Verkehrsmemory

Weltliteratur für Kinder

Von Ines HeiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ines Heiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt eine ganze Reihe von Werken, die sich unter den Begriff "Weltliteratur für Kinder" fassen ließen: Zu nennen wären hier wohl Klassiker wie "Pu der Bär", "Alice im Wunderland", "Der Wind in den Weiden", "Robinson Crusoe", "Die Schatzinsel" oder "Gullivers Reisen", auch wenn einige dieser Romane nicht oder nicht in erster Linie für Kinder verfasst wurden; an neueren Texten stellen sich sicherlich die Bücher Astrid Lindgrens und Michael Endes in diesen Zusammenhang. Unter "Weltliteratur für Kinder" würde also anspruchsvolle und international erfolgreiche Kinder- und Jugendliteratur fallen.

Die Schweizer Autorin Barbara Kindermann hat nun eine Reihe von Bilderbüchern mit eben diesem Titel - "Weltliteratur für Kinder" - herausgebracht. Das Konzept, welches hinter diesem Titel steht, ist allerdings ein anderes, genauer: ein didaktisches. Kindermann nimmt in ihre Reihe gerade nicht Kinder- und Jugendliteratur auf, sie hat sich vielmehr zum Ziel gesetzt, Werke der "allgemeinen" Weltliteratur in Bilderbuchform zu überführen und so für Kinder leichter zugänglich zu machen. Als "Weltliteratur für Kinder" finden sich daher bei ihr unter anderem Adaptionen des "Faust", des "Nathan", des "Wilhelm Tell", von "Romeo und Julia" und - als neueste Ausgaben - Bearbeitungen von Gottfried Kellers "Kleider machen Leute" und Goethes "Götz von Berlichingen".

Ausstattung und Aufmachung der einzelnen Bände folgen dabei jeweils dem gleichen Konzept: Der Text besteht aus einer Nacherzählung Kindermanns, in die einige Originalzitate - gekennzeichnet durch Kursivsetzung - eingebettet sind. Zu eben diesem Originaltext und seinem Autor werden einige Informationen auf einer Anhangsseite geliefert; die Bilder werden durch wechselnde bekannte Illustratoren und Designer erstellt. Die großformatigen Bilderbücher sind mit goldbedrucktem Leinenrücken und stabilem Papier aufwändig gestaltet.

So weit, so vielversprechend. Zwar ließe sich mit einiger Böswilligkeit wohl fragen, warum die Reihe bisher fast ausschließlich deutsche Autoren berücksichtigt (zählt wohl "Kleider machen Leute" eher zu einer wie auch immer zu definierenden "Weltliteratur" als beispielsweise "Don Quijote" oder die Texte Molières?) und warum bei der Auswahl der Texte ein so ausgemachter Schwerpunkt auf das 18. Jahrhundert gelegt wurde (hat das Mittelalter keine Weltliteratur hervorgebracht? Sind die Werke der Manns oder die von Bertolt Brecht zu neu, um als "Weltliteratur" gehandelt zu werden?), doch stellt dies einen Kritikpunkt dar, der sich mit weiterem Fortschreiten der Reihe womöglich von selbst erledigt.

Eine wesentlich wichtigere Frage ist dagegen, ob die Reihe ihre Zielgruppe erreicht und ob in der vorliegenden Form die Absicht, Kinder mit Weltliteratur vertraut zu machen, erfüllt werden kann. Diese Fragen kann man für "Kleider machen Leute" vorsichtig mit möglicherweise beantworten; im Falle des "Götz von Berlichingen" lautet die Antwort trotz einigen Bedauerns: ziemlich sicher nicht.

Zunächst zur Frage nach der Zielgruppenkompatibilität: Bilderbücher in der vorliegenden Aufmachung (Großformat, Illustrationen auf jeder Seite) richten sich in erster Linie an Kinder im Grundschulalter, d. h. also an Kinder, die etwa sechs bis vielleicht zwölf Jahre alt sein dürften. Ob Kinder diesen Alters avantgardistische Illustrationen überhaupt zu schätzen wissen, mag dahingestellt bleiben - wenigstens sollten diese Illustrationen aber kindgerecht und ansprechend sein. Die Bilder, die Sybille Hein für "Kleider machen Leute" erstellt hat, erfüllen diesen Anspruch - sie sind bunt und fröhlich. Wenn auch die verzerrten Perspektiven und die Collagenelemente für Kinder etwas gewöhnungsbedürftig sein dürften, so enthalten sie doch viele nette Details, die zu genauer Betrachtung und zur Identifikation einladen. Ganz anders dagegen die Illustrationen Bernd Mölck-Tassels zu "Götz von Berlichingen": Mögen diese auch noch so künstlerisch wertvoll in allgemeinerem Sinne sein - auf Kinder wirken sie mit Sicherheit eher abschreckend bis gruselig. Dazu tragen vor allem die "toten Augen" der Figuren bei: weiße Augenhöhlen ohne Pupille, die in proportional deformierte Gesichter grobschlächtig wirkender Figuren eingebettet sind. Noch dazu sind alle Bilder eher monochrom und sehr flächig bis unübersichtlich gestaltet - auch durchaus vorhandene interessante und lustige Einzelheiten (wie etwa die fliegende Kuh auf der Illustration zur Belagerung der Burg Jagsthausen durch die Reichsritter) können da nicht mehr viel retten.

Konzentriert man sich nicht auf die Illustrationen, sondern auf die Texte, so ergibt sich ein ähnliches Bild: Die Handlung von "Kleider machen Leute" ist für Kinder durchaus nachvollziehbar - allerdings fragt sich der erwachsene Leser, warum Barbara Kindermann, wenn sie schon eine vereinfachende Nacherzählung für notwendig hält, immer noch recht komplizierte Worte wie etwa "entlarven" benutzt. Die recht verwickelten Personen- und Handlungsgeflechte des "Götz" erschließen sich dagegen in der vorliegenden Nacherzählung kaum noch. Dies liegt zum einen daran, dass viele Dinge - wie etwa der große Gerechtigkeitssinn des Götz - lediglich apodiktisch behauptet werden, ohne dass sie anschaulich in der Handlung demonstriert würden. Zum anderen geht dieses Manko darauf zurück, dass ohne ein Minimum an historischem Hintergrundwissen ein Verständnis der doch sehr politischen Abläufe kaum denkbar ist - und eben dieses Hintergrundwissen kann bei Grundschülern nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden.

Bliebe schließlich noch die Frage offen, ob die beiden Bücher den Originaltext der Werke an die Kinder weitervermitteln, denn es muss wohl Ziel der Reihe sein, einen Eindruck nicht nur der Handlung, sondern auch der Originaltexte in ihrer stilistischen und sprachlichen Besonderheit zu geben - sonst wäre der Einbau von deutlich als solchen gekennzeichneten Originalzitaten in die jeweilige Nacherzählung kaum nachvollziehbar. Auch diese - durchaus gute - Absicht bleibt indessen uneingelöst. Die Zitate, die in die Nacherzählungen übernommen werden, sind meist absolut unspezifisch: Es handelt sich eben nicht in erster Linie um allseits bekannte und oft zitierte Stellen (obwohl gerechtigkeitshalber zugegeben werden muss, dass in Kindermanns "Götz" wenigstens Götz' berühmte Antwort auf die Übergabeforderung - "Er aber, sag´s ihm, er kann mich..." - enthalten ist), stattdessen werden Sätze und Satzfetzen eingebaut, die jedem beliebigen Zusammenhang entnommen sein könnten, wie etwa "Du bist verwundet?", "Er will nicht kommen?", "Die Zeiten sind vorbei", "Hast Du mir etwas mitgebracht?" und so weiter. Es ist kaum anzunehmen, dass diese Versatzstücke den Kindern einen Eindruck von Goethes oder Kellermanns literarischen Errungenschaften und ihrem persönlichen Stil geben können.

Was lässt sich also zusammenfassend über "Weltliteratur für Kinder" à la Kindermann sagen? Hauptsächlich dies: Diese Bände sind keine Kinderbücher im eigentlichen Sinne. Sie sind von Erwachsenen konzipiert und hergestellt, die sicher die besten Absichten bei der Produktion hatten - das Ergebnis erinnert allerdings stark an verschiedene Lernspiele, wie etwa das ungeliebte, in jedem Kinderzimmer vorhandene Verkehrsmemory. "Weltliteratur für Kinder" orientiert sich nicht an den Interessen von Kindern; die Reihe greift weder deren ästhetische noch literarische Vorlieben auf. Stattdessen zielen die Bücher deutlich auf eine erwachsene Käuferschicht ab: Es handelt sich um "wertvolle" Bücher, bei deren Lektüre - so der Eindruck - die Sprösslinge noch etwas lernen und sich gleichzeitig schon einmal mit moderner Illustrationskunst vertraut machen können. Das Vergnügen und die Freude am Lesen, die doch grundlegende Voraussetzung für eine spätere Literaturbegeisterung sein müssen, bleiben dabei allerdings - im Falle des "Götz" eindeutig, bei "Kleider machen Leute" jedenfalls teilweise - auf der Strecke.

Titelbild

Barbara Kindermann: Götz von Berlichingen. Nach Johann Wolfgang von Goethe. Weltliteratur für Kinder.
Kindermann Verlag, Berlin 2004.
36 Seiten, 15,50 EUR.
ISBN-10: 3934029132

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Barbara Kindermann: Kleider machen Leute. Nach Gottfried Keller. Weltliteratur für Kinder.
llustriert von Sybille Hein.
Kindermann Verlag, Berlin 2004.
36 Seiten, 15,50 EUR.
ISBN-10: 3934029175

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