"Je suis le big zombie"

Martin Amanshauser errichtet ein Monument für Richard Brautigan

Von Ralf SchneiderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ralf Schneider

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Bevor ich von 'Wahnsinnigen' entführt wurde, die mich zu ihrem Gott machen wollten, durchlebte ich eine längere Krise." Wer dem naiven Charme dieses - selbst leicht vom Wahnsinn gezeichneten - Einstiegssatzes nichts abgewinnen kann, braucht diese Rezension eigentlich gar nicht weiterzulesen. Denn Martin Amanshausers neuer Roman "Chicken Christl" übertrifft mit Leichtigkeit alles, was auch eine kühne Fantasie sich von einem solchen einleitenden Versprechen erwarten kann. Stichwort Fantasie: Sie regiert in "Chicken Christl" so rückhaltlos, dass man sich mitunter eine etwas verhaltenere Gangart wünschen könnte, damit einen der aberwitzige und einigermaßen trashige Plot nicht abhängt. Der Verstand ist bitte am Eingang abzugeben, und wer auf Ansprüchen wie Kausalität und Wahrscheinlichkeit besteht, wird nach spätestens 50 Seiten mit Überforderung der Einbildungskraft bestraft. Wer sich aber eine ordentliche Prise kindlicher Verspieltheit erhalten hat, wird an dieser liebenswerten Freakshow auf jeden Fall seine Freude haben.

Die Hauptfigur dieses ironisch zwischen Biotechnologie-Thriller und psychopathologischer Krankengeschichte schwankenden Romans ist Mika Koegl, ein reichlich unentschlossener Millionenerbe österreichischer Abstammung. Er 'leidet' unter Hexadaktylie, hat also sechs Finger an jeder Hand, genau wie sein Großvater Major Koegl, Mastkükenmogul und späterer Präsident der USA. Gemeinsam mit seinem Busenfreund und Berater Teddy Novgor hatte dieser einst das Familienanwesen zu einem dubiosen biochemischen Forschungsinstitut umgebaut. Seine Eltern verehrten Novgor derart, dass sie nach seinem Tod die "Novgoristen" gründeten, eine Mischung aus Forschungsgemeinschaft und okkulter Sekte, die sich dem Erbe ihres Namensgebers verschrieben haben und Mika wegen seiner Hexadaktylie wie einen Gott verehren. Neben der Genetik und Stammzellenforschung stehen dynamische Suggestion, Trancepraxis und Voodoo auf dem Forschungsplan der Gesellschaft.

Aber seine wunderliche Kindheit hat Mika hinter sich gelassen, er hat den Kontakt zu seiner Familie abgebrochen. Doch die Vergangenheit holt ihn auf bizarre - und höchst amüsante - Weise wieder ein. Denn als seine Freundin ihn überredet, seine überzähligen Finger operativ entfernen zu lassen, werden die Novgoristen aktiv. Sie entführen ihn und halten ihn in einer Fabrikhalle als lebendes Altarbild gefangen. Per DNA-Vergleich beweisen sie, dass Mika ein Klon seines Großvaters ist und wollen ihn überreden, als Maskottchen der Biotechnologie und durch ein eigenes Mika-Label Millionen zu verdienen. Ist Mika ein biotechnischer Zombie? Ist das schon Wahnsinn oder noch (fantastische) Wirklichkeit? Das lässt sich im Laufe der Lektüre immer schwieriger unterscheiden.

Doch zu Beginn des Romans beginnt erst einmal die erwähnte Krise zu greifen: Seine Freundin verlässt ihn, er verliert seinen Job und zieht sich ganz in sich zurück. Er setzt keinen Fuß mehr vor die Tür, ernährt sich ausschließlich von Suppenhuhn und versucht die Zeichen zu entziffern, die die vom Fenster aus sichtbaren Drachenflieger in den Himmel schreiben.

Amanshauser koppelt seinen Protagonisten auf eine Weise von seinem Lebensalltag ab, die deutsche Leser am ehesten aus Haruki Murakamis Romanen kennen dürften. Mika Koegl überlässt sich wie die Murakamischen Helden dem Lauf der Dinge: Voller Passivität und kindlichem Staunen, ohne Kritik oder Zweifel registriert er die fantastischen Entwicklungen, die ihn erwarten. Anders als bei Murakami läuft allerdings noch ein deutlicher psychopathologischer Subtext mit, denn die ganze Geschichte könnte Produkt eines paranoiden Wahns ihrer Hauptfigur sein. Unterstützt wird eine solche Lesart durch Mikas Hypochondrie und seine zahlreichen Zwangsstörungen, deren skurrile Symptome den Roman in Gestalt von running gags durchziehen.

Wenn sich diese krude Story höchst vergnüglich liest, so dürfte das auch am merkwürdig somnambul-distanzierten Stil liegen, in dem Amanshauser erzählt. Er ist gleichermaßen von Melancholie und Unbedarftheit getragen. Hier wird nicht erklärt oder psychologisiert (das macht dann der Rezensent), hier wird einfach nur erzählt. Das wirkt dann sehr losgelöst, quasi wattiert, betäubt. Sehr kurze Sätze werden zu kurzen Absätzen gereiht, die meist in einer Pointe enden, die zudem oft auf Kosten des Erzählers geht. Wie ein depressiver Clown unterhält der erzählende Mika sein Publikum und wirkt dabei oft sehr drollig und bemitleidenswert. Dieser unwiderstehliche, alles Komische unter Lakonie und Einsilbigkeit begrabende Stil, der gewissermaßen um die Liebe des Lesers buhlt, erinnert deutlich an einen amerikanischen Schutzheiligen dieses Romans: Richard Brautigan (ein wenig aber auch an Kurt Vonnegut). Er ist nicht nur stilistisch ständig präsent, denn Amanshauser, der bislang großen Wert auf österreichisches Lokalkolorit legte, siedelt seinen Plot auch noch in Tacoma, dem Geburtsort Brautigans, an.

Da nun dieser Stoff, aus dem die Bücher Vonneguts und Brautigans gemacht sind, gnadenlos süchtig macht, und außerdem solch liebevoll-sarkastischer Humor in der deutschsprachigen Literatur praktisch nicht existiert, ist man über jede Erweiterung des Kanons froh. Und was gibt es Ehrenwerteres, als ein literarisches Monument für Richard Brautigan zu errichten?

Titelbild

Martin Amanshauser: Chicken Christl.
Deuticke Verlag, Wien 2004.
181 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3216306798

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