Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen

Ein neues Abenteuer aus der Reihe "Der kleine Eisbär" von Hans de Beer

Von Marion MalinowskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marion Malinowski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lars, der kleine Eisbär, rettet das Schneehasenmädchen Lena aus einer misslichen Lage und findet so eine neue Freundin zum Spielen. Beim Wettrennen ist Lena von ihm nicht zu schlagen. Ansonsten jedoch erweist sie sich als vorsichtige, noch relativ unselbstständige Gefährtin, so dass Lars als erfahrener Beschützer auftrumpfen kann, als die beiden im Schneesturm die Orientierung verlieren und dann auch noch ein lautes Schneemobil vorbeirasselt. Sie folgen dessen Spuren zur Polarstation. Von dort kennt der kleine Eisbär den Weg und gönnt sich daher erst mal eine Picknickpause, während Lena lieber schnell nach Hause gehoppelt wäre. Lars ist in seinem Tatendrang nicht zu bremsen, und das rächt sich. Beim Erkunden der Polarstation plumpst er prompt durch den Luftschacht in die Schaltzentrale und ist gefangen. Plötzlich ist er es, der Angst hat. Nun muss Lena ihm helfen. Und siehe da: der vermeintliche Angsthase beweist Mut.

Die Eisbär-Geschichten des Niederländers Hans de Beer sind im Wesentlichen stets so zusammengesetzt: Der kleine Eisbär gerät unverhofft in eine gefährliche, außergewöhnliche Situation, findet Freunde, sie helfen sich gegenseitig, und am Ende sind alle wieder glücklich zu Hause. Mit diesem einfachen Muster - die Reihenfolge ist bis auf das Happy End variabel - hat er neben Kinderherzen wohl vor allem die Herzen der erwachsenen Vorleser erobert. Ihnen bietet die Figur des Eisbären Raum für Projektionen: Der knuffige Lars mit leicht melancholischen Zügen lebt einsam im weiten, kalten Norden, genießt die Freiheit und ist keinen Regeln unterworfen. Hinzu kommen die in zarten Pastelltönen gehaltenen Illustrationen und der sanfte Strich, mit dem Lars' bärige Rundungen angedeutet werden. Gleichzeitig erinnert seine spitze Schnauze an die Gefährlichkeit des realen Raubtiers, wodurch der Zeichner de Beer dem Kindchenschema elegant entkommt.

Nicht nur in den Bildern wird die Gratwanderung zwischen erwachsenengerechter Verniedlichung und kindgerechter Harmonisierung gut gemeistert. Während die Zeichnungen Lars bei seinen vielfältigen Unternehmungen zeigen, die schon die Jüngsten erfassen können, bietet der Text etwas mehr als die bloße Erzählung eines Abenteuers. Deshalb lohnt es, den kleinen Eisbären als Freund im Regal zu haben. Und darin liegt wohl auch ein Geheimnis des Erfolges der gesamten Reihe, die neben den Büchern in verschiedensten Ausgaben das Plüschtier Lars, Hörkassetten, ein Musical, einen Kinofilm und weitere Merchandising-Produkte hervorgebracht hat. Ohne erhobenen Zeigefinger können die Älteren mit Spaß Eigenschaften entdecken, die sie von sich selbst kennen. Im Laufe der Handlung hat Lars niemals wirklich böse Absichten, zeigt aber auch kleinere Charakterschwächen, etwa mit seinem Spott über die kleine Häsin. In dieser neuen Version der Geschichte - in einer früheren war der Hase noch männlich und hieß Hugo - kommt das Bilderbuch wohl dem Bedürfnis nach paritätischer(er) Geschlechterverteilung der Figuren entgegen. Lautet jetzt die Botschaft: auch angeblich schwächere Mädchen können heldenhaft sein und sind manchmal den Jungs überlegen? Zumindest vermittelt die Geschichte neben dem Wert einer verlässlichen Freundschaft Tugenden wie Hilfsbereitschaft und Unvoreingenommenheit. Vorschnelle Urteile und leichtsinnige Handlungen können schnell aufs Glatteis führen - oder in eine Polarstation.

Titelbild

Hans de Beer: Der kleine Eisbär und der Angsthase.
dtv Verlag, München 2004.
32 Seiten, 6,50 EUR.
ISBN-10: 3423079657

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