Die Macht der Pop-Philologie

Thomas Steinfelds textkritisches Sammelsurium

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es scheint evident: Mit dem Abdanken einer obsolet gewordenen, niemanden mehr interessierenden Philologie verlagern sich deren Techniken in einer postakademischen Variante auf die Felder des Sammelns und Ordnens im Alltag. Diese Art der Philologie sei zu einer "gesellschaftlichen Großmacht" geworden: "Ein wissenschaftlicher Eifer hat die gesamte Kultur ergriffen, und zwar ohne Rücksicht auf ästhetischen Rang und historische Bedeutung und gerne in den Niederungen des vermeintlich Trivialen. [...] Die Wissenschaft der populären Kultur übt Textkritik, wenn sie verschiedene Versionen desselben Liedes vergleicht [...]. Sie kennt historisch-kritische Gesamtausgaben. [...] Sie kennt die Notwendigkeit der wiederholten Lektüre und den Dialog, die Genealogie und die Biographik." Bei näherer Betrachtung meint Steinfeld ein arges Sammelsurium von Praktiken, die beileibe nicht nur auf jene eine Wurzel zurückzuführen sind: Hitparaden und Sport-Statistiken, Film- und CD-Editionen, quellen- und überlieferungskritisch erarbeitet und mit Sachkommentar versehen, Star-Biografien und -Nachlässe, Theorien, Geschichten und Enzyklopädien der populären Kultur. Und alles das werde mit der Leidenschaft des Buchhalters betrieben.

Steinfeld tritt mit einem teils gelehrten, teils populären Fundus an Zitierautoritäten auf, beachtet also in puncto Fußnoten die Usancen der 'alten' wie der 'neuen' Philologie, weicht aber in der Komposition seines Essays deutlich vom Ordnungsbedürfnis beider ab. Die Hauptthese wird in vielen Variationen wiederholt; zahlreiche aufgenommene und wieder fallen gelassene Fäden führen in allerhand Richtungen, von denen zu sagen ist, dass sie in genealogischer Absicht den Wandel kultureller Praktiken vom Horizont einer offenbar mit allerlei Zwängen konnotierten 'Bildung' zu dem der anspruchsvollen Freizeitbeschäftigung betreffen. Aufs Tapet kommen Themen wie Kanon und kollektives Gedächtnis, Sinn und Hoffnung, Geschichte und Magie - jeweils 'vorher' und 'nachher', soll heißen: als große, elitäre Erzählung und als breitenwirksames Aperçu. Einer derart romantisch-universalistischen, auf der Analogisierung in Technik und Anspruch aufbauenden Argumentation muss man geradezu Recht geben; das Goldene Zeitalter einer neuen, nicht ganz unschuldigen philologischen Aufarbeitung der Familie Duck oder der Werke Bob Dylans ist bereits angebrochen. Seinen Jüngern schenkt es den Traum von der eigenen Jugend wieder, grenzenlose Nostalgie, nicht selten unter dem Deckmäntelchen des Anspruchsvollen. Damit kann eine kritische Klopstock-Ausgabe nicht Schritt halten. Wenn es zutrifft, dass der Philologe in seiner Rückwärtsgewandtheit "das Richtige" wiederherstellen wollte, dann wäre es also seine kleine, private Sinnstiftung, die den Plattensammler mit dem Editor verbindet. Und Steinfeld traut der Philologie Unglaubliches zu, ein "Pathos des Ursprungs", im Verzichtleisten auf letzte Wahrheiten sogar Modernität und eine "Ästhetik des Widerstands gegen die Zeit" - allerdings könne dies alles heute nur noch die populäre Variante leisten!

Mit viel Lust an der Zuspitzung, mit einem Philologiebegriff, der mindestens das gesamte Feld der Geistes- oder Kulturwissenschaften einbegreift - Hauptsache "akademisch" - taucht Steinfeld in sein Thema ein: "Philologie kann Wissen von allem und jedem sein - unter der Voraussetzung, von allem und jedem nur in der Vorstellung, in der Phantasie zu wissen." Jene 'herkömmliche' Philologie schließt das hermeneutische Paradigma mit ein, das, romantischen Ursprungs, in der geistesgeschichtlichen Phase der Germanistik wiederentdeckt wurde - und Steinfeld argumentiert auch immer wieder wissenschaftsgeschichtlich, sodass schnell klar wird: Es geht beileibe nicht nur um die Beschreibung eines popkulturellen Phänomens, sondern auch um die Konstruktion einer Genealogie des Niedergangs, denn der "offenbar endgültige Rückzug in ein graues Expertentum ist nicht mehr als die dunkle, schäbige Seite eines wahrhaft universalen Erfolgs".

Obgleich diese dunkle Seite doch unter Zuhilfenahme eines üppigen Quellenfundus von Böckh und Lachmann bis in die jüngere Wissenschaftsgeschichte hinein ausgeleuchtet wird, häufen sich doch recht schematische Vorstellungen vom Philologen als rückwärts gewandtem "Anwalt des Zeitlosen", der in härteren Zeiten längst zum "Virtuosen des Jammerns" geworden sei, wenn auch "Staat und Gesellschaft" nach wie vor "hohe Vorschüsse auf Produktionen" gewährten, "die in privaten Haushalten keinen Platz mehr finden." Angesichts einer reichen Dylan-Forschungsliteratur, geschrieben für Millionen Dylanologen, erhebt sich en passant die nicht ganz neue Frage, "welchem Zweck" die alte Philologie diene. Antworten hat Steinfeld keine parat: "[D]ie germanistische Textkritik ist heute längst bei umfangreichen, mit großen Apparaten ausgestatteten Gesamtausgaben auch der drittklassigen Schriftsteller einer jeden Generation angelangt, die ohne diese Mühen längst in Vergessenheit geraten wären." Natürlich ließen sich zuhauf Gegenbeispiele finden; vor allem Autoren des 20. Jahrhunderts haben fast durchwegs nur kommentierte Studienausgaben erhalten, mitunter nicht einmal das.

Erstaunlich ist indessen der Grad an Unschuld, der implizit all den pseudophilologischen Betätigungen zugebilligt wird. In Vergessenheit gerät dabei allerdings die schlichte Tatsache, dass die Rezipienten von Bundesliga und Popmusik nicht zuletzt ökonomischen Interessen gehorchen, dass Hitparade, Sporthistorie, die "limitierte" (damit Güterknappheit statuierende) CD-Edition und jederlei Starkult sich dem Business ebenso fraglos anbequemt wie der daran partizipierende Sammler und Kommentator. Seine Leidenschaft ist auch stets Funktion einer ökonomischen Strategie - und heiße sie Punkrock. Bei aller Kritik an den vom Staat ach so verschwenderisch alimentierten Editoren kann man denen Vergleichbares nicht vorwerfen.

Doch Steinfelds Buch selbst belegt (unfreiwillig?) die Unentbehrlichkeit gerade der "alten" Philologie, denn nicht nur das Feuilleton, dessen Abkömmling der Essayband ja ist und zugunsten dessen er plädiert, sondern das in zahlreichen Fußnoten dokumentierte Wissen des mit einer Arbeit über Hegel promovierten Verfassers fußt zu großen Teilen auf akademischer Ausbildung. Dies trifft übrigens auch auf die Grenzgänger zwischen Philologie und Popkultur zu: Diederich Diedrichsen und Greil Marcus, Donaldisten und Lucky-Lukologen - wie ernst ihre Analysen immer gemeint sein mögen: selbst als Parodien und Travestien verraten sie noch die Macht der 'alten' Philologie. Wer deren Schulen nicht mehr durchlaufen hat, der dürfte auch an soziologischen Analysen Entenhausens nur noch geringe Freude haben; er wird sich den neuen Medien zuwenden, soweit sie auf den alten Bildungsballast in Form und Inhalt von vornherein verzichten. Von der Endlos-Soap - auf DVD auch Sammelobjekt -, von den qualitativ in der Regel begrenzten, quantitativ grenzenlosen Enzyklopädien des Internet ist in diesem Buch nicht die Rede. Hier endet das Reich des Bildungsbürgers, hier erst würde der Vergleich mit kritischen Editionen der Werke Kants, Kafkas oder Nietzsches unangemessen, selbst wenn man dann immer noch Gemeinsamkeiten im rezeptiven Ritual, im genüsslichen Verzeichnen und Kommentieren entdecken wollte.

Die These des Buches lässt sich unschwer auf die Biografie des Autors abbilden: das Feuilleton, nach Steinfeld jene Instanz, die auch heute noch starke (und gesamtgesellschaftlich relevante) Thesen aufzustellen vermag, vermittelt zwischen dem theorielastigen, lebenspraktisch kaum mehr legitimierbaren akademischen Herkommen und einem Alltag, dem vielleicht nur durch eine philologisch überformte Rezeption populärer Kultur beizukommen ist. Die unvermeidliche kulturwissenschaftliche Sinnfrage, voreilig verneint, erlaubt dann doch eine Rettung der Techniken, des Handwerks, der Aura der Philologie, die nun intellektuell weit weniger ambitionierte Freizeitbeschäftigungen nobilitieren helfen soll, um dabei selbst einigermaßen alt auszusehen. Steinfelds Polemik lässt aber immer wieder auch die Liebe zur Philologie erkennen, zum Fach Neuere deutsche Literatur, das es, wie er beklagt, heute noch nicht einmal zu einem verbindlichen Einführungs- oder Grundlagenwerk bringe.

Ähnlich wie Hans Ulrich Gumbrecht in seinem Brevier "Die Macht der Philologie" von 2003 zielt Steinfeld vermutlich auf etwas anderes ab als philologische Praktiker, ein gleichsam mittels handwerklicher Vorleistungen programmierbares ästhetisches Gefühl. War Gumbrecht an der Rettung eines auratischen Erlebnisses für Literaturwissenschaftler gelegen, herbeizuführen durch den physischen Kontakt mit der authentischen Handschrift, einer Metaphysik der Philologie, die der Nüchternheit des philologischen Alltags ganz besonders zuwiderläuft, so unternimmt Steinfeld eine großflächige Neucodierung von Philologie gewissermaßen im Namen der Interessen breitester Bevölkerungsschichten, allerdings unter Opferung der Tradition. Wenngleich in beiden Büchern, mit Carl Schmitt zu reden, ein Okkasionalismus der Philologiekritik am Werk sein dürfte, dem es letztlich um anderes geht, so lässt die Instrumentalisierung eines zu Beginn des 21. Jahrhunderts selbst wissenschaftsintern marginalisierten Paradigmas aufhorchen. Wenn man bedenkt, dass zumindest auf der Ebene der Historisierung von Schreib- und Überlieferungsprozessen, der Critique genétique etwa, auch in den neueren Literaturwissenschaften eine Rephilologisierung stattfindet, dann bietet dies Anlass zu der Hoffnung, die Selbstbehauptung der einst so genannten Philologien könne ausgerechnet durch ihre einstige Kerndisziplin gestützt werden. Verdienstvoll ist Steinfelds Buch also auch aus der Perspektive der Literaturwissenschaft, wie immer sich der Autor dazu verhält.

Steinfelds kritischer Wendung kommt das notorische Understatement der Philologen entgegen. Die Bedeutsamkeit ihrer Arbeit bis zum heutigen Tag erweist sich in ihren Resultaten, mit denen sich, oft natürlich in pragmatischer Abbreviatur, jedes Schulkind bei der Lektüre von Reclam-Heften, fast jeder Kafka- oder Thomas Mann-Leser konfrontiert sieht. Dem aufmerksameren Leser entgeht dabei nicht die Einsicht in die geschichtliche Bedingtheit nicht nur von Entstehung und Rezeption, sondern auch in die der Überlieferung von Texten. Nicht an der Reichweite philologischer Produkte mangelt es, sondern an einer leserfreundlichen Öffentlichkeitsarbeit der Editoren, die eine einseitige Identifikation von 'Philologie' mit zentnerschweren Folianten voller obskurer Lesarten weiterhin zulassen. Thomas Steinfelds dialektisches Projekt könnte, genügend Leser vorausgesetzt, neue Sensibilitäten erzeugen. Welcher Plattensammler weiß schon, in wessen Spuren er geht ...

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Thomas Steinfeld: Der leidenschaftliche Buchhalter. Philologie als Lebensform.
Carl Hanser Verlag, München 2004.
248 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3446205500

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