Das Alphabet eingeprügelt

Christoph D. Brummes vierter Roman wird in Russland spielen - ein Gespräch

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

An der Staatlichen Universität von Samara traf Rolf-Bernhard Essig im Mai den Schriftsteller Christoph D. Brumme. Aufgewachsen in Elend im Harz, lebte Brumme viele Jahre in Berlin, wo er seine Romane "Nichts als das", "Tausend Tage" und "Süchtig nach Lügen" (die letzten beiden bei Kiepenheuer & Witsch) verfasste. Seit Dezember 2003 allerdings hält sich Brumme in Russland auf. In Saratow an der Wolga schreibt er an seinem vierten Roman, der zu weiten Teilen auch in Russland spielen wird. Nach der Lesung in Samara fand das folgende Interview statt.

Essig: In Ihrem ersten, unverkennbar auch biografisch gefärbten Roman "Nichts als das" lernt der Held mit Namen No unter Püffen und Demütigungen des Vaters zu lesen. Heute haben Sie vor russischen Studenten aus Ihren Büchern gelesen, ja Sie halten sogar an der Universität von Saratow Vorlesungen über Poetik und Literaturgeschichte. Ist aus dem kleinen No ein Dr. No geworden?

Brumme: No wurde das Alphabet eingeprügelt, aber es öffnete ihm auch den Fluchtraum oder verlieh ihm Gestalt: die Literatur, die Möglichkeit, Fantasien und Ängste zu formulieren. Die Gewalt schafft das Humane, die Fähigkeit zum Lesen. Mich hat die Literatur nach Russland geführt, also gehe ich den umgekehrten Weg, von der Fantasie in die Wirklichkeit. Seit zehn, 15 Jahren komme ich von Dostojewskij nicht los. Das ewige Unterwegssein seiner Figuren, ihre Zerrissenheit, diese elende Selbstquälerei, kurz, die Modernität seiner Romane erschreckt mich immer von neuem. Im Grunde war es Notwehr, die mich nach Russland trieb. Ich sah in Deutschland nur noch Wiederholungen. Man bläst Reförmchen zu Katastrophen auf. Das Erbrecht auf Wohlstand ist in Gefahr, Gott, wie schlimm. Man sieht eine Werbung für Rasierklingen und denkt: mit ähnlichem Aufwand wurden zuletzt nur die Menschenrechte propagiert. - Nun entscheiden Sie, ob aus No ein Dr. No geworden ist.

Essig: Mir ging es konkret um ihr Verhältnis zum akademischen Bereich, mit dem Sie ja auch in Deutschland in Kontakt gekommen sind. Vielleicht können Sie kurz etwas zu Ihren unterschiedlichen Erfahrungen hier und dort sagen?

Brumme: Zunächst: ein russischer Uni-Dozent verdient 30 bis 70 Euro im Monat, das entspricht im besten Fall der Monatsmiete für eine Ein-Zimmer-Wohnung. Insofern ist es ein Wunder, dass überhaupt noch Universitäten existieren. Das Ausbildungssystem hier ist sehr viel strenger als in Deutschland: es gilt Anwesenheitspflicht, Vorlesungen und Seminare können nicht frei gewählt werden, die Seminargruppen sind viel kleiner, bestehen meist aus zehn bis 15 Studenten.

In Deutschland schweben akademische Diskussionen oft im luftleeren Raum, leiden unter kategorialer Verstopfung, man könnte mit den gleichen Begriffen auch über Kybernetik diskutieren. In Russland betrachten viele Studenten die Literatur als eine persönliche Angelegenheit, manche fühlten sich beleidigt und verließen unter Protest das Seminar, als Ingo Schulzes Buch "33 Augenblicke des Glücks" vorgestellt wurde. In beiden Ländern grassiert die gleiche akademische Krankheit: die Suche nach der eigentlichen Aussage, die der Autor angeblich mitteilen wollte, die Entmündigung des Autors also.

Essig: Sie haben hier in Samara gerade aus eigenen Werken vor Studenten und Lehrkräften der Universität gelesen. Darunter auch aus dem Manuskript Ihres gerade entstehenden vierten Romans, der zu Teilen in Russland spielt. Empfanden Sie sich auch hier durch die Fragen entmündigt? Und was wäre für Sie die Alternative? Eine Entmündigung des Lesers?

Brumme: Eine Rose ist eine Rose, kein Quadrat. Die Literatur ist reicher als die Welt der Begriffe, mit denen sie beurteilt wird. Walter Benjamin wusste, dass Kritiker die größte Mühe mit Handlungen haben, die sich dem Kommentar verweigern, er beschrieb das am Beispiel von Dostojewskij. Ein mündiger Leser akzeptiert das Kunstwerk als das, was es ist. In Deutschland las ich einmal in der Seminararbeit einer Studentin: ein Künstler kleidet Lösungen in Rätsel. Solch ein Blödsinn entspringt dem Geist der Aufklärung.

Ich liebe die scheinbar naiven Fragen. Zum Beispiel solche, die gerade gestellt wurden: Woher weiß der Schriftsteller eigentlich, wann das Ende des Romans erreicht ist? Worüber würden Sie nicht schreiben? Warum ist das Böse so interessant für die Literatur?

Essig: Wenn es also um den Geist der Aufklärung in Russland anders bestellt ist, sind Sie dann vielleicht auch deshalb hierher gezogen, weil Sie das Phänomen des Bösen hier in reiner, naiver Form studieren und für Ihren Roman verwenden können?

Brumme: Weshalb sollte da, wo die Aufklärung eine geringere Wirkung entfaltete als in Westeuropa, das Böse naiver auftreten? Die russische Kultur ist nicht weniger sublim als die deutsche. Sie erscheint nur in der Statistik brutaler, im Alltag kaum.

Wir haben meist nur Klischees über Russland im Kopf. Die Russen frieren im Winter nicht, sie schwitzen, weil die Wohnungen überheizt sind und mit Energie nicht gespart wird. Man muss hier nicht mit dem Messer bewaffnet durch die Straßen rennen, wie manche meiner Bekannten befürchten. Ich bin auch nicht auf der Suche nach Sensationen. Die Aufgabe des Schriftstellers besteht für mich darin, im scheinbar Beliebigen das Beispielhafte zu sehen, im Geschwätz die Gewalt, in der Gedankenlosigkeit den Zynismus. Mich interessiert eigentlich das schwarze Loch in der Mitte, in dem früher die Seele wohnte.

Essig: Könnte man also, um eines der von Ihnen genannten Klischees zu streifen, sagen, dass sie hier das Land der Seele suchen? Anders und erweiternd gefragt, wie beeinflusst Ihr hiesiges russisches Dasein Ihr Schreiben?

Brumme: In Russland liegen das 19. und das 21. Jahrhundert oft dicht beieinander. Man sieht hier unterschiedliche Zeitschichten, in der Architektur - Holzhütten stehen neben elektronisch bewachten Villen - wie im Verhalten der Leute. Die Einstellung zur Ehe zum Beispiel entstammt eigentlich der Vormoderne - die Frauen sollen sich den Männern unterordnen, ihnen möglichst jeden Wunsch erfüllen. Für meinen Mann würde ich alles tun, behauptet mindestens jede zweite junge Frau. Wobei man wissen muss, dass ein enormer Männermangel herrscht, der konkurrenzverschärfend wirkt. Andererseits ist der Gruppenzusammenhalt viel stärker ausgeprägt als bei uns. Ich kenne eine Seminargruppe, in der solch eine entspannte, fröhliche und konzentrierte Atmosphäre herrscht wie bei uns nur in den seltensten Fällen unter Freunden. Solche Beobachtungen helfen mir, den Westen zu verstehen, denn man begreift eine Kultur am leichtesten im Vergleich.

Essig: Und welche Besonderheiten des Westens haben Sie hier im Osten besser verstanden?

Brumme: Es reizt mich sehr, einmal einen Künstlerroman zu schreiben. Der Literaturbetrieb als Modell für Selbsttäuschungen, für den Zwang, die Oberfläche zu behaupten, weil zwei Zentimeter darunter das Entsetzen lauert, weil man dort nicht hinsehen darf, denn es wäre nicht auszuhalten. Seit Jahren beklagt die Kritik die Harmlosigkeit der neueren oder der jüngeren Literatur. Das ist doch lächerlich. Im Grunde ist es Ausdruck von Selbsthass, den die Kritik mit dieser pauschalen Ablehnung der Erzählkultur des eigenen Landes äußert. Ein Fall für den Analytiker. Denn sie selbst filtert doch die Wahrnehmung der Leser! Sie selbst schafft die Werte, deren Erfolge sie beklagt!

Nietzsche sagt: das Erhabene ist ästhetische Bändigung des Schreckens. Der Schrecken ist Voraussetzung für Literatur, nicht die Affirmation einer Oberfläche. Ganz traurig wird es, wenn selbst Schriftsteller behaupten, es fehle in unserer ach so oberflächlichen Zeit an Widersprüchen, an substanziellen Konflikten, und wir lebten im Zeitalter der Indifferenz, angeblich, weil vernünftige Weltentwürfe fehlten.

Wo die globale Vernunft fehlt, da könnte die Literatur sich doch die Aufgabe stellen, im einzelnen Menschen die Würde zu entdecken oder dessen vernunftlose Existenz würdevoll zu schildern. Das Gefühl, in einem toten Winkel der Geschichte zu leben, gab es im 19. Jahrhundert auch. Langeweile ist kein neues Sujet für Literatur. Man lese die Romane Stendhals. In "Rot und Schwarz" gleicht jede Berührung zwischen Julien und Madame de Rénal einem kleinen Kolonialkrieg. Man sonnt sich still im Garten und trägt unglaubliche Machtkämpfe aus. Man muss nur genau genug hingucken, um in scheinbar harmlosen Gesten den Angstschrei zu sehen, den Edvard Munch malte.

Essig: Nietzsche, Stendhal, Munch, Sie beziehen sich mit Ihren Kronzeugen auch wieder auf die Vergangenheit, die manche Kritiker als große Zeit gegenüber der heutigen Kleingeisterei ins Feld führen; in gewisser Weise scheinen Sie insofern den kritisierten Kritikern gar nicht so fern zu stehen. Überschätzen Sie nicht auch ein wenig die Wirkung von Literaturkritik, wenn Sie sagen, sie selbst erschaffe "die Werte, deren Erfolge sie beklagt"? In jedem Falle steht fest, dass es Schriftsteller gibt, die nicht als harmlos bezeichnet werden können. Welche Autoren der aktuellen Literaturszene sind es für Sie?

Brumme: In einer Debatte über die Harmlosigkeit der Literatur müssten zumindest jene Autoren genannt werden, die auch die Kritik in das Verdikt der Verniedlichung nicht einbezieht, also zum Beispiel Alois Hoitschnig, Hans Joachim Schädlich, Reinhard Jirgl, Wolfgang Hilbig, Georg Klein oder die zu früh Verstorbenen Thomas Brasch und Einar Schleef, deren Bücher schließlich auch zur neueren Prosa zählen. Sieben bedeutende Autoren, deren Rang niemand, der bei Verstand ist, bezweifelt. Viel mehr Autoren sind heute aus der Romantik auch nicht bekannt. In hundert Jahren wird niemand verstehen, dass die zeitgenössische Kritik zu der Auffassung gelangen konnte, die Literatur um die Jahrtausendwende wäre harmlos und unfähig zur Gesellschaftskritik gewesen. Aber der Literaturbetrieb muss natürlich Tendenzen kreieren und Debatten führen, also Mehrheiten am Gespräch beteiligen. Angesichts der Vielzahl der Neuerscheinungen konzentriert sich das Interesse der Kritik deshalb oft auf Bücher, die kleinste gemeinsame Nenner anbieten: rasche Lesbarkeit, durchschaubare Dramaturgie, neudeutsch Konstruktion genannt, und ein modisches Thema. Man kann das alles schon bei Balzac, in "Verlorene Illusionen", nachlesen. Auch dort wird schließlich ein demokratischer Kunstbetrieb geschildert.

Essig: Wie sieht es mit dem Literaturbetrieb in Russland aus? Nehmen Sie von ihm etwas wahr oder er von Ihnen? Haben Sie hier ähnliche Erfahrungen gemacht wie in Deutschland, vielleicht sogar mit russischen Kollegen über die Verhältnisse hie wie da sprechen können?

Brumme: Ich finde es viel spannender, mit Fotografen, Malern, Zollinspekteuren, Gefängniswärtern, Schachspielern oder Juristen zu verkehren als mit Schriftstellern. So etwas wie ein Literaturbetrieb existiert in der russischen Provinz praktisch nicht. Hier gibt es eine demokratische Einrichtung, die wunderbar funktioniert: das Internet, die Literaturseite www.proza.ru. Die meisten Autoren veröffentlichen dort anonym und verwirklichen den Traum von der Abschaffung des Autors.

Essig: Klingt bei Ihnen da ein wenig bewundernder Neid durch? Beschäftigt Sie auch dieser Traum? Und wie sähe er für Sie aus? Ist der Gang in die russische Provinz insofern auch eine Flucht in diesen Traum?

Brumme: Ach ja, wenn ich schneller schreiben könnte, würde ich die Traven-Variante wählen. Eigentlich wollte ich als Kind Schriftsteller werden, seit ich wusste, dass hinter Victor Hugos Sarg achtzigtausend Leute gegangen waren. Das erschien mir erstrebenswert. Heute befürchte ich, dass in zwanzig Jahren niemand mehr das Alphabet beherrscht, von ein paar Liebhabern abgesehen. Die Literatur ist ein Sozialfall, stärker subventioniert als der Abbau der Steinkohle.

In Russland wird man zum Fatalisten, das gefällt mir. Ein Beispiel: mit meiner polizeilichen Anmeldung sind seit sechs Monaten drei Ministerien und zirka 20 Arbeitskräfte beschäftigt. Und das Ergebnis dieses gigantischen Aufwandes lautet, dass das deutsche Konsulat eine offizielle Bitte an die Meldebehörde richten sollte, mir den Aufenthalt in Saratow auch behördlich zu genehmigen. Denn auf Grund einer Gesetzespraxis, die kein Mensch versteht, müsste ich eigentlich in einer sibirischen Stadt leben. Den Beruf des Schriftstellers würde die Behörde nur anerkennen, wenn ich ein Diplom in diesem Fach vorlegen könnte. Solche Emigrationserlebnisse erträgt man nur, wenn man an wichtigere Dinge denkt.

Wovon ich also träume - von einer Welt ohne Gesetze, ohne Handys, ohne laute Musik in Cafés. All das gibt es hier so wenig wie in Deutschland. Aber für das Leben in anderen Ländern hätte mein Geld nicht gereicht. Außerdem leben hier die schöneren Frauen.

Essig: In Ihrem letzten Roman "Süchtig nach Lügen" gibt es eine schöne Frau, die die Welt - um es vorsichtig zu sagen - ständig uminterpretiert und intensiv bis zur Unerträglichkeit liebt. Auch der Ich-Erzähler, der eitel zu sehr auf seine Rationalität vertraut, verstrickt sich in das Netz dieser Lügen. In dem Abschnitt Ihres gerade entstehenden Romans, den Sie hier vorgelesen haben, gibt es wieder eine Frau, eine Russin, die kreativ mit den Tatsachen umgeht und merkwürdige Verhaltensweisen an den Tag legt. Versuchen Sie quasi, die vorige Liebesgeschichte durch die Verlegung nach Russland und durch das Schreiben hier ins Extreme zu führen?

Brumme: Im Gegenteil, ich versuche Extreme zu vermeiden. Die Drohung wirkt stärker als die Ausführung, wissen Schachspieler. Ich habe die widersinnigsten Szenen aussortiert. Schon das letzte Buch war für manchen unerträglich, was ich gut verstehe, denn es war nicht immer ein Vergnügen, es zu schreiben. Ich beschreibe abstoßende Verhaltensweisen nicht um ihrer selbst willen, nicht aus Spaß am Ekel, sondern weil sie sich aus den Prägungen der Figuren ergeben. Nicht ich nehme ihnen die Würde, es sind Zeitgenossen, die zu viel Fernsehen geguckt und zu viele Illustrierte gelesen haben. Kleine Leute, die mit der Kränkung nicht leben können, dass sich der Traum von der schönen neuen Welt für sie nicht erfüllt. Im "Zarathustra" heißt es: Wir haben das Glück erfunden, sagen die letzten Menschen und blinzeln. Das scheint mir auf diese Figuren zuzutreffen. Sexsüchtig, weil liebesunfähig. Ausgestoßen in einer leisen Art, die leicht übersehen wird. Sie graben nach Gold, aber in einer Erdschicht, die aus Steinkohle besteht. In ihrer Kindheit waren sie Junge Pioniere, das Erziehungsideal lautete: Alle Menschen werden Brüder. In ihrer Jugend sollte angeblich die Morgenröte der Freiheit anbrechen, der Illustriertenglanz sollte auch auf sie fallen. In der Wirklichkeit stehen sie vorm Sozialamt Schlange oder sie spenden Blut, um das U-Bahn-Ticket bezahlen zu können.

Ich schildere nichts als die Normalität in deutschen Single-Wohnungen und in deutschen Familien. Unsere Kultur verdrängt ihre Wirklichkeit. Geschätzte einhunderttausend schwere Kindesmisshandlungen sprechen nicht gerade für eine sublime Form der Gewalt. Nur weil das kritische Bewusstsein sich der Geschwindigkeit der Medien anpasst, nimmt es solche Vorgänge kaum wahr. Sogar die Statistik der Skinhead-Opfer wird geschönt, damit niemand bemerkt, dass in Ostdeutschland eine monströse Jugend durch die Landschaft streift. Aber man muss gar nicht auf die spektakulären Fälle verweisen. Man muss nur die Alltagssprache analysieren. Gottfried Benn fragte schon in den 50er Jahren: Hat die Sprache überhaupt noch einen dialogischen Gehalt im metaphysischen Sinne? Also in dem Sinn, dass sie weiß, dass Sprache nicht alles ist.

Essig: Haben Sie nicht auch den Eindruck, als rühre einen hier in Russland zuweilen doch so etwas an wie dieser "dialogische Gehalt der Sprache" oder sitzt man da auch wieder nur einem Klischee auf? Nebenbei, wie gut sprechen Sie Russisch und beeinflusst diese so ganz andere Sprache die Sprache Ihres gerade entstehenden Romans?

Brumme: Russland ist das einzige große Land ohne Massentourismus, deshalb gilt hier ein Ausländer immer noch als etwas Besonderes, dem man mit Herzlichkeit und Neugierde, aber auch mit Misstrauen und Unverständnis begegnet. Viele Russen wundern sich, dass jemand freiwillig in ihrem Land lebt. Insofern fördert nicht die Sprache den Dialog, sondern der exotische Status, den ich hier genieße. Russisch ist eine sehr sinnliche Sprache, man schmeckt die Worte bei der Aussprache. Es fasziniert mich immer wieder, Russen zuzuhören. Meine russischen Freunde meinen, ich würde ausgezeichnet Russisch sprechen, aber das stimmt natürlich nicht, ich kann noch nicht einmal Zeitungen lesen. Auch mein Schreiben wird vom Russischen wohl noch nicht beeinflusst, allenfalls davon, dass die Figuren manchmal russisch sprechen, ich sie aber deutsch reden lasse, der Leser sich also die andere Sprache vorstellen muss.

Essig: Sie haben vorhin den Literaturbetrieb, zumal die Kritik, angegriffen, darüber hinaus gesellschaftliche und sprachliche Zustände in Deutschland. Hat Ihr Schreiben angesichts dieser Lage für Sie eine spezielle Aufgabe? Stellt es eine Art von Gegensprache oder Gegenentwurf dar?

Brumme: Zunächst: ein Schriftsteller sollte die Sprache lieben. Das ist das Minimum, was man als Leser erwarten darf. Da ich wie jeder normale Leser auf Informationen durch die Literaturkritik angewiesen bin, bedauere ich es immer wieder, dass sich die meisten Rezensionen auf Inhaltsangaben und Nacherzählungen und allgemeine Bewertungen beschränken, jedoch die Qualität der Sprache, die Form also, nur selten erörtert wird. Aber gut, was hat der Literaturbetrieb mit Literatur zu tun? So viel wie der Klavierhandel mit der Musik. Viele Leser behaupten, sie suchten in Romanen nach Selbstbestätigung, sie wollten sich identifizieren mit dem Leid oder dem Glück oder der inneren Leere einer Romanfigur. Aber mit welchen Erlebnissen Raskolnikows könnte ein Leser sich identifizieren? Mit der Bereitschaft, einen Mord zu vollbringen?

Der Schriftsteller soll nichts ausdrücken, schon gar nicht seine Gefühle, er soll etwas darstellen. Flaubert meinte, der Autor habe im Roman die Pflicht zur Abwesenheit, er habe sich des Kommentars zu enthalten. Denn ansonsten werden die Möglichkeiten der Deutung, des Lernens, geschmälert, der Leser wird zum passiven Empfänger von Botschaften degradiert, er soll gezwungen werden, die Wertungen und Beobachtungen des Autors zu übernehmen. Und Botschaften wünscht sich der Leser in seinem Wunsch nach Identifikation, Handlungsanweisungen womöglich. Er will, was er weiß, formuliert sehen. Autor und Leser verbünden sich in einem restaurativen Akt gegen alles Neue. Aber die Literatur ist reicher als die Welt der Begriffe, mit denen sie beurteilt wird, glücklicherweise. Sie ist der Zukunft verpflichtet und nicht der Gegenwart. Unter den Zeitgenossen findet immer nur die erste Anhörung statt. Ich möchte so schreiben, als ob jede menschliche Regung, Äußerung, Geste usw. von einer Pause unterbrochen wäre, mit drei Sekunden Stillstand zwischen jedem Satz. Weshalb sollte man das Mittel der Diagnose verschenken? Oft verkleidet der höchste Grad an Trivialität die schlimmsten Erkenntnisse. In der Geschichte des Denkens und der Kunst gibt es bekanntlich keine Fortschritte. "Hamlet" kann so wenig übertroffen werden wie die "Phänomenologie des Geistes", ein Buch übrigens, in dem das Ende der DDR weit genauer analysiert wird als in zehntausend Publikationen, die sich nach der Wende mit diesem Thema befassten. Literatur ist lediglich eine Notnahrung für verlorene Geister. "Fahrenheit 451" heißt das Logbuch, das sie in eine geheime Unterwelt geleitet.

Titelbild

Christoph D. Brumme: Süchtig nach Lügen. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002.
208 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3462031317

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