Der Kästner von heute

Sven Hanuscheks zweite Biografie des neusachlichen Autors

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Noch nie war Kästner so beliebt wie heute. Zu diesem Schluss muss man kommen, wenn man das Feld der Kästner-Biografien überschaut, allein die eindrucksvollen Neuerscheinungen zu und seit Kästners 100. Geburtstag am 23. Februar 1999. Bereits 1998 kam die umfangreiche Hardcover-Biografie von Franz Josef Görtz und Hans Sarkowicz auf den Markt, nur wenige Monate später folgten Hanuscheks erste, nicht weniger voluminöse Lebensbeschreibung des Autors und das im Vergleich dazu schmale, aber eine andere Zielgruppe bedienende Bändchen von Isa Schikorsky in der Paperback-Reihe "dtv-Portrait", der, aus verlegerischer Sicht, Hanuscheks zweites Werk in der Konkurrenz-Reihe "rowohlts monographien" spiegelbildlich entspricht. Bereits seit Anfang 2003 sind die Jubiläums-Kästneriana von Görtz/Sarkowicz und Hanuschek in einer preiswerten Taschenbuch-Ausgabe zu haben. Unbefangen darf also zunächst die Frage erlaubt sein: Wozu das neue Werk?

Dafür dürften verlegerische Gründe ausschlaggebend gewesen sein. In der renommierten Rowohlt-Reihe gab es immer noch die Kästner-Biografie von Luiselotte Enderle aus dem Jahr 1960 zu kaufen, die mit jedem Konkurrenzprodukt zunehmend älter aussah. Eine Ablösung war dringend erforderlich. Dass man bei Rowohlt nicht ganz auf Kästner verzichten wollte, ist verständlich. Es galt also, jemanden zu finden, der ein neues Werk so verfassen würde, dass es gegen die starke Konkurrenz bestehen kann. Nun ist Sven Hanuschek als einer der bedeutendsten Kästner-Forscher der Gegenwart (er hat kürzlich auch eine Briefausgabe ediert) zweifellos eine nahe liegende und ausgezeichnete Wahl. Ohne Herrn Hanuschek zu nahe zu treten, wäre es aber eine zweite Überlegung wert gewesen, ob man nicht jemand anderen nimmt, um eine Uniformierung des Kästner-Bildes der Gegenwart zu vermeiden.

Ohne die zweifellos richtige verlegerische Entscheidung der neuen Biografie anzuzweifeln, darf dem Werk Luiselotte Enderles nachgetrauert werden. Enderle war die Lebensgefährtin Kästners, und es ist davon auszugehen (auch der Stil des Büchleins spricht dafür), dass Kästner an seinem Standbild zu Lebzeiten kräftig mitgeklopft hat. Die alte Rowohlt-Monografie ist zwar extrem lückenhaft und schöngefärbt, aber sie ist bestes Lesefutter und bietet einige Informationen über Kästner zum allerersten und einzigen Mal. Kästner-Forscher sollten also auch künftig nicht darauf verzichten, sie zu konsultieren.

Doch nun endlich zum neuen Werk Hanuscheks. Im Stil der Kästner-Zeit gesprochen, könnte man es kurz machen und sagen: Hut ab. Die Biografie hat alles, was sie haben sollte: Sie ist sachlich geschrieben (das ist bei diesem immer noch umstrittenen Autor auch nötig) und bietet auf knappem Raum die wichtigsten Informationen. Man merkt an jeder Zeile, wie gut sich Hanuschek mit seinem Gegenstand auskennt. Selbst das Titelbild mit Zeitung und Zigarette ist gut gewählt; dieses Konterfei Kästners ist zwar nicht so bekannt, zeigt ihn aber als das, was er war und was sich vielleicht verbal auf den Begriff 'denkender Genussmensch' bringen ließe. Kästner war in vieler Hinsicht, da kann man Hanuscheks Vorwort nur voll und ganz zustimmen, "womöglich eher repräsentativ für das 20. Jahrhundert als ein Großschriftsteller mit dem Gebaren des ausgehenden 19. wie Thomas Mann". Auch viele Bewertungen im Detail lassen sich nur mit heftigem Kopfnicken lesen, etwa die Einschätzung, der bisher ein Mauerblümchendasein fristende Kinderroman "Der 35. Mai" sei "Kästners freiestes und phantasievollstes Werk".

Natürlich wird nicht jeder, der schon mit Kästner vertraut ist, alles ganz genauso sehen wie Hanuschek. Dieser sagt selbst, dass es bei Kästner noch viel zu entdecken und zu klären gibt, und das reicht von der zwischen Görtz/Sarkowicz und Hanuschek umstrittenen Frage, wer des Schriftstellers Erzeuger war (Emil Kästner oder Hausarzt Emil Zimmermann?), bis zu den vielen ungedruckten, nicht nachgedruckten oder nicht wieder aufgelegten Briefen, Theaterstücken, Gedichten und Zeitungsartikeln, die über den Kästner-Nachlass in Marbach und andere Quellen zu recherchieren wären.

Eine bessere Einführung in Kästners Leben und Werk gibt es derzeit nicht, und wie für alle Einführungen gilt: Wer mehr als das Nötigste wissen will, muss ohnehin zur weiterführenden Forschungsliteratur greifen. Bei den Kästner-Biografien sind das die erwähnten von Görtz/Sarkowicz sowie die von Hanuschek im Carl Hanser Verlag 1999 erschienene, die parallel zu lesen wären; dazu kommen zahlreiche Spezialstudien. Der nun vorliegende Band von Sven Hanuschek macht deutlich, wie spannend und wie lohnend dieses Unterfangen sein kann. Die vielen Gesichter des Erich Kästner zeigen, dass es den Kästner nicht gibt und dass es vielmehr gilt, den eigenen Kästner zu entdecken.

Titelbild

Sven Hanuschek: Erich Kästner.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2004.
159 Seiten, 8,50 EUR.
ISBN-10: 3499506408

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