Er ist immer noch da, er ist noch lange nicht unser

Betriebsgeheimnisse des Geistes: Die Schiller-Biographien von Sigrid Damm und Rüdiger Safranski

Von Hans-Jürgen SchingsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Jürgen Schings

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ist Schiller wieder da? Das Gedenkjahr 2005 steht vor der Tür, ohne daß man befürchten müßte, Schiller würde auch diesmal, wie in längst verflossenen Zeiten, aus Überschwang in Grund und Boden gefeiert. Da ist es ein ermutigendes Zeichen, daß uns jetzt gleich zwei renommierte Autoren, die nicht (mehr) im akademischen Milieu zu Hause sind, mit umfänglichen Monographien auf das Jubiläum einstimmen. Was also gibt es demnächst zu feiern? Ist die Materie Schiller immer noch entzündlich? Unterschiedlicher freilich könnten die beiden Bücher nicht sein.

Sigrid Damm macht von Anfang an deutlich, daß sie sich schwertut mit dem ungeliebten Klassiker. "Ich gehe mit dem Gedanken um, über Friedrich Schiller zu schreiben." Eigentümlich zögerlich, mit einem Satz, der noch nach seinem Warum sucht, eröffnet sie die "Wanderung", die sie durch Schillers Leben führen soll. Die beginnt jedenfalls lustlos und mit kleinem Gepäck. Gut, die Schiller-Denkmäler tragen nicht eben zur Emphase bei: In Mannheim irritieren, in Augenhöhe, "Schillers Waden"; in Dresden sind es die "nackten Zehen", die vom "steinernen Anblick" bleiben; vor dem Theater in Weimar verbreiten die beiden Klassiker - man kennt das Wort - "klassische Kälte", lebendig sind dort nur die Skateboard-Fahrer. Der Blick ist getrübt, das Gefühl springt nicht an. Folgt die Schiller-Lektüre. Vieles lese sie zum ersten Mal, bekennt die angehende Schiller-Biographin. Doch die Vorurteile bestätigen sich, die Schreckensworte sind rasch zur Hand: "Der Idealist. Der Moralist", der das "Erhabene, Edle, Große" "strapaziert". Immerhin gibt es auch "Faszination", wenn auch auf kleiner Flamme und ein wenig hilflos: der Spannungsbogen des Werks, Lauterkeit, Wahrheitssuche, Höhenflüge, aber immer mit Abstürzen, also auch "Brüche, Risse, Abgründe". Die "Jahrhundertferne" verliere sich, wird beteuert. Das grundierende Unbehagen aber bleibt, und es wird nie ganz verschwinden.

Diese Biographie ist kleinmütig, sie kapituliert vor dem Vorurteil, statt es aufzubrechen. Sie will realistisch sein, den Idealisten unterlaufen, möchte den Alltag, einen Schiller von unten, die "kleinen Gesten", den "unspektakulären Weg". Sie sucht das solidarisierungsfähige Sentiment, die Einfühlung womöglich ins Schlimme, den joy of grief (wie die Empfindsamen des achtzehnten Jahrhunderts sagen), und pflegt dabei die sanfte Form der Ideologiekritik, das Ressentiment. So entsteht ein gefühlter Schiller, der ohne Denkarbeit auskommen muß, einer, der unaufhörlich arbeitet, ohne daß man erfährt, wofür.

Denn diese Biographie bietet nur den halben Schiller, sie flieht entschlossen vor dem Werk. Das ist Absicht und kein Wunder, würde sich die Wanderung doch erheblich komplizieren, zumal die Konkurrenz erdrückend ist (man denke nur an die große professionelle Schiller-Biographie, die jüngst Peter-André Alt vorgelegt hat). Wenn Damm bei den Werken haltmacht, dann denkbar kurz, nach ein paar Schlagworten geht es weiter. Zwei Seiten für die "Räuber" (die sie doch für das Stück der Stücke hält), eine für "Kabale", fünf Zeilen für "An die Freude", nichts über den "Fiesco", so gut wie nichts über "Don Karlos". Beim "Wallenstein", den sie dreimal liest, klagt Damm über die verwirrende Forschungsliteratur, zitiert ein paar kräftige Rezeptionszeugnisse, schildert dann aber, auf nicht weniger als dreißig Seiten, die mühevolle Entstehungsgeschichte - also "Schwere Stunden" in Serie. Die "Ästhetische Erziehung" ("Es ist keine leichte Lektüre") führt zum Stoßseufzer: "Schön wäre es, der Leser würde hier das Buch aus der Hand legen und nach Schillers Texten greifen ..." Soviel immerhin läßt die Autorin über Schillers intellektuelle Welt erkennen: Sie strandet an den Verhältnissen, endet in zerplatzten Illusionen, gibt machtlos den Fortschritt zugunsten des öden Kreislaufs der Geschichte preis und führt so die Autorin unmittelbar von einer Misere in die andere, in die der Gegenwart.

Was bleibt, sind die Briefe. In der großen "Nationalausgabe" und im Deutschen Klassiker Verlag mustergültig ediert und üppig kommentiert, bilden sie die Landschaft, die Sigrid Damm durchwandert. Wohl die Hälfte ihres Buches besteht aus Zitaten. Der verbindende Text ist das Element, in dem sie sich einem womöglich zutraulichen Schiller, dem "Menschen", zu nähern sucht. Bis zur Manier liebt sie dabei die Figur der asyndetischen Reihung, das suggestive Staccato: "Ein Flüchtling, Fremder, ein ins Exil Gezwungener." "Die Wegstrecke von Naumburg nach Weimar. Schwatzen der Kinder. Charlottes Schweigen. Schiller vor der Entscheidung." Neuigkeiten darf man nicht erwarten, vielleicht aber ein paar auffällige Akzente?

Nun ja, streng wird Schillers Schuldenmacherei gemustert - drückende Schulden und doch Ausgaben für teure Extrapost und standesgemäße Garderobe! Der Liebhaber Schiller hat nicht viel an- und ausgerichtet, er gibt nicht viel her, obwohl Sigrid Damm Charlotte von Kalb zu seiner "Geliebten" macht. Der Ehemann sucht ein wohltemperiertes Heim, sammelt dann aber gute Noten als sorgsamer Vater. Die Gattin, "die Dezenz", wie sie genannt wird, gefällt nur mit Maßen, nicht zuletzt wegen ihrer Reserve gegenüber Christiane Vulpius. Hier - und niemand weiß das besser als die Christiane-Biographin - liegt nun aber auch ein fataler Schwachpunkt der Freunde Goethe und Schiller: Sie grenzen Christiane aus. "Kleinheit im Privaten" müssen sich die Großen bescheinigen lassen.

Überhaupt diese Freundschaft. Obwohl Sigrid Damm Schillers initiierenden Brief ein "berührendes Dokument" nennt, verläßt sie kaum je der Soupçon, daß im Untergrund ein schon sehr viel früher einsetzender Konkurrenzkampf zwischen den beiden rumort. Goethe setzt sich für Schillers Jenaer Professur ein? Er möchte einen Konkurrenten nach Jena abschieben. Konkurrenz auf dem literarischen Markt - das mürrische Stichwort lauert denn auch überall, wo Schiller mit Schriftstellerkollegen in Berührung kommt (Bürger! Hölderlin!). Versteht sich, daß die Biographin sich vor allem dort wohl fühlt, wo sie kleine familiäre und häusliche Gefühlsoasen ausmacht - über das Gartenhaus in Jena und die Weimarer Umzüge erfährt man alles; Leben und Tod von Schillers Eltern ziehen schöne, eingehende Exkurse auf sich, auch Schillers Kindermädchen wird nicht vergessen. Hat sich Sigrid Damm schließlich mit ihrem Schiller solidarisiert? Wir wollen es hoffen.

Wie es Fortuna oder die ausgleichende Gerechtigkeit will, hat Schiller in Rüdiger Safranski gleich einen ganz anderen Monographen gefunden. Und sagen wir es gleich: Er ist ein souveräner und nobler Anwalt seines Autors, ein Ritter ohne Furcht und Tadel, der in vollkommener Liberalität daherkommt. Wagt er es doch, just das Heikelste, den verpönten Idealismus, entschieden und programmatisch in den Mittelpunkt seiner Darstellung zu rücken. Der letzte Brief Schillers an Wilhelm von Humboldt erklärt im April 1805: "Und am Ende sind wir ja beide Idealisten und würden uns schämen, uns nachsagen zu lassen, daß die Dinge uns formten und nicht wir die Dinge." Safranski nimmt Schillers Credo ohne gewundene Distanznahmen beim Wort. Das färbt noch den Duktus seines Buches ein. Er läßt sich anstecken von seinem Autor, von dessen "grandiosem Versuch, den Geist der Freiheit ansteckend zu machen", von dessen Verve, die "eine ganze Epoche in Schwung gebracht" hat, von dem Viergespann der Mächte, die Schiller befeuert haben: Enthusiasmus und Freundschaft, Poesie und Freiheit. Ein "Sartre des späten 18. Jahrhunderts", so lautet eine von Safranskis griffigen Formeln. Die unvergessene Käte Hamburger hatte sie vorgegeben. Erinnern darf man sich aber auch an Emil Staigers Schiller-Buch, das vor fast vierzig Jahren rigoros das vom Willen gesteuerte Selbstschöpfertum Schillers in der "Fremde des Lebens" statuierte.

Es ist der Geist, der sich den Körper baut." Der sich in die Welt entwirft und ihr seine Setzungen zumutet. Dieser Devise folgt Safranski, wenn er mit Lust gegen eine Barriere von Mißvergnügen und coolness angeht. Mit gewundenen Apologien jedenfalls hält er sich nicht auf. Safranski, mit vielen Wassern der Philosophie- und Literaturgeschichte gewaschen, kommt aus der Tiefe dieses Raumes und ergreift die Offensive. Er denkt sich in einen Mann und in seine Zeit hinein, die er umstandslos ein "goldenes Zeitalter" nennt. Und er versteht es, diesen Glanz zum Leben zu erwecken. Er kann Philosophie erzählen, so daß ihre "Betriebsgeheimnisse" (eines seiner Lieblingswörter) sich vor dem Leser entfalten, ohne tüftelnde Pedanterie und doch ohne Konzessionen ans Populäre.

Nirgends wird nur referiert oder paraphrasiert, also gibt es auch keine Langeweile. Nichts verbleibt im Status des Schlagworts oder Gemeinplatzes, auch das allzu Bekannte und Abgenutzte erwacht zum Leben. Safranskis Darstellung befolgt solchermaßen selbst die Regel, die sie für den Idealismus geltend macht: Sie nimmt Geist wahr in allem, was lebt. So entsteht eine fesselnde Sachlichkeit, die sich von schnellfertigen Einfällen ebenso fernhält wie von "gesinnungsstarken Auftritten und meinungsfrohem Gefuchtel" (wie Safranski das auch für seinen Autor diagnostiziert).

Sturm und Drang, Genie, Herder zum Beispiel - die Seminarluft ist wie weggeblasen, wenn Safranski den Beginn der intellektuellen Karriere des Karlsschülers Schiller beschreibt - schon hier eine Lust am Ich, deren höchster Prophet dann Fichte sein wird. Die philosophisch-physiologischen Dissertationen des jungen Mediziners - der erste Kampf zwischen Körpermaterialismus und Freiheit kommt zu Gesicht, und Safranski weiß dessen Aktualität zu mobilisieren. Wie er das macht, wie er die erkenntnistheoretischen Operationen im "Audienzsaal des Geistes" (Locke) beschreibt, die materialistische Entmachtung des Königs und die listige Gegenwehr seines Verteidigers, ist meisterhaft. Und so geht es weiter, von einem intellektuellen (und poetischen) Ereignis zum nächsten. Nicht, daß Safranski deshalb das biographische Pensum vernachlässigte, er absolviert es sorgfältig und unaufgeregt - es ist der ganze Schiller, den er seinen Lesern bietet.

Das Feuer aber packt ihn, sobald Gedankenarbeit zu verrichten ist. Schillers emphatische Liebesphilosophie mit ihren weitläufigen Folgen ist ein solcher Fall. Kopfschütteln läßt Safranski nicht gelten, er macht sie, den "Abwehrzauber" gegen eine entzauberte Welt, plausibel. Auch wenig bekannten oder geschätzten Texten kommt Safranskis beharrliche Luzidität sehr zustatten, so der "Theosophie des Julius", dem Kern jener Liebesphilosophie, dem "Geisterseher"-Roman mit seinem Cagliostro- und Geheimbund-Hintergrund oder der "Sendung Moses", die, ebenfalls (durch Karl Leonhard Reinhold) freimaurerisch tingiert, das "Betriebsgeheimnis einer Religion" aufdeckt, zudem Licht auf Schillers eigene Religion (eine spinozistisch-ästhetische) wirft. Selbst aus den historiographischen Schriften schlägt Safranski Funken; der "Abfall der Niederlande" ist ihm "eines der großen Prosa-Ereignisse in deutscher Sprache".

Zum Kernstück der erzählten Philosophie wird natürlich die Zeit der "großen Theorie". Hierhin gravitiert Safranskis Darstellung von Anfang an. Die neunziger Jahre bündeln alle Motive, und Safranski entwirrt und hortet den Reichtum. Paris oder Jena/Weimar, so lauten die "Tendenzen" (Friedrich Schlegel), so heißt die Alternative. Dort die Revolution und damit die "Explosion des Politischen", hier die Werkstätte des Deutschen Idealismus und der Statthalter der Poesie. Schiller trifft seine Entscheidungen, "für die Kunst und für Kant" ("das gute theoretische Gewissen") zunächst, dann folgerichtig auch die für Goethe. Warum er sich so entscheidet, schildert Safranski ohne Bedauern. Denn er billigt Schiller zu, daß auch hier ein Weg zur Freiheit liegt, ein Weg ohne Gewalt, der Freiheit durch Freiheit geben will. Der von der Nationalversammlung zum "Citoyen français" Ernannte erklärt wenig später, und dies pointiert, die ästhetische Welt zu einer Republik, in der jedermann die gleichen Rechte habe, "und nicht einmal um des Ganzen willen darf gezwungen werden".

Hatte Jürgen Habermas Schillers Projekt der ästhetischen Erziehung als Revolutionierung der Verständigungsverhältnisse ohne Ästhetisierung der Lebensverhältnisse verstanden (und verteidigt), so geht Safranski über diesen Vorbehalt noch hinweg. "Wo Ernst war, soll Spiel werden", ästhetische Erziehung "eine Lockerungsübung für Herz, Sinn und Verstand", eine "spielerische Neutralisierung der Moral" - Safranski wagt sich da weiter vor, als es Schiller wohl erlaubt hätte (man soll "nur mit der Schönheit spielen", heißt es bei ihm). Kein Wunder deshalb, daß er Schillers Angebot für den Ernstfall und den Notstand, das Erhabene, mit ungewohnter Reserve betrachtet, obwohl er sonst gern Schillers "kombattantes Verhältnis" zu Körper und Natur markiert. Hier springt das idealistische Schwungrad nicht recht an. Vielleicht auch deshalb, weil Safranski unterderhand das Jahrhundert gewechselt und die Karte Nietzsche gezogen hat: Kunst als letzte metaphysische Tätigkeit. So weit ist Schiller noch nicht.

Die Bravour verläßt Safranski nicht, wenn es um den Dichter und Dramatiker Schiller geht. So ingeniös wie den Intellektuellen präsentiert Safranski auch das dichterische Werk. Keine Analyse, die nicht mit mancherlei Überraschungen aufwartet und ihre eigenen Evidenzen hervorzaubert. Und das will etwas heißen, ist Safranski doch durchaus mit der Forschungsliteratur vertraut (wohl dem allerdings, der die Lizenz besitzt, sie nicht zitieren zu müssen). Auch auf diesem Terrain gibt es den roten Faden "Mysterium der Freiheit", und er entlockt Safranski geschliffene Analysen. Die Jugenddramen schneiden dabei besonders gut ab, namentlich "Die Räuber" und "Don Karlos", selbst der "Fiesco" wird unter Safranskis Augen zum "Meisterstück". Sucht man nach weiteren Bravourstücken, dann empfehlen sich "Die Götter Griechenlands" oder später dann der "Wallenstein".

Wir erleben allerdings keinen ungebrochenen Triumphzug. Dafür sorgt nicht nur der cantus firmus von Schillers Krankheit, den Safranski ohne Heroisierung intoniert. Nicht weniger kenntlich macht er den Rechtfertigungsdruck, der Schiller ständig zu schaffen macht. Ein Mann auf der Kippe: Nicht nur die eigene Gesundheit, vielmehr auch das eigene Künstlertum, mehr noch: die Legitimität der Kunst steht allenthalben auf dem Spiel. Kann auch heißen: Die schöpferische Erfindung (auch die "Erfindung des Idealismus") ist, als creatio ex nihilo, immer auch von Leere und Nichtigkeit, zumindest von Ernüchterung bedroht. Wird der Künstler deshalb, von "untergründigen Selbstzweifeln" beunruhigt, notgedrungen zum Hochstapler? Dies sogar gibt Safranski am Ende zu bedenken. Sollte der falsche Demetrius, Schillers letzte Dramenfigur, das Symbol gleich auch für dieses "Betriebsgeheimnis der Kunst" sein, ein leises Signal der Vergeblichkeit womöglich? Doch vielleicht ist dafür Thomas Mann eher zuständig als Schiller.

Man greife zu Safranskis Buch, und man wird die Erfahrung machen: Schiller ist immer noch da. Und wie!

Der Beitrag erschien zuerst am 6. Oktober 2004 in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung.

Titelbild

Sigrid Damm: Das Leben des Friedrich Schiller. Eine Wanderung.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
500 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3458172203

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Titelbild

Rüdiger Safranski: Friedrich Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus.
Carl Hanser Verlag, München 2004.
576 Seiten, 25,90 EUR.
ISBN-10: 3446205489

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