Götter, Geister und Dämonen

Gerhard J. Bellingers Nachschlagewerk zu den "Mythen aller Völker"

Von Julia SchöllRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Schöll

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bellingers Lexikon der Mythologie scheint wirklich die Mythen aller Völker zu versammeln, so jedenfalls der erste Eindruck dieses reich bebilderten Nachschlagewerks. Bei genauerem Nachlesen erfährt man, daß sich die mehr als 3.000 alphabetisch geordneten Stichwörter tatsächlich auf immerhin 230 Völker und Gemeinschaften und deren ursprüngliche Geschichten verteilen.

Es lohnt, die Hinweise zum Gebrauch dieses Lexikons genau zu lesen, denn es enthält ein komplexes Geflecht aus Verweisen und Beziehungen. Ist man auf der Suche nach einer mythologischen Gestalt, einem Gott oder Dämon, findet man diese natürlich unter ihrem Namen, der möglichst in der originalen Schreibweise oder Transkription aufgelistet worden ist. Betonungen sind leider nur in Einzelfällen angegeben, wo etwa die lateinische Betonung eines Wortes von der griechischen abweicht. Durchgängige Anmerkungen zur Aussprache wären hier hilfreich und würden sicher manch peinlichen Lapsus verhindern.

Unter übergreifenden Begriffen wie 'Australier', 'Griechen' oder 'Juden' findet sich eine Auflistung der im Lexikon verzeichneten Stichworte, die zu der jeweiligen Gruppe gehören. Will man wiederum wissen, welche Volksgruppen überhaupt aufgenommen wurden, findet man unter dem Stichwort 'Völker und Gemeinschaften' alle Gruppen verzeichnet, deren Mythen Eingang in das Lexikon gefunden haben. Auch das zwanzigste Jahrhundert hat ein eigenes Stichwort bekommen, unter dem neben Lenin und Marylin Monroe auch auf populäre Mythen wie UFO und Batman verwiesen wird.

So weit ist das Ganze recht übersichtlich gestaltet. Ergänzt wird die Stichwort-Sammlung von Überblicksartikeln zu verschiedenen Motiven und Vorstellungen, die in den Mythen vieler Völker auftauchen. Hier finden sich Themen wie 'Zeit und Ewigkeit', 'Polarität des Seins und Geschehens' und Einführungen in die Mythologie der Weltreligionen. Interkulturelle Beziehungen sollten laut Vorwort auch in den einzelnen Stichwort-Artikeln geknüpft werden, doch ist dies eher sporadisch geschehen. So findet man bei dem iranischen Gott Abathur zwar den Hinweis auf weitere iranische Gottheiten, nicht aber den auf Anubis, der in der ägyptischen Vorstellung die gleiche Aufgabe inne hat wie Abathur, nämlich als Totenrichter die Seelen der Verstorbenen zu wiegen.

Etwas seltsam muten die willkürlichen Hinweise zur künstlerischen Umsetzung des jeweiligen Mythos an, die bei einigen wenigen Stichwörtern angefügt werden: Unter dem Stichwort 'Argonauten' findet sich beispielsweise der Hinweis "Plastik: Relief in Delphi (560 v.Ch.), Drama: Grillparzer (1820), Oper: G. Mahler (1879)". Schätze sich glücklich, wem damit geholfen ist. Weiterführende Literaturhinweise wären wohl sinnvoller gewesen.

Wertvoll ist dagegen das Vorwort, in dem der Verfasser, wenn auch knapp, sein eigenes Mythos-Verständnis deutlich macht. Bellinger weist auf die verschiedenen, immer wiederkehrenden Arten von Mythen hin und kennzeichnet den Mythos als Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse. Auch die Ausdrucksformen werden angesprochen, der Mythos als anschauliches, sinnfälliges und immer bildhaftes Erzählen dargestellt: "Die Gaia (griech. 'Erde') symbolisiert nicht die Erde, sondern ist die (personifizierte) Erde. Die mythische Rede trennt nicht das Bild vom Gedanken, das Erlebnis und die Erfahrung von der Reflexion." Problematischer ist dagegen Bellingers These, Mythos und Religion existierten unabhängig voneinander. Wichtig ist sicherlich der Versuch, Mythos und Religion klar zu trennen. Ob es möglich ist, die vielfältigen Verflechtungen zwischen beiden zu entwirren, bleibt fraglich.

Der Hinweis auf Freud und Jung im Vorwort ist reines namedropping. In deren Geist ist dieses Lexikon nicht entstanden. Bellinger, emeritierter Professor für Religionsgeschichte, geht es nicht um Entstehung, Überlieferung oder psychologische Funktion des Mythos. Er will nicht, wie etwa Kerényi, Mythen deuten und damit Menschheitsgeschichte erläutern. Dieses Lexikon ist ein Nachschlagewerk im reinsten Sinne, es beschränkt sich auf die Darstellung des Überlieferten. Daß dies die Grundlage aller Beschäftigung mit dem Mythos ist, zeigt der Erfolg des Lexikons, das bereits in der dritten Auflage erscheint.

Titelbild

Gerhard J. Bellinger: Knaurs Lexikon der Mythologie. 3100 Stichwörter zu den Mythen aller Völker von den Anfängen bis zur Gegenwart.
Verlag?, München 1999.
570 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3426664151

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch