Thanatografie

Zum Tod von Jacques Derrida

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die These vom "Tod des Autors" gehört zu den meistzitierten, folgenreichsten und umstrittensten Sätzen der neueren Literaturtheorien. Der theoretische Prozess von Friedrich Nietzsches "Ich als Wortspiel" oder Charles Baudelaires "Verdunstung und Verdichtung des Ich" über die Vorstellung einer "écriture automatique" im Surrealismus bis hin zu Roland Barthes' "mort de l'auteur" ist mittlerweile seinerseits zum Gegenstand theoretischer Reflexionen geworden, die eine grundlegende Kategorie hermeneutischen Textverstehens betreffen. In derselben Zeit aber, in der Dekonstruktion, Poststrukturalismus, Diskurs- und Systemtheorie den Begriff des Autors zunehmend als anachronistisch erscheinen ließen, erfuhr der Totgesagte vor allem in literarischen Texten eine bemerkenswerte Revision. Bis heute erzeugt diese literaturtheoretische Setzung eine spannungsvolle Konstellation: Bezogen auf den Schreibakt behauptet sie - im Anschluss an Barthes' Konzept der "Hyphologie" - die paradoxe Selbstauflösung des Subjekts im produktiven Gewebe des kulturellen Textes. Bezogen auf die öffentliche Funktion historisiert und widerruft sie das aufklärerische Individualitäts- und Legitimitätsmodell, hält aber, wie es etwa bei Michel Foucault zu beobachten ist, am Begriff des Autors als einer Systemstelle in der Ordnung des Diskurses fest. Zu fragen wäre in dekonstruktiver Lesart deshalb eigentlich weniger nach dem 'Verschwinden' oder einer platten 'Toterklärung' des Autors als vielmehr nach Re-Inszenierungen von dessen Abwesenheit im Text, was entschieden etwas anderes ist. Bei Foucault heißt es in "Qu'est-ce qu'un auteur" (1969) dementsprechend, die Beziehung des Schreibens zum Tod äußere sich auch "in der Verwischung der individuellen Züge des schreibenden Subjekts. Mit Hilfe all der Hindernisse, die das schreibende Subjekt zwischen sich und dem errichtet, was es schreibt, lenkt es alle Zeichen von seiner eigenen Individualität ab; das Kennzeichen des Schriftstellers ist nur noch die Einmaligkeit seiner Abwesenheit; er muß die Rolle des Toten im Schreib-Spiel übernehmen".

Die kurze Formel vom Tod des Autors resümiert die emphatische (Wieder-)Entdeckung einer unabschließbaren und unhierarchisierbaren Pluralität des Sinns - im Text, in der Welt, in der Welt-als-Text. Mit der kategorialen Differenzierung zwischen dem Schreib-Subjekt und der Schrift verschwindet nicht nur der Autor, sondern mit ihm, in dem Maße, in dem der Begriff der "Schrift" sich auf alle kulturellen Zeichensysteme ausgedehnt hat, zugleich das Subjekt, die Person, der Mensch. Dass der Text einem Gewebe gleiche, das sich fortwährend selbst bearbeite, ist zwar eine faszinierende Metapher für die konsequent zu Ende gedachte Intertextualitätstheorie, aber eine Beschreibung dessen, was sich etwa in Barthes' eigenem Schreiben vollzieht, ist es nicht. Anschaulich wird dieser Sachverhalt - und wird seine literarische Reichweite - an einem Text, der sich als Versuch eines Sich-Schreibens präsentiert, in dem das schreibende Ich vom Schreiben zum Verschwinden gebracht wird: dem wunderbar paradoxen Unternehmen einer postmodernen Autobiografie. Die seit der Romantik nie verstummte, seit Nietzsche und Stéphane Mallarmé vollends unüberhörbar gewordene Frage, was das denn für ein "Ich" wäre, das "sich schriebe", wird auch in Barthes' "Roland Barthes par Roland Barthes" (1975) noch einmal poetisch produktiv - nur eben ungleich theoretisch reflektierter und ästhetisch raffinierter als in anderen Autobiografien. In diesem Text macht Barthes nun den ebenso irritierenden wie faszinierenden Versuch, das Wissen der Theorie von der Nichtigkeit des Subjekts in der eigenen Erfahrung wiederzufinden. Er schreibt also eine Autobiografie, die das autobiografische A priori leugnet, demzufolge das Ich des Textes einen identischen Referenten in der Wirklichkeit hat: "dans le champ du sujet, il n'y a pas de référent". An dessen Stelle tritt die "Inszenierung eines Imaginären".

Barthes erzählt "sich" in demonstrativ diskontinuierlichen, dem scheinbaren Zufallsprinzip von alphabetisch sortierten, also der Ordnung der Schrift folgenden, Aperçus, Erinnerungsfetzen, Stichwörtern, und im Wechsel von erster und dritter Person. Hatten autobiografische Erzählungen von jeher schon unter dem Gesetz der narrationslogischen Trennung von erzählendem und erzähltem Ich gestanden, so verbindet Barthes die pointierte Ausstellung dieses Sachverhalts mit dem Postulat der Textualität des Subjekts. Er ist so, als Schreiber dieses Textes, nicht identisch mit dem Schreiber, über den er schreibt, sondern er liest diesen Protagonisten, der er selber ist, als fragmentarischen und eben deshalb "schreibbaren" Text: Als Leser seiner selbst bringt er den "Autor" hervor, dessen Gestalt so am allerdings unerreichbaren Ende dieser Lektüre vollkommen dastehen könnte. Was "Roland Barthes" zu einem außergewöhnlichen Buch macht, ist die Tatsache, dass der Text hier zum Ort der Auseinandersetzung des Ich mit sich selbst wird. Der Schreibende wehrt sich gegen das, was Ich schreiben möchte, und er stützt sich dabei auf die negative Theorie des Subjekts.

Was Barthes' ironische Poesie erzeugte, war nun alles andere als ein teleologisch gerundetes Lebensbild, öffnete sich vielmehr in einen unendlich fortsetzbaren Text; aber gerade so zeigte es sich als ein postmodernes Selbstporträt von großer Eindringlichkeit, Anschaulichkeit und ästhetischer Stringenz. Nicht nur durch seine literatur- und kulturtheoretischen Ansätze, sondern auch durch die ästhetische Gestaltung seiner Texte hatte Roland Barthes in seinem Spiel mit den Grenzen zwischen wissenschaftlichem Metatext und literarischem Text erheblichen Einfluss auf einen anderen französischen Philosophen, der sich 1967, 37-jährig und bis dahin gänzlich unbekannt, mit einem ganz der linguistischen Mode jener Jahre verpflichteten Werk, "De la grammatologie", im Kreis ebenjener Lévi-Strauss, Lacan, Foucault und Barthes zu etablieren suchte, die damals die Pariser intellektuelle Szene beherrschten: der in Algerien geborene Jacques Derrida. Das Misstrauen gegen dessen Thesen war allerdings so stark, dass sich der Anthropologe Lévi-Strauss die Interpretation durch den Philosophen Derrida verbat, und auch das Verhältnis zu Foucault war zunächst von schroffer Ablehnung gekennzeichnet.

Es war daher vor allem Barthes' Inszenierung abwesender Autorschaft, die Derridas Überlegungen zur Interdependenz von Schrift und Tod beschleunigten und bei ihm einen anti-akademischen Gestus provozierten, mit der philosophischen Tradition eher spielerisch umzugehen. Manche der großen Texte Derridas - neben "Glas" und "La carte postale" vor allem "La dissémination", die "Marges de la philosophie" und der für die deutsche Literaturwissenschaft bis heute traumatische Text "Schibboleth. Pour Paul Celan" - gleichen eher ästhetischen Gebilden als wissenschaftlichen Abhandlungen und transgredieren die Grenze zur künstlerischen Produktion der Zeit. Ansichtig wird in Derridas Texten ein hochkomplexes Gewebe aus Literatur, Kunst, Psychoanalyse, Bildern, Textfragmenten und dekonstruktiven operationes textuales des Zerlegens und Zusammensetzens von Textelementen, von Bedeutungen und Zeichen, das weder literaturwissenschaftlich, noch psychologisch, linguistisch oder gar philosophisch zu definieren wäre und vor allem ohne jeglichen Ausblick auf ein Ende auszukommen hat. Erstaunlich dabei ist, dass kein Text Derridas - von "La voix et le phénomène" bis "Voyous", von "De la grammatologie" bis "Le monolinguisme de l'autre" - einem anderen seiner Texte ähnelt; jeder ist einzigartig, fordert und fördert er doch ein Denken, das keine gesicherte Ausgangsbasis hat und sich in die "Falten", "Nischen" und "Ritzen" einschreibt. Aber alle diese Texte - als "Randgänge" geschrieben - sind erfüllt von dem gleichen Experimentiertrieb, der "Lust am Text", die mit ihren ungeregelten Antrieben ernst macht.

Worüber ließe sich aber ernsthafter sprechen als über den Tod? Viele Texte Derridas sind, wie ich meine, Schreiben zum Tode, explizit wie implizit: primär jedoch die Nachrufe auf Roland Barthes ("Die Tode von Roland Barthes"), Emmanuel Lévinas ("Adieu"), Maurice Blanchot ("Bleibe") und zuletzt noch auf Hans-Georg Gadamer ("Der ununterbrochene Dialog: zwischen zwei Unendlichkeiten, das Gedicht"). Deutlich wird, dass Derrida in diesen Texten das Verhältnis von Leben und Tod zugunsten des Letzteren verschiebt. Text ist danach das "Ereignis" einer ursprünglichen Bewegung der Enteignung. Als Simulakrum ist er Mimesis ohne Referenz. Darin wiederholt sich das Heidegger'sche Existenzial des Seins zum Tode im Text. Aufgrund der am Text wirkenden Kraft des Nichts scheint es weder möglich, ein Sinnzentrum im Text auszumachen noch das Autorsubjekt des Textes zu bestimmen. Gleichzeitig ist aber auch auf die versteckte Zweideutigkeit der dekonstruktiven Lektüre hinzuweisen, die darin besteht, dass der postulierten Offenheit des Verhältnisses von Text und Lektüre ein geschlossener Text(begriff) gegenübersteht, der die Rezeption 'immer schon' zu einer bestimmten Auslegung zwingt. Der Text öffnet sich selbst zu dem hin, was er fortwährend verbirgt. Er ist die Bewegung der Verschließung und Öffnung, die gelesen werden muss. Lesen bedeutet bei Derrida, in den Texten zu sein, in ihnen zu sterben. Genauer gesagt: Er als Leser-Schreiber des Textes, der die Öffnung/Schließung selbst markiert, ist im Text immer schon gestorben: "Quand je signe, je suis déjà mort". Die Todesinszenierungen Derridas allerdings sind rein textuell. Derrida versteht den Text als Ort der Enteignung; er ist der Abgrund, der in derselben Bewegung sich zu lesen gibt und sich dem Leser/Schreiber entzieht. Der Text ist als 'Er-eignis' zugleich 'Aneignung' und 'Enteignung'. Die Enteignung, die der Text schreibt, ist vom Schreibenden aus gesehen einzig denkbar als Aneignung des Todes. In der ersten Bedeutung (als Enteignung) kommt die Schrift als Macht über den Schreibenden, der sich dieser im Akt des Sich-Gebens nur ausliefern kann. In der zweiten Bedeutung (als Aneignung) wird das Produzieren des Textes nur möglich, indem der Schreiber sich selbst zum Verschwinden bringt.

Wenn der Text als Ort der Erfahrung der différance und der dissémination verstanden und beide als dekonstruktive Einschreibung des Seins zum Tode gedeutet werden, so kündigt sich als notwendige Frage die nach der Identität des Schreibenden an. Über wen wird in den Texten eigentlich nachgedacht? Ist der Schreibende bereits ein Toter? Da Derridas Texte permanent um die Erfahrung des Todes kreisen, muss es in den Texten folglich auch um die Hinterlassenschaft Derridas gehen, um sein Testament. Testamentarisch sind die Texte Derridas, weil sich in ihnen eine gewisse Identität der Signatur durchhält, die sie für andere allererst lesbar macht. Derrida schreibt allerdings keine Autobiografie im klassischen Sinn; er schreibt nicht sein Leben vom Ende her, um jeder gewesenen Lebensstation Sinn in Hinblick auf das Ganze des Lebens zu verleihen, denn er ist von allem Anfang an gestorben; seine Existenz innerhalb der Texte kann nur als posthume bezeichnet werden. Insofern Derrida das 'Ich bin' vom Tod her denkt, schreibt er seine Autobiografie als Thanatografie. Sein Schreiben er-eignet sich nicht an einem lichten Ort, an dem der Autor Derrida sich als dieser zu erkennen gäbe, sondern in der Dunkelheit einer Unzugänglichkeit, eines Nicht-Verstehens. Man könnte pointiert sagen: Der Text ist die Totenmaske des Autors. Das autobiografische Begehren richtet sich auf sich selbst als dem Anderen, wobei der Andere der Tod ist, womit die Erfahrung des Textes somit diejenige des eigenen Todes ist. Nur ist der Tod nicht wirklich, sondern Maske, Verstellung, Simulation. Das würde bedeuten, dass die existenzielle Erfahrung des eigenen Todes sich im Maskenspiel textueller Produktion aufhebt. Wenn dies zuträfe, wäre das existenziell verstandene Ich des Autors im unendlichen Spiel des Signifikanten disseminiert. Da aber Derrida selbst sterblich ist, zumindest sein leibliches Ich, muss es nach ihm wiederum einige geben, die ihn zu seinem Leben erwecken, posthum, um das Geheimnis seiner Texte zu dekodieren.

Derridas Schreib-Projekte sind sämtlich von der dekonstruktiven "Erfahrung" des Todes, vom Ereignis des Lebens-im-Tod bestimmt. Fast zwangsläufig rückt damit ein Text Derridas in den Blick, der von der internationalen Forschung bei der Rekonstruktion seiner literaturtheoretischen Positionen bislang weitestgehend ausgeblendet wurde - die 'Autobiothanatografie' "Circonfession", die in 59 fortlaufenden Perioden und Periphrasen unter eine systematisierende Darstellung der Philosophie Derridas von Geoffrey Bennington gesetzt ist. Beide Autoren beziehen ihre Texte direkt aufeinander, wobei Derrida schreibend versucht, dem systematisierenden Zugriff Benningtons, den er auch als den "allwissenden Gott" bezeichnet, zu entkommen. Bennington selbst begreift das doppelte Schreiben des Namens Derridas als das "Simulakrum eines Duells". Es geht hier nicht um die möglichst lückenlose und getreue Schilderung der bedeutenden Erlebnisse eines Schriftstellers, sondern um die Frage nach dem Akt des Schreibens selbst, in den sich das Ich verwickelt. Auf die genuin autobiografische Frage des "Wer bin ich?" antwortet Derrida nicht mit einer episch sich ausbreitenden Erzählung, vielmehr wird die Frage selbst in eine Schreibgeste verwandelt, da die Sätze Resultat einer surrealistischen écriture automatique sind. Diese ist gleichsam "Ausdruck" eines Begehrens nach Selbsterkenntnis ("seit ich auf der Suche nach einem Satz mich selbst in einem Satz suche"), das jedoch kein konkretes Ziel zu benennen imstande wäre. Einzig im Schreiben des Todes wäre eine Sprache zu umkreisen, die die eigene wäre.

In keinem Text war Derrida dem Ich als dem Anderen näher als in einem 1996 mit dem unmöglichen Titel "Le monolinguisme de l'autre ou la prothèse d'origine" (dt. "Einsprachigkeit", 2003) publizierten Text, in dem er den ethischen Impuls seiner Philosophie beschrieb. Aufgewachsen als algerischer Jude, war er in den für ihn wichtigen Sprachen, dem Hebräischen und dem Arabischen, gleichermaßen "sprachlos". Unfähig, in diesen Sprachen bei anderen Gehör zu finden, entwickelte er sich zu einem Meister des Französischen. Das Gefühl für die Fragilität und Alienation der Sprache und für die Schwierigkeit, "beim anderen Gehör zu finden", verließ ihn jedoch nie. Ob Derridas Sprachphilosophie Widerspruch oder Zustimmung erfährt, selten wird berücksichtigt, dass sie auch in den Erfahrungen wurzelt, die er als algerischer Jude machte. Und noch seltener wird die Entfremdung von den "jüdischen Sprachen", vom Judeo-Arabischen und vom Hebräischen, als Ursprung seines Nachdenkens über Sprache gewürdigt. Derridas besondere Art zu schreiben, das sollte nicht vergessen werden, geht nicht nur auf den Einfluss Heideggers oder der literarischen Moderne zurück; sie ist ebenso eng mit seinen maghrebinischen Erfahrungen und seiner sich selbst zugewiesenen Unkenntnis des Hebräischen verknüpft. Derrida weist auf diesen Zusammenhang hin, wenn er sich in "Circonfession" als einen Menschen bezeichnet, "der in einer fremden Sprache die tänzerischen und gelehrten Drehungen und Wendungen ganz einfach darum vervielfältigt, weil er um seine eigene unbekannte Grammatik kreisen muß, um das Hebräische".

Immer wieder beklagt Derrida diesen Verlust und evoziert dabei nicht selten den Tod - vielleicht weil er die Unkenntnis mit in den Tod nehmen wird, weil der Verlust endgültig und unwiderruflich ist: "Ich nähere mich dem Ende, ohne jemals Hebräisch gelesen zu haben [...] die heilige Sprache wird über mich hinweggegangen sein wie über einen polierten Stein", heißt es in "Circonfession". Es war das polierte Französisch, an dem das Hebräische abglitt und an dem die Schuld, das "Verfehlen" der heiligen Sprache, bis heute anhaftet, wie Derrida ausführlich in "Le monolinguisme de l'autre" ausführt. Derrida selbst deutet den Zusammenhang an, wenn er in "Circonfession" die "Unlesbarkeit, von der er weiß, daß er von ihr herkommt", erwähnt. Er spricht von Narben, Spuren und Malen. Die Narbe ist wahrnehmbar, vor allem für diejenigen, die Hebräisch gelernt haben. Dort, wo Derrida Elemente dieser Sprache wiedergibt, wird der Mangel fühlbar: in willentlichen oder unwillentlichen grammatikalischen und grafischen Abweichungen, die, wie Narben, das "Herausgeschnittene" bezeugen. In Geoffrey Benningtons "Derridabase" ist der Umschlag eines Notizbuches abgebildet, das ein hebräisches Wort enthält, von Derrida nachgezeichnet: milah; doch das "jod" hat die Gestalt eines "waw": ungewollter Fehler, willentliche Abweichung oder eigenwillige Form? Nichts von alledem: Derrida rekurriert hier auf eine äußerst aussagekräftige Homophonie, die in "Schibboleth" wieder aufgenommen wird: im Hebräischen sind mijlah, die Beschneidung, und milah, das Wort, lediglich durch ein "jod" unterschieden.

Die französische Sprache war jedoch ein "Gut", das anzustreben und zu erobern Konflikte in der eigenen Gemeinschaft und Anfeindungen von außen hervorrief. Sobald man am Ziel angelangt zu sein glaubte, wich es zurück, denn die europäischen Siedler versuchten, die Juden ihres "jüdischen Akzents" zu überführen. Sie brandmarkten deren Sprechweise und verhöhnten ihr "Kauderwelsch". In einer solchen Lage war das Schreiben eine Tätigkeit, die Glück versprach, da in der Schrift die phonetischen Merkmale "lebendiger" Rede zu verbergen sind. Die spätere philosophische Aufwertung der Schrift durch Derrida mag auch eine Nachwirkung jener algerischen Erfahrung sein. Derrida umschreibt in "Le monolinguisme de l'autre" sein Verhältnis zur französischen Sprache mit Worten, die nicht nur Faszination, Rausch oder brennende Liebe, sondern eben auch zerstörerische Impulse ausdrücken: "Sätze, die man zugleich sich aneignen, zähmen, einnehmen, das heißt lieben mußte, indem man sie entflammte, die man verbrennen (der Zunder ist nie fern), vielleicht zerstören, jedenfalls aber markieren, verändern, beschneiden, einschneiden, schmieden, dem Feuer aufpfropfen, anders gesagt, anders in sich zu sich kommen lassen mußte".

Das führt in "Le monolinguisme de l'autre" zu einem gewichtigen Paradox: "Man spricht immer nur eine Sprache. [...] Man spricht niemals nur eine Sprache". Zwischen diesen beiden widersprüchlichen und dennoch gleichermaßen geltenden Aussagen eröffnet sich für Derrida gerade das kulturelle Feld, das durch die "Aufgabe der Übersetzung" bestimmt ist: Eine Übersetzung nicht nur zwischen Sprachen, sondern auch zwischen Kulturen, Nationen, politischen Identitäten. Vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen stellt Derrida in aller Radikalität die Frage nach der so genannten "muttersprachlichen Identität", die in den Debatten um Mono- und Multikulturalismus, um Nationalität und Staatsbürgerschaft wieder an Brisanz gewinnt. Für ihn gibt es aber kein natürliches Eigentum an der Sprache, sondern nur die Gewalt der Aneignung: auch der eigenen Sprache als einer Fremdsprache. Es geht Derrida immer wieder um die Öffnung des Eigenen für das Fremde, des Selbst für das Andere und zwar aus der fundamentalen Einsicht heraus, dass das Eigene selbst nur das angeeignete Andere ist. In dieser Hinsicht ist die Muttersprache immer eine ursprünglich fremde, nicht zugehörige Sprache, auch wenn es die der nächsten Angehörigen ist.

Es geht also darum, wie Klaus Reichert einmal treffend bemerkt hat, gegen die übliche Erschleichung von Lesbarkeit durch "Appropriation", d. h. durch Einverleibung des Fremden im Eigenen, oder durch "Assimilation", d. h. durch Anpassung an den Eigenwert des Anderen, ein "Fremdmachen der eigenen Sprache" als Chance zu begreifen, ohne "das Odium des Nichtheimischen, des Übersetzten" zu fürchten. Mit anderen Worten: Eine Unlesbarkeit, die zu lesen gibt, u. a. in dem, was Hofmannsthal und Benjamin zufolge nie geschrieben wurde. Hier eröffnet sich ein Diskursfeld, das Derrida selbst erst gerade begonnen hat aufzuarbeiten und das jene jüdisch-marxistische Denktradition betrifft, die hauptsächlich mit den Namen Benjamin und Adorno verknüpft ist. Derridas Dankrede anlässlich der Verleihung des Adorno-Preises der Stadt Frankfurt am Main ("Fichus") ist ein Beginn, der den Diskurs über die "Einsprachigkeit des anderen" fortsetzt: "die Sprache des Anderen, die Sprache des Gastes, die Sprache des Fremden, ja des Einwanderers, des Ausgewanderten oder des Exilierten".

Besonders in Zeiten nach den Ereignissen des 11. September 2001, da Intoleranz, gewaltsame Konfrontationen und die Ausgrenzung des "Anderen" immer stärker um sich greifen, erinnern Derridas Texte daran, dass all dieses Sein in sich grundlegend verwundet und gebrochen ist. Das ist nicht bloß eine (nach-)metaphysische Aussage, sondern auch eine ethisch-politische. Bei der Bewertung der 'Dekonstruktion' als philosophischem und literaturtheoretischem Denkansatz ist deren 'ethische Wende' in den letzten Jahren fast völlig außer Acht gelassen worden. Einen letzten Höhepunkt dieser Entwicklung stellen zwei Vorträge dar, die 2003 in Frankreich unter dem Titel "Voyous" (dt. "Schurken", 2003) publiziert wurden und in denen Derrida den Beweis führt, dass es die von amerikanischen Politikern beschworene "Achse des Bösen" gar nicht gebe, da alle Staaten Schurkenstaaten seien, mit den USA an der Spitze. Was geschieht, so lautet die Grundfrage, mit den Begriffen der Politik, des Krieges, des Terrorismus in einer Situation, wo im Zuge der Globalisierung das "alte Gespenst" nationalstaatlich verfasster Souveränität seine Glaubwürdigkeit verliert? Und gestellt wird zugleich auf brillante Weise die Frage der Demokratie, ihrer philosophischen Grundlage, ihrer Bedingungen heute und morgen. Denn Demokratie ist kein Erb- und Präsentierstück, so Derrida, sondern immer nur eine "kommende Demokratie".

Derrida sucht die Wurzel der spezifisch westlichen "Schurkerei" daher nicht im aktuellen Personal Washingtons, sondern im System der Demokratie selbst. Ausgerechnet sie, in deren Namen sich die Feldzüge für das Gute formiert haben, habe nämlich mit ihrem Souveränitätskonzept ein logisches Problem, das sich immer mehr zur Legitimationsfalle ihres Handelns ausweite. Um über die nötige Macht zur Durchsetzung ihrer Idee zu verfügen, sei die Demokratie auf den Souveränitätsanspruch angewiesen, der aber wiederum spätestens dann willkürlich werde, wenn er sich auf die gesamte Weltgemeinschaft beziehe. So gerät vor allem die UNO ins Visier Derridas, deren Sicherheitsrat schon aufgrund seiner Zusammensetzung weit entfernt von angemessener Repräsentation der Weltbevölkerung sei - und letzten Endes nichts anderes als ein scheinlegitimes Instrument zur Durchsetzung purer Machtinteressen. Sein Prinzip sei das Recht des Stärkeren, seine Herrschaftsform das Diktat.

Ein politischer Essay ohne dekonstruktiven Gestus? Weit gefehlt, schickt Derrida doch in einem zweiten Teil den Suchbegriff "voyou" durch die Archive literarischer und historischer Texte und wird auch prompt fündig bei Gustave Flaubert, der die Demokratie bekanntlich gehasst und sie als "voyoucratie" bezeichnet hat. Die aufgefundenen Belege legen es Derrida zufolge jedoch durchaus nahe, nicht dem Pessimismus à la Flaubert zu verfallen, sondern der Demokratie die Treue zu halten: Als Mechanismus der ewigen Selbstauflösung gerät sie ihm zur Schutzheiligen für die Freiheit, "vielleicht" sagen zu dürfen, im ironischen Schwebezustand zu verharren und auf die Historizität aller Werte und den Wert der Autokritik hinzuweisen. Derridas Schurkentheorie steht jedoch quer zur kantischen Hoffnung auf eine künftige Weltinnenpolitik, wie Jürgen Habermas sie angesichts von 9/11 beschwor. Recht eigentlich aber feiert Derrida nicht die Demokratie, sondern die Dissemination demokratischer Prozesse, mit anderen Worten: die Dekonstruktion selbst. Denn wer wäre schließlich demokratischer und damit auch schurkischer als die Dekonstruktivisten selbst?

Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass Jacques Derrida der einzige gute Schurke ist. Seine strahlende Intelligenz, seine Verführungskunst, sein kompromissloses Denken, das er selbst mit seinem geschärften Sinn für Raffinement, Paradoxien und Aporien der Sprache erklärte, leuchteten hier ein letztes Mal. In der Nacht zum 9. Oktober 2004 ist Derrida im Alter von vierundsiebzig Jahren in Paris gestorben. Zurück bleiben Gedanken, die Derrida in seinem "Adieu" an Hans-Georg Gadamer am 15. Februar 2003 in der Aula der Neuen Universität in Heidelberg formulierte und die Derrida in der Formel vom "ununterbrochenen Dialog" konzentriert, den er mit dem verstorbenen Gadamer - vor allem über die beiderseitig geschätzten Gedichte Paul Celans - zu halten gedachte: nur dort, wo der Dissens über das Verstehen als solcher kultiviert wird, hat das gegenseitige Einvernehmen als ausgezeichnete Form philosophischer Freundschaft eine Chance. Gedanken à venir.

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Jacques Derrida: Seelenstände der Psychoanalyse. Das Unmögliche jenseits einer souveränen Grausamkeit. Vortrag vor den "États généraux de la Psychanalyse" am 10. Juli 2000 im Grand Amphithéâtre der Sorbonne in Paris.
Übersetzt aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
102 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3518583190

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Jacques Derrida: Artaud Moma. Ausrufe, Zwischenrufe und Berufungen.
Herausgegeben von Peter Engelmann.
Übersetzt aus dem Französischen von Markus Sedlaczek.
Passagen Verlag, Wien 2003.
128 Seiten, 27,00 EUR.
ISBN-10: 3851655508

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Jacques Derrida: Einsprachigkeit. Über Weltbürgertum und Gastfreundschaft.
Übersetzt aus dem Französischen von Michael Wetzel.
Wilhelm Fink Verlag, München 2003.
154 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-10: 3770535553

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Jacques Derrida: Fichus. Frankfurter Rede.
Herausgegeben von Peter Engelmann.
Übersetzt aus dem Französischen von Stefan Lorenzer.
Passagen Verlag, Wien 2003.
82 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 3851655486

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Jacques Derrida: Schurken. Zwei Essays über die Vernunft.
Übersetzt aus dem Französischen von Horst Brühmann.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2003.
219 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3518583735

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Jacques Derrida / Hans-Georg Gadamer: Der ununterbrochene Dialog.
Herausgegeben von Martin Gessmann.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
110 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-10: 3518123572

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Jacques Derrida: Marx & Sons.
Übersetzt aus dem Französischen von Jürgen Schröder.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
135 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-10: 3518292609

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