Der versöhnende Friedensmacher

Zum 75. Geburtstag des Nobelpreisträgers Imre Kertész am 9. November

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"In Ungarn bin ich jetzt zum Nationalhelden geworden. Ich muss diese Rolle annehmen, das Land ist in einer hoch komplizierten Situation. Wir sind gespalten, Liberale und Nationalisten stehen sich unversöhnlich gegenüber. Meine Aufgabe heißt jetzt: Frieden machen", bekannte Imre Kertész im letzten Jahr in einem Interview. Ein großer "Versöhner" ist der ungarische Autor immer gewesen. Seine nach der Nobelpreisverleihung vor zwei Jahren enorm gewachsene Popularität genießt Kertész, der die Schattenseiten des Lebens aus eigener Erfahrung kennt, in vollen Zügen und kommt vielen internationalen Einladungen nach. Vor einem Jahr hielt er die Festrede bei der zentralen Feier zum Tag der Deutschen Einheit in Magdeburg.

"Kertész beschreibt in seinem Werk die Zerbrechlichkeit des Einzelnen in einem barbarischen Geschichtsverlauf", hieß es 2002 in der Begründung des Stockholmer Nobelpreiskomitees. Der ungarische Schriftsteller Imre Kertész ist ein querdenkender Individualist, der sich - weder literarisch noch politisch - in die gängigen "Schubladen"-Kategorien einordnen lässt. Er hat sich als ehemaliger KZ-Häftling stets vehement gegen den "widerwärtigen Stempel des Opfers" gewehrt und immer wieder beharrlich seine ureigene Form des intellektuellen Nonkonformismus verteidigt: "Ich bin ein anderer Jude. Was für einer? Ein Keinerlei-Jude. Schon seit langem suche ich weder Heimat noch Identität. Ich bin anders." Kertész' "geistige Heimat" liegt in der Literatur.

Spätestens seit dem Erfolg seines "Roman eines Schicksallosen" (dt. 1996) steht sein Name in einer Reihe mit denen großer europäischer Romanciers. Erst zwanzig Jahre nach der Erstveröffentlichung in Ungarn erschien dieser erschütternde Auschwitz-Roman, mit dessen Niederschrift der Autor schon 1960 begonnen hatte, in deutscher Übersetzung. Ein Thema, das ihn zeitlebens beschäftigt hat: "Gegen mich wird vorgebracht, ich schriebe nur über ein einziges Thema (nämlich Auschwitz) und sei somit nicht repräsentativ für Ungarn."

Imre Kertész, am 9. November 1929 in Budapest geboren, wurde 1944 als Jugendlicher nach Auschwitz deportiert. Er überlebte die für viele Mithäftlinge todbringende Rampe von Birkenau. Nach seiner Rückkehr nach Budapest arbeitete Kertész zunächst als Journalist einer später von den Kommunisten übernommenen Zeitung, dann begann er Romane, Erzählungen, Essays und Theaterstücke zu schreiben und machte sich überdies als Übersetzer von Nietzsche, Sigmund Freud, Hofmannsthal, Canetti und Wittgenstein rasch einen Namen.

Im Mittelpunkt seines literarischen Werks steht die Trilogie, die Kertész mit dem "Roman eines Schicksallosen" (1975) eröffnete und mit den Romanen "Fiasko" (1988) und "Kaddisch für ein nichtgeborenes Kind" (1989) fortsetzte. Der Zeitzeuge des Grauens vermeidet es, allzu stark aus dem Blickwinkel der Opfer zu schreiben, sondern bevorzugt als Erzählperspektive eine Art höhere moralische Instanz - inspiriert von einem ideologiefreien Humanismus.

Zuletzt ist im Suhrkamp Verlag der schmale Roman "Liquidation" (2003) erschienen. Darin steht - man darf autobiografische Parallelen vermuten - ein ungarischer Intellektueller im Zentrum, der mit dem Verlust der alten politischen Strukturen (der Fall des "Eisernen Vorhangs") auch die Bodenhaftung im Alltag verliert.

Imre Kertész' Bücher eignen sich nicht für die schnelle Lektüre zwischendurch, denn sie stecken voller hintergründiger Anspielungen, listenreicher Verschachtelungen und nur mäßig getarnter Querverweise auf frühere Werke. "Fiasko" zu lesen, ohne den "Roman eines Schicksallosen" zu kennen, dürfte ein schwieriges Unterfangen sein, denn Kertész Gesamtwerk kommt wie ein gigantisches Puzzle daher. Fehlt ein Mosaiksteinchen, fügt sich der Rest nicht zu einer komplexen, überschaubaren Einheit.

Bei Rowohlt erscheint in diesen Tagen als kleine Geburtstagsgabe die 1977 veröffentlichte, bisher nicht ins Deutsche übersetzte Erzählung "Detektivgeschichte."

Titelbild

Imre Kertész: Kaddisch für ein nicht geborenes Kind. Roman.
Übersetzt aus dem Ungarischen von György Budo und Kristin Schwamm.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999.
157 Seiten, 7,90 EUR.
ISBN-10: 3499225743

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Imre Kertész: Fiasko. Roman.
Übersetzt aus dem Ungarischen von György Buda und Agnes Relle.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2001.
443 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-10: 3499229099

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Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Christina Viragh.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2002.
286 Seiten, 8,90 EUR.
ISBN-10: 349922576X

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Imre Kertész: Liquidation. Roman.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Christina Viragh.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
141 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3518414933

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Titelbild

Imre Kertész: Detektivgeschichte.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Angelika und Peter Máté.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2004.
138 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3498035258

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