Provokationen eines Unangepassten

Elias Canettis "Aufzeichnungen 1954-1993" im Rahmen seiner Werkausgabe

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Elias Canettis Texte sind zwischen den verschiedensten Genres der Literatur angesiedelt. Wichtig für ihre Rezeption ist aber das spezifische Sprachbewusstsein ihres Autors. Obwohl die Anzahl der nicht im engeren Sinne dichterischen Texte in seinem Werk weit überwiegt, sind sie alle auf der Ebene der Sprachgebung intensiv wortbezogen. Die kulturelle Vergangenheit, für die er sich so nachdrücklich verantwortlich fühlte, war für ihn ausschließlich in den "überlieferten Worten" enthalten, mit denen er sich diskursiv auseinander setzte und aus dessen Unerschöpflichkeit er seine dichterischen Energien bezog.

Anders etwa als Robert Musils Essayismus, der Canetti als Vorbild diente, ist seine eigene Wörtlichkeit nicht dialogisch, sondern vielstimmig monologisch und deshalb eher Missverständnissen ausgesetzt - eine Gefahr, die er zuweilen selbst sah. So heißt es in "Die Fliegenpein": "Seine Wahrhaftigkeit liegt in der Übertreibung. Er lügt, wenn er nicht übertreibt". Es geht dabei immer um die Wörtlichkeit nicht der Gedanken, sondern der Worte, um das Sprechen, nicht das System der Sprache. Mit "Die Fliegenpein" hat Canetti 1992 ein aus der Fülle seiner in Jahrzehnten entstandenen Aufzeichnungen komponiertes Buch vorgelegt, das den ganzen weiten Horizont seines Denkens verdeutlicht. Immer und bei jeder Re-Lektüre aufs Neue regen diese Prosaminiaturen den Leser zu eigenem Denken an. Die Probleme von 'Masse' und 'Macht', der Liebe, der Missachtung und des Hasses, der Geschichte und ihres Sinnes, unseres Umgangs mit den Lebewesen, die wir lieben, quälen und töten - den Tieren, und schließlich des Todes und des Überlebens stehen hinter Canettis nie ruhenden, nie sich beruhigenden Fragen. Seine scharfen und oft überraschenden Formulierungen treffen den Leser wie Blitze, die schon vergessene oder schlummernde Empfindungen jäh beleuchten und neue Zusammenhänge erkennen lassen.

Nicht selten stellt sich beim Lesen Verblüffung angesichts Canettis grotesker Formulierungen ein. Wenn der Begriff 'Surrealismus' noch einen Sinn ergibt, dann in manchen Textminiaturen, wo der Realismus der Beschreibung auf ihren Höhepunkten ins Fantastische übertrieben wird. Zwischen Sprüchen und Aphorismen stehen knappe Portraits von Menschen, bekannten und unbekannten, denen Canetti begegnet ist, konzentrierte Essays - etwa über das Altern, über Isaak Babel oder die Tragödien des Sophokles - und Zitate östlicher Weisheit oder aus der Literatur sowie Bemerkungen zur Politik. Canetti zieht hier das Fazit lebenslanger Denkprozesse und setzt sich mit der Figur des Intellektuellen als Exilierter am Rand der Welt und der Sprache auseinander, der nur im Fragment das "Eigentliche" findet und in der Entfernung die einzige Möglichkeit des Nahen erkennt - ein Topos, dem Adornos "negative Dialektik" so gut zugehört wie Benjamins magisch enthüllender Blick, Derridas "différance" so gut wie Heideggers spätes "Sein". Canettis Texte positionieren sich jedoch anders, indem sie stärker als die Genannten die Beweglichkeit des Weltbürgers und sein Verständnis für die komplexe Gleichzeitigkeit verschiedener Aspekte der Moderne seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts reflektieren. Vor allem in den Nachkriegsschriften hat sich Canetti mit diesen Fragen beschäftigt, ohne sich auf die antiaufklärerische Position einer mimetischen Zelebrierung dieser zerstörerischen Potenzen zurückzuziehen. Seine in den Aufzeichnungen ansichtig werdende Kulturkritik basiert auf der Verpflichtung des modernen Intellektuellen zur Verantwortung für seine natürliche und kulturelle Welt.

Canettis aphoristisch enthüllender Blick ist nicht der magisch unterbrechende Blick Benjamins; in seinen Essays geht es nicht um den von Adorno zelebrierten fragmentarischen Moment, in dem das Ganze bedeutungsvoll aufleuchtet. Die oft schneidende Wörtlichkeit seiner Beobachtungen ist nicht Selbstzweck: Die aphoristische Zusammendrängung soll Raum haben für verschiedene Leser. Der so schwer zu fassende Aspekt des "Dichterischen" liegt bei Canetti in der Möglichkeit von neuen Einsichten, die den Leser gerade in der Bestätigung seiner eigenen Erfahrung überraschen. Anders als Musil präsentiert sich Canetti in diesen Texten nicht als "poeta doctus", obwohl seine "Gelehrsamkeit" immer wieder hervorgehoben worden ist. Seine aphoristisch konzentrierten "Einfälle" machen ihn nicht zum "Denker"; primär ist er ein sozial intelligenter und belesener "Dichter". Aber er hat zu einem besonders hohen Grad darauf bestanden, dass auch der literarische Diskurs sich der Probe der Lebenswelt stellen, d. h. eine mit anderen geteilte sozialpsychologische Wirklichkeit in ihrer Partikularität erhellen muss.

Dieses Verfahren einer 'poetologischen Anthropologie', wie es sich vor allem in Canettis Hauptwerk "Masse und Macht" wiederfindet, versagt sich weitgehend einer begrifflich artikulierbaren Ordnung, einer These. In den "Nachträgen aus Hampstead", Canettis letztem Buch, dessen Manuskript er kurz vor seinem Tod 1994 seinem Verleger übergeben hatte, finden sich Äußerungen zu diesem Problem. Insgesamt handelt es sich hierbei um eine Auswahl von bis dahin unveröffentlichten Aufzeichnungen aus den Jahren 1954 bis 1971, in denen die Absichten und das Gelingen seiner Texte im Ganzen anders bewertet werden als in früher veröffentlichten Aussagen zum Werk. Die hier zugänglich gemachten Überlegungen artikulieren offen die Zweifel des Schriftstellers, der sich während der letzten Jahre der Arbeit an "Masse und Macht", und vor allem nach dessen Abschluss, seiner "Berufung" keineswegs sicher ist. In der 1971 begonnenen Autobiografie wird sich das dann ganz anders anhören, bestätigt Canetti doch gerade dort in hohem Maße das bedeutsame So-und-nicht-anders-Werden seines Werkes als "starke Richtung" seines Lebens und damit auch dessen über alle Zweifel erhabene kulturelle Prägnanz. Die spät veröffentlichten, weitaus nachdenklicheren Aufzeichnungen zu den Entscheidungen Canettis klären manches und verdunkeln wiederum anderes. Mit der Bedeutung des Werks wird auch indirekt die verbale kulturelle Überlieferung, von der es so nachdrücklich zehrte, für Rückfragen freigegeben.

Auch die posthum erschienenen Aufzeichnungen aus den letzten Jahren seines Lebens präsentieren den unangepassten Einzelgänger in seiner ganzen Radikalität. Sein unbekümmertes und oft gewaltsames Aufbrechen der Bedeutungen sozialer Existenz befremdet auch hier und verletzt bewusst intellektuelle Tabus. Gleichwohl sind die Unangepassten für Canetti "das Salz der Erde, sind die Farbe des Lebens, sind ihr Unglück, aber unser Glück". Die letzten Notate der Jahre 1992 bis 1993 bestechen durch eine strenge Selbstbefragung, die auch das eigene Werk nicht ausnimmt: "Wenn die Trostlosigkeit keinen Grund hat, verkleidet sie sich in Enttäuschung über ein Leben, das vermeintlich keines war. - Aber es war doch mehr als eines, es war ein Leben für Viele, Angst für Viele, Erwartung für Viele. Und wenn auch sehr selten: Gelingen. Nicht einmal Glanz hat diesem Leben ganz gefehlt". Diese Aufzeichnungen lesen sich als geistiges Vermächtnis eines Menschen, der in vielen Lese- und Lebenswelten zu Hause war: in den Mythen und Literaturen der Erde, aber auch in unserer Gegenwart, die er mit kaltem Blick und mit Mitleid zugleich analysiert, befragt und zum Teil auch verurteilt hat: "War es der Mensch wert, erfunden zu werden? Gab es keinen anderen Weg, die Erde zu ruinieren?"

Canettis scharfsichtige, provozierende "Hütungen" kultureller Verwandlungen haben sicherlich zum Verständnis der rapiden sozialen und politischen Veränderungen des in vielen Punkten noch immer dunklen 20. Jahrhunderts beigetragen. Vor allem aber seine Aufzeichnungen, sein 1942 begonnenes und erst kurz vor seinem Tod abgeschlossenes intellektuelles Tagebuch, gehören fraglos zu den bleibenden, unerschöpflichen Büchern des 20. Jahrhunderts, nicht nur weil sie die großen Themen seines Lebens bündeln, sondern zudem noch große Literatur sind. Neben vielem anderen ist es das unbestrittene Verdienst der bei Hanser erscheinenden Ausgabe der Werke Canettis, die Aufzeichnungen in zwei Bänden zusammenzuführen: in dem Band "Aufzeichnungen 1942-1985", der die früheren Sammlungen ("Die Provinz des Menschen" und "Das Geheimherz der Uhr") enthält, und in dem vorliegenden Band "Aufzeichnungen 1954-1993", der die später erschienenen Bücher "Die Fliegenpein", die "Nachträge aus Hampstead" sowie die posthum veröffentlichten "Aufzeichnungen 1992-1993" enthält. Anlass genug für breite Leserschichten, über diese immer präzisen, oft verquer gedachten und in scharf geschliffener Sprache verfassten Aufzeichnungen den Schriftsteller Elias Canetti wieder einmal zur Hand zu nehmen. Geboten wird eine mitunter grotesk und surreal anmutende, immer aber nachdenklich stimmende Lektüre - angesichts des in letzter Zeit fulminant ansteigenden Bergs an Kulturmüll keine allzu schlechte Empfehlung.

Titelbild

Elias Canetti: Aufzeichnungen 1954-1993. Gesammelte Werke Bd. 5. Die Fliegenpein. Nachträge aus Hampstead. Postum veröffentlichte Aufzeichnungen.
Carl Hanser Verlag, München 2004.
477 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3446205527

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