur also. Dies verknüpft sich nahtlos mit der Nutzung des Begriffs der engagierten Literatur, der sich ähnlich fungibel - und vor allem mit dem gleichen denunzierenden Effekt - verwenden lässt. Ein besonders schönes Beispiel dafür ist Reich-Ranickis Artikel: Er schlägt Jelinek der engagierten Literatur nicht zu, um diese zu diffamieren. Ganz im Gegenteil möchte er sie gegen bekannte Vorwürfe - sie sei notwendig langweilig und poetisch minderwertig, weil sie Botschaften transportieren müsse - in Schutz zu nehmen. Dieser Generalverdacht begegnete zuletzt im deutsch-deutschen Literaturstreit nach 1989 und den emphatischen Abrechnungen mit der Nachkriegsliteratur in West- und Ostdeutschland: "Die Gesinnungsästhetik [...] ist das gemeinsame Dritte der glücklicherweise zu Ende gegangenen Literaturen von BRD und DDR. Glücklicherweise: Denn allzu sehr waren die Schriftsteller in beiden deutschen Hälften mit außerliterarischen Themen beauftragt, mit dem Kampf gegen Restauration, Faschismus, Klerikalismus, Stalinismus etcetera." Reich-Ranicki spielt auf diese Debatte an, wenn er schreibt, Jelinek sei eine "gesellschaftskritische Schriftstellerin, die der, wie viele meinten, längst überlebten oder überwundenen engagierten Literatur zu neuen Ehren verholfen hat." Doch im gleichen Atemzug, in dem er Jelinek zur Verteidigung der engagierten Literatur nutzt, denunziert er die ästhetische Qualität ihrer Texte, indem er väterlich-schulterklopfend in die alte Kiste mit der Aufschrift "Verständigungstexte" greift: Darin könnten "die Zukurzgekommenen und Benachteiligten, Frauen zumal, ihr Leben wieder erkennen" (Ulrich Greiner). Literatur also von Frauen für Frauen und Minderheiten, gut gemeint, aber unspannend, ästhetisch nicht ambitioniert. Das sollen Jelineks Texte sein? Ganz abgesehen davon, dass Reich-Ranicki mit seinen Volten die engagierte Literatur nicht überzeugend zu retten vermag: Wir sind hier wieder bei der Gesellschaftskritik, dem Inhalt ohne Form, der Literatur als bloßer Aufklärung über gesellschaftliche Missstände. Eine kuriose Pointe solcher Zuschreibungen ist, dass Matussek zur Herabsetzung der ästhetischen Qualität von Jelineks Texten ausgerechnet Grass, den letzten deutschsprachigen Nobelpreisträger vor Jelinek, anführt. Denn dieser wurde (zusammen mit Christa Wolf) im Literaturstreit als einer der prominentesten Vertreter der angeblich poetisch minderwertigen engagierten Literatur gegeißelt, man denke nur an die Polemiken von Bohrer und Greiner. Verwirrt? Zu Recht. Unabhängig davon, welche Etiketten verwendet werden. Sie alle dienen dem Versuch, eine herausragende Schriftstellerin auf Normalmaß zu stutzen. Nur zur Erinnerung: Es geht um die Verleihung des Nobelpreises.

Keine Apologie

Hat man sich durch die Berichterstattung gearbeitet, fällt die Wahl schwer: Soll man Jelinek jetzt als Avantgarde-Schriftstellerin verteidigen und sich der Gefahr aussetzen, in den alten Dualismus Avantgarde vs. engagierte Literatur zurückzufallen? Oder doch lieber die ästhetische Innovation mit dem Ziel herausstreichen, eben damit die engagierte Literatur zu verteidigen? Soll man beweisen, dass Jelineks Texte auch für ein internationales Publikum taugen, um sie vor dem Provinzialismus-Verdacht zu retten? Aber wer hat überhaupt Lust, sich mit den Verästelungen dieser Frontstellungen zu beschäftigen, wenn sich die Zielsetzungen der Kritik so gleichen. Reicht es nicht, die Fußtritte aufzuzeigen? Muss man beweisen, dass Jelinek preiswürdig ist?

Zu reden wäre über zu vieles: Über das Projekt der "Entmythologisierung" und eine Programmatik der "Seichtheit", über Wiederholung und Intertextualität als Strukturprinzip, über Lust an der Übertreibung jenseits der Schmerzgrenze, über Trivialität und Alltagsmythen, Ironie, Parodie und die Lust am Kalauer, über Autorschaft, die mit der Gestik des Verschwindens spielt, über Sprachbeherrschung und Sprachüberflutung, vor allem aber über die Entwicklung einer Schriftstellerin, die sich eben nicht nur mit der Welt, sondern zuallererst mit anderen Texten aus vielfältigen Bereichen und mit dem Schreiben auseinander setzt und dabei stets die formalen Möglichkeiten von Genres und Gattungen ausreizt und sprengt. Entscheidet man sich dafür, nur einmal die beliebtesten Vorwürfe aufzugreifen, sollte man vielleicht mit der angeblich selbst trivialen, da sich immer wiederholenden Abrechnung mit denselben Alltagsmythen und Ideologien beginnen. Jelinek: "ich spreche von den dingen die sich in den begriffen einnisten: gewisse nebulöse kenntnisse des realen." ("Die endlose Unschuld", 1970). Die Beschäftigung mit "trivialmüten" (Jelinek) ist von Beginn an mit dem Material der Darstellung, der Sprache verbunden. Ob Alltagskultur, Medientrash oder Philosophie, Jelinek nimmt Klischees und Sprachcodes auf und verhandelt und verwandelt sie auf eine Weise, in der sie sich selbst entstellen. Dass es dabei aber nicht nur um einen deiktischen Akt der Bloßstellung, sondern um eine Arbeit an und mit der Sprache geht, die ebenso leid- wie lustvoll ist, unterscheidet Jelineks Verfahren von einer Ideologiekritik, die sich nur an den Dingen abarbeitet. Jelinek schreibt Texte, in denen Subjekte mit den "Mythen des Alltags" (Roland Barthes) kämpfen, in die sie verstrickt sind und sich - blindwütig, ohnmächtig, wissend oder pervers-genießerisch - verstricken lassen. Dann ließe sich über die Empfindung sprechen, dass es aus Jelineks Texten keinen Ausweg gibt, die vielfach als Versessenheit auf das Negative und mit Blick auf die Wiederholung als "ermüdend" beschrieben wird. Doch entsteht sie nicht nur aus unendlich scheinenden Wiederholungen, sondern vielmehr aus den Textverfahren, die eine ganz zentrale Erkenntnis umsetzen: Ohne Jelinek in irgendeiner Weise auf den Punkt bringen zu wollen, lassen sich doch einige Fragen aufzeigen, die ihr Schreiben immer wieder motivieren. Wer spricht? Wer darf sprechen? Wer spricht über wen? Wer nimmt sich die Macht, über andere zu sprechen? Wem steht welche Sprache zur Verfügung? Wie können sich Subjekte artikulieren? Es geht um Deutungsmacht - im Kontext von Ideologemen, Theorien und Institutionen - und um Handlungsfähigkeit. Dabei ist die Erkenntnis zentral, dass man sich nicht einfach gegen diskursive Zwänge stellen kann, weil diese einem meist nicht offen entgegentreten. Vielmehr sind sie nicht nur mittels, sondern in den Subjekten selbst wirksam; und das gilt vor allem für die Sprache, über die Subjekte zu verfügen glauben. Tatsächlich bestehen die Subjekte bei Jelinek aus Sprache, die sie eben nicht einfach handhaben können, um sich zu artikulieren. Kein gemütliches "Schön bei sich sein" (Jelinek: "Wolken. Heim."). Das Subjekt als Schnittpunkt von Diskursen, in Jelineks Sprachfluten wird dieses Bild plastisch greif- und erfahrbar. Sie drückt mit sprachlichen Mitteln wie nur wenige andere aus, dass es keinen Sprung aus Diskursen geben kann; man kann nur in ihnen agieren. Dass sie keine Predigerin der gelingenden Befreiung ist, sondern ihre Texte eher pessimistische Züge tragen, ist keine Frage einer rein negativen Weltsicht, sondern Effekt dieser Einsicht.

Doch in all diesen pauschalen Beschreibungen, die auf pauschale Zuschreibungen reagieren, ist das Wichtigste noch nicht gesagt: Es lohnt sich, sich mit einzelnen Texten zu beschäftigen. Natürlich wiederholen sich collageartige Textverfahren, das Spielen mit Kalauern u. ä. Trotzdem haben diese Elemente in unterschiedlichen Texten durchaus unterschiedliche Wirkungen. Die trivialisierende Lektüre politisch-philosophischer Diskurse wie in "Wolken. Heim.", ein Stück ohne Figuren und einem Sprecher-"Wir", hat andere Effekte für Leser und Hörer als der Haider-Monolog "Das Lebewohl", obwohl beide Male gleichartige Elemente - politische Ideologie, "Blut und Boden"-Metaphoriken, Heimat - vorhanden sind und man auch beide Male "Intertextualität" rufen könnte.

Vielleicht lautet die entscheidende Frage ja auch nur: Warum ist eigentlich niemandem danach, sich darüber zu freuen, dass so kurz nach Grass wieder eine Vertreterin der deutschsprachigen Literatur geehrt wird? Weil niemand den Nobelpreis mehr ernst nimmt? Sollte man vielleicht eher ihn zu retten versuchen? Also statt einer Apologie für die Preisträgerin eine für den Nobelpreis?

Dass öffentliche Dichter-Feiern nicht nur dazu dienen, einen Dichter zu feiern, ist eine Binsenweisheit, die gerade im beginnenden Schiller-Jahr unübersehbar ist. Es geht mindestens so sehr um die Selbstinszenierung derer, die feiern, wie derer, die davon berichten. Man will am Glanz der Feierlichkeiten teilhaben und/oder seine ganz eigene Sicht auf den/die DichterIn etablieren. Das gilt ebenso für Preisverleihungen an lebende Autoren, da auch mit der Ehrung eines (bisherigen) Gesamtwerkes die Frage "Was bleibt?" gestellt wird, die wohl treffender heißt: "Was bleibt für uns?" Egal, wer feiert oder wer sich darüber mokiert: Ein Werk und sein(e) Autor(in) werden besichtigt, bewertet, eingeordnet, dabei oft handlich gestutzt.

Es geht also selbstverständlich um Deutungsmacht. In Jelineks Fall aber werden, und das macht die Sache so ärgerlich, Kämpfe von vorgestern ausgefochten, eine gute alte l'art pour l'art-Ästhetik gegen eine vermeintliche Gesinnungsliteratur ausgespielt. Dass Jelinek dazu eine denkbar wenig geeignete Kandidatin ist, fällt nur denjenigen auf, die die Kriterien dieser Zuschreibungen hinterfragen. Ursachen für diese Frontstellungen gibt es viele. Die Debatte zeigt aber vor allem, dass die Beißreflexe, die im deutsch-deutschen Literaturstreit vom Thema "Engagierte Literatur" ausgelöst wurden, noch gut funktionieren.