Das Interesse an Schiller

Nachwort zu einer Biographie von Marie Haller-Nevermann

Von Walter Müller-SeidelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Müller-Seidel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Wirkungen, die seit Schillers Tod von ihm und seinem Werk ausstrahlen, sind vielfältiger Art; in ihr haben die Feiern und Veranstaltungen zu seinem Gedenken ihre eigene Geschichte. Sie gehören zur Erinnerungskultur einer Nation oder vieler Nationen und sind geeignet, Vergangenes lebendig zu vergegenwärtigen. Sie sind wünschenswert, sofern sie der Sache der Literatur dienen. Aber immer erneut kann es geschehen, daß sie ihrem Zweck entfremdet werden, wenn wir es, wie zumeist, mit staatlicher Regie zu tun haben; besonders in Zeiten einer Diktatur ist dies der Fall. Wir verwenden für solche Zweckentfremdungen Begriffe wie "Vereinnahmung" oder "Instrumentalisierung", und sie sind seit dem 19. Jahrhundert in hohem Maße Zeichen nationalstaatlichen Denkens. Sie waren schon 1859 zur Feier der 100. Wiederkehr seines Geburtstages unübersehbar. Nietzsches Lehrer in Schulpforta, August Koberstein, dachte ganz in diesem Sinn. Der junge Nietzsche hat über die Feiern an seiner Schule anschaulich berichtet: "Der hundertjährige Geburtstag Schillers hatte bei allen Verehrern des großen Deutschen den Wunsch einer allgemeinen Gedächtnisfeier angeregt. Und nicht nur die Gebildeten, nein, auch die untern Stände des Volkes nahmen lebhaft an diesem Nationalfeste Anteil. Über die Grenzen Deutschlands hinaus war das Gerücht hiervon gedrungen; fremde Länder, ja ferne Erdteile trafen großartige Vorbereitungen zu diesem Tage, so daß man wohl behaupten kann, daß noch kein Schriftsteller ein allgemeineres Interesse hervorgerufen hat, als Schiller." Einzelheiten der Feier werden in diesem Bericht geschildert; von einer Rede Kobersteins wird abschließend gesprochen, und was dieser gesagt hat, wird im Wortlaut mitgeteilt: "dieses Nationalfest sei ein bedeutsames Vorzeichen für das wiedererwachte deutsche Nationalgefühl, und man könne an diese Feier schöne Hoffnungen für die Zukunft knüpfen". In Namen wie Schiller-Nationalmuseum oder Schiller-Nationalausgabe sind solche Zeichen nationalstaatlichen Denkens bis zum heutigen Tage gegenwärtig. Aber daß die Verbreitung der Werke Schillers im Zeichen nationalstaatlichen Denkens nicht in seinem Sinne war, sollte man wissen. Im Brief an Körner vom 13. Oktober 1789 spricht er es aus: "Es ist ein armseliges kleinliches Ideal für eine Nation zu schreiben; einem philosophischen Geist ist diese Grenze durchaus unerträglich." Daß heute Schillers "Lied an die Freude" in der Vertonung Beethovens im europäischen Stimmenchor erklingt, ist das kaum zu fassende Wunder für jeden, dem die zahlreichen Vereinnahmungen noch lebhaft gegenwärtig sind.

Mit dem Wegfall des schützenden Daches der Nationalstaatlichkeit ist es schwieriger geworden, Schillers Werk in adäquater Weise zu vermitteln. Schwierigkeiten dieser Art sind zu bedenken, wenn ein neuer Zugang zu Schillers literarischem Werk und zu seinem Leben zu eröffnen gesucht wird, und daß wir es im vorliegenden Fall mit einer Biographie zu tun haben, ist nicht geeignet, die Schwierigkeiten zu beheben; denn auch Biographien verstehen sich seit geraumer Zeit nicht mehr von selbst. In der nicht mehr ganz neuen Sozialgeschichte sieht sie einer ihrer Wortführer (Hans-Ulrich Wehler) fast als erledigt an, als "letzte Auffangstelle des Historismus", und in der Literaturwissenschaft ist der pejorative Begriff des Biographismus noch in guter Erinnerung. Aber mit solchen Urteilen ist aus heutiger Sicht das letzte Wort keineswegs gesprochen. In der neueren Geschichtswissenschaft sieht man das biographische Ich im Schnittpunkt vielfältiger Bezüge sozialgeschichtlicher oder wissenschaftsgeschichtlicher Art. Das vertiefte Interesse am inneren Menschen, diesseits wie jenseits der Psychoanalyse, kommt hinzu. Im übrigen sind Biographien, die Autobiographie eingeschlossen, weiterhin überaus populär. Macht man von dieser Popularität in durchdachter Weise Gebrauch, so kann es einem Vorhaben wie diesem nur förderlich sein. Zudem sind Bildbiographien als eine Art Untergattung der Biographie besonders beliebt. Die besten unter ihnen zeigen, daß nicht nur Äußeres abzubilden, sondern auch Inneres zur Sprache zu bringen ist. In dem vorzüglich ausgestatteten Buch "Goethes Leben in Bilddokumenten" beispielsweise, das Jörn Göres 1981 veröffentlicht hat, geht es um die durch Bilder belebte Phantasie, hier um diejenige des Lesers, wenn im Vorwort gesagt wird: "Indem wir lesen, bildet unsere Phantasie Vorstellungen dessen, wovon wir erfahren. Aber stimmen unsere so entstehenden Vorstellungen mit dem überein, was der Autor des Gelesenen vor Augen hatte? Unsere Phantasie bringt nichts hervor als das, was ihr schon einmal begegnet ist."

Aber wir haben es mit Schiller zu tun, und hier, im Schrifttum über ihn, sieht man sich Schwierigkeiten anderer Art gegenüber: solchen einer unablässigen Produktion, die wächst und wächst; von Ermüdungserscheinungen kann nicht die Rede sein, und wer sich anschickt, das weite Feld dieses Schrifttums zu betreten, kann den Eindruck gewinnen, als habe man es mit dem schon hundertmal Gesagten zu tun, als sei Neues nicht mehr zu entdecken. Befürchtungen dieser Art werden eindrucksvoll widerlegt in dem 1996 veröffentlichten Buch von Hans-Jürgen Schings mit dem Titel "Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund der Illuminaten". Hier werden Zusammenhänge zwischen Geheimbünden und Literatur aufgedeckt, die man bisher so nicht gesehen hat. Ein ausgiebig erläutertes Drama wie "Don Karlos" erscheint unversehens in einem ganz neuen Licht. Doch täusche man sich nicht! Das genannte Buch ist in mehr als einer Hinsicht ein Glücksfall der neueren Forschung, und daß sich Entdeckungen wie diese Jahr für Jahr wiederholen, ist nicht anzunehmen. Dennoch ist das Interesse an der Vergangenheit einer Epoche oder eines Schriftstellers in ihr nur zu beleben, wenn es gelingt, etwas Neues einzubringen: neue Entdeckungen in der Forschung oder neuartige Sehweisen, die darin bestehen, daß etwas schon Bekanntes in ein neues Licht gerückt und in die Sprache der Gegenwart übersetzt wird, im Sinne eines bekannten Wortes von Novalis: "Alle Wahrheit ist uralt. Der Reiz des Neuen liegt in den Variationen des Ausdrucks." Auf einen solchen Reiz des Neuen hat jeder bedacht zu sein, der im weiten Feld des Schrifttums über Schiller gehört werden will, und wenn damit Aktualisierungen verbunden sind, so darf das geschichtliche Denken nicht das Nachsehen haben. Aufgabe des Historikers ist es in jedem Fall, Vergangenes mit Gegenwart zu verknüpfen. Eine solche Verknüpfung liegt vor, wenn in einer vergangenen Kultur oder in einem Werk der Vergangenheit Vorausweisendes entdeckt wird, das in eine Geschichte des Fortschritts einmündet. Schiller als Wegbereiter späterer Entwicklungen - darüber wird noch zu sprechen sein. Aber auch dem, was historisch geworden ist und nicht mehr unmittelbar in unsere Gegenwart hineinwirkt, ist der Reiz des Neuen abzugewinnen - dadurch, daß wir es als etwas uns noch immer Angehendes verstehen und vermitteln.

Etwas derart historisch Gewordenes ist in Schillers Biographie die Freundschaftskultur in den Formen, in denen sie uns von der Aufklärung bis zur Romantik entgegentritt. Natürlich ist Freundschaft ein "Urphänomen", das es seit alters her gibt und auch in unserer modernen Welt fortbesteht. Es gibt sie in der Kultur der Antike, der griechischen wie der römischen. Renaissance wie Humanismus erneuern solche Formen humanen Denkens, aber erst im 18. Jahrhundert und bis in die Anfänge des 19. hinein gelangt sie zu einer so nicht wieder erreichten Höhe im "Prozeß der Zivilisation". Klopstock und Hölderlin feiern sie in Gedichten, und erst recht huldigt ihr Schiller auf seine Art, sicher am eindringlichsten im Freundschaftsdrama des "Don Karlos", wie es genannt worden ist. Freundschaft ist der menschlichste Teil in dem in die Weltgeschichte ausgreifenden Projekt, das Posa verfolgt. Er will, daß sich Freundschaft und staatliche Zwecke in einer versöhnten Welt vertragen, die es herzustellen gilt. Davon handelt die Szene, in der er der Königin mitteilt, was sie dem Freund ans Herz legen soll:

Er mache -
O, sagen Sie es ihm! - das Traumbild wahr,
Das kühne Traumbild eines neuen Staates,
Der Freundschaft göttliche Geburt.

Daß Posa mit seinem Vorhaben scheitert und sich für den Freund opfert, erhöht den Wert nicht nur dieser Freundschaft, sondern der Freundschaft überhaupt. Dieser Wert ist in der Ballade "Die Bürgschaft" nicht weniger offenkundig, in der durch Freundschaft Töten in zweifacher Weise verhindert wird: Sowohl die Freunde wie der Tyrann bleiben am Leben, und der letztere kann der Tyrann nicht gewesen sein, für den man ihn gehalten hat, wenn er sich derart von dem Wert der Freundschaft überzeugen läßt, wie es hier geschieht. Wie sehr am Ende dieses Jahrhunderts Literatur und Leben ineinander übergehen, zeigt das Zustandekommen der Freundschaft mit Körner im Frühsommer 1785. Das stilvoll abgefaßte Einladungsschreiben der Leipziger Freunde, zugleich ein Huldigungsschreiben im Stil der Zeit, ist ein denkwürdiges Dokument, des Lebens wie der Literatur. Nicht zufällig wird in diesem Brief ein Begriff gebraucht, der wie derjenige der Sympathie für die Freundschaftskultur der Epoche kennzeichnend ist: derjenige des Enthusiasmus. Von Tränen der Freude und der Begeisterung ist im Leipziger Huldigungsbrief die Rede; und ganz im Stil der Freundschaftskultur der Zeit schreibt Schiller in seinem ersten Brief an Körner: "Innige Freundschaft, Zusammenschmelzung aller Gefühle, gegenseitige Verehrung und Liebe, Verwechslung und gänzlicher Umtausch des persönlichen Intereße sollen unser Beieinanderseyn zu einem Eingriff in Elisium machen." Daß sich Begeisterung für Freundschaft auf beiden Seiten mit Begeisterung für den Dichterberuf verbindet, gilt es zu sehen.

Unter den Freundschaften, die in einem Kapitel dieses Buches gewürdigt werden, in dem Porträt "Für das Gespräch geboren - die großen Freundschaften", ist der Briefwechsel zwischen Schiller und Körner sicher der innigste und herzlichste. Die Korrespondenz, die in dem epochalen Sommer des Jahres 1794 beginnt, diejenige mit Goethe, ist nicht an der Innigkeit und Herzlichkeit zu messen, die für den Briefwechsel mit Körner kennzeichnend ist. Sie hat ihre eigenen Maße und ihr eigenes Recht. Man wird ihr nur gerecht, wenn man diese und andere Eigenheiten in Rechnung stellt, zu denen der Ton vornehmer Distanziertheit von Anfang an gehört. Abermals hat man Grund, von gelebter Literatur zu sprechen; denn die Briefe Schillers wie diejenigen des Zeitalters sind ebenso Lebenszeugnisse, wie sie Formen des persönlichen Sichmitteilens sind. Aber darüber hinaus sind sie auch literarische Texte und als diese gewollt. Die Übergänge von den Briefen als Lebenszeugnissen zu den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen als einem Werk der ästhetischen Theorie bis hin zu den Briefromanen - Goethes "Leiden des jungen Werther" oder Hölderlins "Hyperion" - sind fließend; und auch der Briefroman als literarische Gattung gehört wie die Freundschaft in diesen Formen zu einem Kulturgut, das im eigentlichen Sinn des Wortes historisch geworden ist. Was uns Heutige von dieser Kultur trennt, ist offenkundig. Nicht auszudenken, wie unsere Literaturgeschichte aussähe, wenn den Schreibenden um 1800 alle die technischen Kommunikationsmittel vom Telephon bis zum Faxgerät zur Verfügung gestanden hätten ... Daß dies nicht der Fall ist - und damit werden die modernen Kommunikationsmittel nicht in Acht und Bann getan -, welch ein Segen!

Hinsichtlich der Briefpartner Schillers ist noch ein Wort über Wilhelm von Humboldt zu sagen, der ja gleichermaßen ein beständiger Briefpartner Goethes gewesen ist. Der letzte Brief Goethes, der uns überliefert ist, derjenige vom 17. März 1832, ist ein Brief an diesen Freund. Und welch ein Brief! "Der Tag aber ist wirklich so absurd und konfus, daß ich mich überzeuge, meine redlichen, lange verfolgten Bemühungen um dieses seltsame Gebäude würden schlecht belohnt und an den Strand getrieben, wie ein Wrack in Trümmern daliegen und von dem Dünenschutt der Stunden zunächst überschüttet werden. Verwirrende Lehre zu verwirrtem Handel waltet über die Welt, und ich habe nichts angelegentlicher zu tun als dasjenige was an mir ist wo möglich zu steigern und meine Eigentümlichkeiten zu kohobieren, wie Sie es, würdiger Freund, auf Ihrer Burg ja auch bewerkstelligen." Daß sich die zitierten Sätze auf die Arbeit an Faust, zweiter Teil, beziehen, geht unmißverständlich aus dem Brief im ganzen hervor. Auch im Briefwechsel zwischen Schiller und Humboldt gibt es eine solche Beständigkeit bis in die letzte Lebenszeit hinein. Vom 2. April 1805 ist der letzte Brief datiert, der an Humboldt geschrieben wurde, und es ist ein sehr bewegender Brief, mit dem wir es zu tun haben: "Ist es gleich eine unendlich lange Zeit, daß ich Ihnen nicht eine Zeile gesagt, so kommt es mir doch vor, als ob unsre Geister immer zusammen hiengen, und es macht mir Freude zu denken, daß ich mich auch nach dem längsten Stillstande, mit gleichem Vertrauen wie da wir noch zusammen lebten, an Ihr Herz legen kann. Für unser Einverständniß sind keine Jahre und keine Räume." Die gegenseitige Anhänglichkeit bestätigt Goethe seinerseits.

Die Bedeutung, die dem großen Mittler für beide Wortführer der Weimarer Klassik zukommt, könnte es nahelegen, den Freundschaftsbund zu zweit, denjenigen zwischen Goethe und Schiller, zu einem Dreierbund unter Einschluß Humboldts zu erweitern. Goethe bringt solche Verbundenheit zu dritt im Brief vom 19. Oktober 1830 zum Ausdruck, der den Dank für die übersandte Abhandlung "Ueber Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung" enthält. Er schreibt: "Wie trostreich, in solchen Augenblicken, mir Ihre unschätzbaren Blätter zu Händen kommen mußten, werden Sie selbst empfinden und sich geneigtest aussprechen. Durch den entschiedenen Gegensatz ward ich so in jene Zeiten zurückgeführt, wo wir uns zu einer ernsten gemeinsamen Bildung verpflichtet fühlten, wo wir, mit unserm großen edlen Freund verbunden, dem faßlich Wahren nachstrebten, das Schönste und Herrlichste, was die Welt uns darbot, zu Auferbauung unsres willigen sehnsüchtigen Innern, zu Ausfüllung einer stoff- und gehaltbedürftigen Brust auf das freundlichste und fleißigste zu gewinnen suchten." Welche Sprache, mit der hier eine Verbundenheit unter Freunden zum Ausdruck gebracht wird! Ein weiterer Grund, der uns berechtigt, einem Freundschaftsbund zu dritt das Wort zu reden, kommt hinzu. Zu sprechen ist noch einmal über das Zustandekommen des Freundschaftsbundes zwischen Goethe und Schiller, wie gern gesagt wird. Offensichtlich hat Humboldt daran weit mehr Anteil, als im allgemeinen bekannt ist. Dieser Bund war nach dem ersten Zusammentreffen in der Jenaer Naturforschenden Gesellschaft im Juni 1794 noch keineswegs besiegelt, als man sich zwei Tage später im Hause Humboldts zu einem gemeinsamen Essen einfand. Im Tagebuch Humboldts wird vermerkt: "Abends aßen Schillers und Goethe bei uns." Es war also ein Abend mit Damen, mit den Ehefrauen Schillers und Humboldts, und bekannt ist auch, daß es der Ehefrau Schillers nicht an der Fähigkeit gefehlt hat, zu vermitteln und zu verbinden. Goethe hat es in seinem Bericht über die ersten Begegnungen hervorgehoben und bemerkt: "Seine Gattin, die ich, von ihrer Kindheit auf, zu lieben und zu schätzen gewohnt war, trug das ihrige bei zu dauerndem Verständnis, alle beiderseitigen Freunde waren froh, und so besiegelten wir, durch den größten, vielleicht nie ganz zu schlichtenden Wettkampf zwischen Objekt und Subjekt, einen Bund, der ununterbrochen gedauert, und für uns und andere manches Gute gewirkt hat."

Die Notiz im Tagebuch Humboldts und der Bericht Goethes werfen ein Licht auf den Anteil der gebildeten Frau an dieser Brief- und Gesprächskultur, und es ist neben Humboldt vor allem Schiller, der sein Interesse an einer solchen für die damalige Zeit neuartigen Frauenbildung wiederholt bekundet hat. In einem Brief an die spätere Schwägerin Caroline von Beulwitz berichtet er von dem Besuch eines Mathematikers, der ihn für ein Lyceum zu gewinnen versucht habe. Man rechnete damit, daß es vornehmlich von Damen besucht würde. Schiller kommt der Besucher offensichtlich nicht seriös genug vor. Gleichwohl heißt es in diesem Brief: "aber ich wünschte mir nichts mehr als eine Beschäftigung dieser Art". Um Mathematik in Verbindung mit Frauenbildung geht es in einem anderen Brief, abermals an Caroline von Beulwitz. Sie will Mathematikstunden nehmen, und Schiller begleitet ihr Vorhaben mit Zuspruch; er schreibt: "Sie sind ja gar erstaunlich, daß Sie die Mathematik nun vornehmen wollen! Ich bin voll Erwartung, wie Sie Ihnen beym ersten Besuche gefallen hat, und ob Sie die Bekanntschaft fortsetzen wollen." Doch handelt es sich, was die Frauenbildung angeht, nur um eine Seite im weitgespannten Erziehungsprogramm, und Erziehung gehört wie Freundschaft, Gespräch oder Bildung zu den Schlüsselbegriffen des Zeitalters. Aber auch Erziehung ist im Verständnis der Zeit nicht ohne weiteres auf unsere heutige Welt übertragbar. Auch sie ist in der Bedeutung, die sie für das 18. Jahrhundert besaß, historisch gewordene Kultur. Aber der Glanz, der von ihr ausstrahlt, ist bis zum heutigen Tag nicht verblaßt. Zwei fast entgegengesetzte Aspekte sind für Schillers Erziehungsprogramm bezeichnend.

Zum ersten sein Interesse an Popularität, an Resonanz auch unter einfachen Menschen. Mit der Philosophie seiner Zeit aufs beste vertraut, argumentiert er in Fragen der ästhetischen Theorie auf intellektuell hohem Niveau - und ist doch zugleich an Popularität des eigenen Wirkens interessiert, an der Reichweite seines öffentlichen Schreibens; er ist in diesem Punkt ja auch nicht erfolglos geblieben. Die Popularität vieler seiner Balladen oder des Gedichts "Das Lied von der Glocke" bestätigt es. Noch im frühen 20. Jahrhundert kannte man an Volksschulen Gedichte Schillers auswendig. Es ist daher kein Zufall, daß er in der Ankündigung seiner Zeitschrift "Rheinische Thalia" den Begriff "Volksbildung" gebraucht. In der Erläuterung des Programms seiner Zeitschrift lesen wir das Wort, das Beachtung verdient: "Die Rheinische Thalia wird jedem Gegenstand offen stehen, der den Menschen interessieret und unmittelbar mit seiner Glückseligkeit zusammenhängt. Also alles, was fähig ist, den sittlichen Sinn zu verfeinern, was im Gebiete des Schönen liegt, alles, was Herz und Geschmack veredeln, Leidenschaften reinigen und allgemeine Volksbildung wirken kann, ist in ihrem Plane begriffen." Aber das Interesse an Volksbildung schließt nicht aus, daß der Blick in allen Fragen der Bildung und Erziehung nach oben gerichtet bleibt. In jeder Form der Bildung geht es um Bildungsstufen. In der Rezension der Gedichte Bürgers ist davon die Rede. Ungeachtet aller berechtigten Volkstümlichkeit müsse es dem Dichter darum gehen, sich nicht mit dem Volk gleich zu machen oder zu ihm herniederzusteigen, sondern "es scherzend und spielend zu sich hinaufzuziehen".

Mit einem Verständnis von Bildung, die nicht "herniedersteigt, sondern hinaufzieht", geht es um die andere Seite im Programm seiner ästhetischen Erziehung: um ein auf weite Zeiträume gerichtetes Denken, das die Menschheit in allen Weltteilen umfaßt. Schillers kühnes Reformwerk der Erziehung sieht eine Arbeit für mehr als ein Jahrhundert vor, wie in dem wichtigen Brief an den Herzog von Augustenburg vom 13. Juli 1793 gesagt wird, dem herausragenden Text in der Vorgeschichte des Hauptwerks mit dem Titel "Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen". Alle Linien seines pädagogischen Denkens wie der Umsetzung dieses Denkens ins dichterische Werk laufen hier zusammen, die Auseinandersetzung mit den Ereignissen der Französischen Revolution eingeschlossen. Diese vor allem! Denn der entscheidende Anstoß, eine ästhetische Theorie in der Form von Briefen auszuarbeiten, geht von den Ereignissen in Frankreich aus. Die wohl nachhaltigste Erschütterung seines Denkens in diesen Jahren wird durch die Hinrichtung des französischen Königs bewirkt. Was den Dichter als einen Anwalt der Menschenrechte völlig aus der Fassung bringt, ist nicht die außer Kraft gesetzte monarchische Staatsform, sondern der Umstand weit mehr und vor allem, daß hier über ein Menschenleben entgegen allen vorausgegangenen Menschenrechtserklärungen verfügt wird. Humanität wird von Schiller nicht abstrakt verstanden. Sie entzündet sich an einem Akt des Tötens, und es ist ebenso der Dichter wie der Arzt, der darauf mit Empörung und Entsetzen reagiert. Der Grund für solche Verfehlungen menschenrechtlichen Denkens wird in einer unausgereiften Denkart, in der Unreife und Unmündigkeit nicht nur der niederen Stände ausgemacht, sondern der Gesellschaft im ganzen, einschließlich der politisch Handelnden. Solchen Verfehlungen, so sieht es Schiller, ist nur durch ein großgedachtes Reformwerk der Erziehung abzuhelfen. Diesem Reformwerk liegt eine Diagnose des Zeitalters zugrunde, die davor bewahren sollte, den Verfasser dieser Briefe mit dem Fortschrittsoptimismus der Aufklärung voreilig in Verbindung zu bringen. Hier geht es um unerbittliche Zeitkritik, die ebenso der Politik, der Gesellschaft und der Wissenschaft gilt, wie sie auf die seelische Befindlichkeit des einzelnen gerichtet bleibt. Diese Diagnosen und Analysen sind im Blick auf die "Sanftmut" des Zeitalters unerhört. Mit Illusionen idealistischen Gepräges wird aufgeräumt, auch mit der Rede vom ganzen Menschen, als gäbe es ihn schon. Im Hinblick auf die Arbeitsteiligkeit der modernen Gesellschaft geht es vorrangig nicht um den ganzen, sondern um den gespaltenen Menschen, den sich der sechste Brief vornimmt: "Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft." Die Einheit des Menschen wird in diesen Analysen zur Chimäre - ein düsteres Bild im ganzen, wenn es an anderer Stelle desselben Briefs heißt: "Bey uns, möchte man fast versucht werden zu behaupten, äußern sich die Gemüthskräfte auch in der Erfahrung so getrennt, wie der Psychologe sie in der Vorstellung scheidet, und wir sehen nicht bloß einzelne Subjekte, sondern ganze Klassen von Menschen nur einen Theil ihrer Anlagen entfalten, während daß die übrigen, wie bei verkrüppelten Gewächsen, kaum mit matter Spur angedeutet sind." Man denkt an Auffassungen in heutiger Psychologie oder Psychiatrie, an Bücher wie "Der Bruchstück-Mensch" von Gerald von Minden oder an "Multimind" von Robert Ornstein. Das Neuartige dieser ästhetischen Theorie hat Max Kommerell in einem seiner hellsichtigen Essays über Schiller erkannt. Alle, die seit Plato über Kunst nachgedacht hätten, schreibt er, seien zu der Auffassung gelangt, daß der Mensch auch durch Kunst erzogen werden könne; und wörtlich: "Schillers überraschende Auskunft ist, nur durch Kunst kann der Mensch erzogen werden." Das sieht Nietzsche als Verfasser der Schrift "Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" nicht grundsätzlich anders, und wie Schiller ist er der Auffassung, daß die Therapie, die Wiederherstellung der Einheit, nicht der Wissenschaft zuzutrauen ist, sondern nur der Kunst.

Vor allem mit dieser Kunsttheorie hat Schiller in die Moderne hineingewirkt. Jürgen Habermas hat den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen in seinem Buch "Der philosophische Diskurs der Moderne" ein eigenes Kapitel vorbehalten, und er legt Wert auf die Ästhetik der Verständigungsverhältnisse, die er wahrnimmt. Nachhaltiger sind die Wirkungen dieses Briefwerks in der Literatur der frühen Moderne. Stefan George hat Schiller hinsichtlich dieses Teils seines Werkes für sich in Anspruch genommen. Er hatte sich mit der Anthologie "Das Jahrhundert Goethes" den Vorwurf der Mißachtung Schillers zugezogen; diesen Vorwurf weist er im Vorwort zur zweiten Ausgabe in wohlgesetzten Worten zurück: "Die vorrede verlangt insofern einige berichtigende worte als man aus ihr eine missachtung Schillers herauslas. Wir wiederholen dass · wie sehr Schillers gestalt immer hervorragen wird · die schätzung gerade seiner berühmtesten dichtungen immer mehr abnimmt." Es folgt der Passus, den man häufig zitiert findet: "Aber als schönheitslehrer und erzieher · alsVerfasser der Ästhetischen Erziehung · der seinem volk auch heute noch fremd ist und vermutlich noch lange bleibt · wird Schiller noch einmal eine glänzende auferstehung feiern. In diesen schriften hat die grössere gedankenwissenschaftliche bildung der Deutschen den flug seines geistes die höhe erreichen lassen. Sie enthalten so endgültige dinge über form und Inhalt · kunst und volk wie sie dem strenggläubigsten schönheitseiferer genügen würden und wie sie dem heutigen durchschnittlichen Schillerverehrer unannehmbar sind. Nach dieser erklärung kann wohl nicht gezweifelt werden an unserer bewunderung für diese glühende deutsche seele." Das sind Lobsprüche aus dem Geist der literarischen Moderne. Aber sie sind einseitig und werden dem vielseitigen Denken Schillers nicht gerecht. Das betrifft vorrangig den politischenDichter, als den man ihn auch heute vielfach noch nicht wahrnimmt.

Gegenüber allen denjenigen, die den politischen Dichter nicht gelten lassen wollen, kann es nicht deutlich genug gesagt werden: Schillers theoretisches Werk mit dem Titel "Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen" ist alles andere als Flucht in eine idyllische Welt, in der nichts sonst gilt als die Andacht zum Schönen. Wir haben es mit einem politisch motivierten Reformwerk zu tun, das die aus Schillers Sicht mißlungene Revolution in Frankreich kritisch durchdenkt. Sowohl als Verfasser dieser Briefe wie als Dramendichter bleibt Schiller ein politischer Dichter, der sich auch nach dem großen Intervall für Verschwörungen, Rebellionen und Widerstandsrecht gegen die Staatsgewalt interessiert. Er bleibt der politische Dichter auch und gerade als Gestalter des handelnden Menschen. Als diesen hat ihn Max Kommerell in einer Zeit vorgestellt, in der man Schiller zu Staatszwecken dienstbar zu machen suchte und dies auch auf fatale Weise getan hat; der Handelnde, mit dem wir es in den Dramen immer erneut zu tun haben, ist derjenige, der politisch handelt, als Staatsmann oder als Gegner der herrschenden Staatsgewalt. Es ist derjenige zugleich, der im Handeln tragisch scheitert. In einem der genannten Aufsätze wird das, was in Schillers Dramen wieder und wieder geschieht, von Kommerell prägnant formuliert: "Denn keine Tat verwirklicht die Idee, ohne sie zugleich zu verleugnen. Mensch sein ist nicht nur Handelnkönnen, sondern Handelnmüssen, Handelnmüssen im Stoff der Welt mit sinnlichen Mitteln, und also handelnde Untreue an der Idee. Menschsein ist die Tragödie der Mittel. Was aber ist Politik anders?" Bestätigt wird diese Auffassung von Schiller als politischem Dichter durch seine Beziehung zu einer Persönlichkeit, die auch in der jüngeren Forschung noch vielfach unbekannt ist. Es ist dies der Arzt und Schriftsteller Johann Benjamin Erhard, Verfasser der 1795 veröffentlichten Schrift "Über das Recht des Volks zu einer Revolution". Er war ein entschiedener und überzeugter Anhänger der Kantschen Philosophie und ein Verehrer des Königsberger Philosophen außerdem. Er wurde von Kant außerordentlich geschätzt, aber von Schiller nicht weniger, wie vor allem dem Brief an Körner vom 10. April 1791 zu entnehmen ist; hier heißt es: "Ich habe in den letzten Zeiten meines Jenaer Auffenthalts einige Bekanntschaften gemacht, die mir seitdem viel Vergnügen verschafft haben. Darunter gehört ein gewißer Erhard aus Nürnberg, Doctor medicinae der hieher gekommen ist, um Reinhold und mich kennen zu lernen und sich über Kantische Philosophie weiter zu belehren. Er ist der reichste, vielumfaßendste Kopf, den ich noch je habe kennen lernen [...]." In Dieter Henrichs unlängst erschienenem opus magnum, dem zweibändigen Werk "Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus. Tübingen - Jena 1790-1794", wird sein Name gleich eingangs als derjenige eines Denkers genannt, der an der Entwicklung dieses Idealismus nachhaltig beteiligt war; im Hauptteil des Werkes werden ihm gut 200 Seiten gewidmet. Mit diesem Arztschriftsteller, der abweichend von Kant die Revolution ebenso bejahte wie das Widerstandsrecht, hatte Schiller regen Umgang, als er sein Reformwerk ausarbeitete, die Briefe "Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen". Das gilt es zur Kenntnis zu nehmen, gleichviel ob man Schiller als politischen Dichter gelten lassen will oder nicht.

Noch in anderer Hinsicht ist Stefan Georges isolierter Herausstellung des Schönheitslehrers nicht zu folgen. In seinem Verständnis Schillers wird der Schönheitslehrer vom Theaterdichter strikt getrennt; der erstere wird über alles gelobt, der letztere als unerheblich abgetan. Diese Trennung ist aus wissenschaftlicher Sicht unhaltbar. Schillers Schönheitslehre ist nicht Selbstzweck, sondern steht im Dienst seines Dramas und des Theaters, die wie andere Dichtungsarten seines Werkes allesamt auf Menschenbildung, auf Bildung zu Menschheit und Menschlichkeit, bezogen bleiben. Theaterdichter ist Schiller von Anfang an, vorübergehend auch im Hauptberuf; denn es ist der erste Beruf, den er nach seiner Tätigkeit als Regimentsmedicus ausübt, und es ist auch sein eigentlicher Beruf geblieben. Das Theater entsprach am nachhaltigsten seinem Verlangen, so viele Menschen wie nur möglich mit seiner Botschaft zu erreichen. Schiller sieht es als seine Bestimmung an, für "eine größere Welt" zu schreiben. Keine Institution im aufgeklärten Absolutismus bot hierfür eine bessere Möglichkeit als eben das Theater, und Theater um diese Zeit, das ist Nationaltheater und theatralische Sendung, Theaterroman und Theatromanie, Aufstieg aus den Niederungen der Schausteller bis hinauf in die Höhen des höfischen Theaters unter Leitung angesehener Intendanten aus dem Adel. Das Theater bot am Ende des 18. Jahrhunderts ähnlich gute Möglichkeiten des Aufstiegs wie um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Medizin. Hier wie dort haben die Begabtesten dieser Generationen die Situation erfaßt und sich Gebieten verschrieben, in denen zusehends Rang und Ansehen zu gewinnen waren. Schiller war einer von ihnen. Die erwähnte Aussage, daß er für eine größere Welt schreibe, steht im Zusammenhang einer Reise nach Berlin im Jahre 1804, über die er in verschiedenen Briefen berichtet. Auf diese Reise mit vermutlich geheimen Verhandlungen in der preußischen Hauptstadt ist unlängst in einer Berliner Ausstellung aufmerksam gemacht worden; auch eines der letzten Hefte des Marbacher Magazins gilt diesem Besuch. Zudem ist auf eine andere Verbindung Schillers mit Berlin aufmerksam zu machen, die sich freilich erst nach seinem Tod hat entwickeln können. Die Wirkungen, die seit 1810 von der Berliner Universität ausgegangen sind, sind weltweit bekannt; die Zusammenhänge zwischen Jena und Weimar einerseits und Berlin zum anderen sind es weniger. Das betrifft in erster Linie die Jenaer Antrittsvorlesung und die folgenreich gewordene Unterscheidung zwischen dem Brotgelehrten und dem philosophischen Kopf, wozu in einem Sammelband mit Arbeiten über Schiller als Historiker (von Ulrich Muhlack) gesagt wird: "Tatsächlich geht es Schiller um ein neues Wissenschaftsverständnis, das [...] sich auf alle an der Universität gelehrten Fächer erstrecken soll: um Wissenschaft als Selbstzweck und damit als Bildung statt ihrer bisherigen Instrumentalisierung oder Funktionalisierung für äußere Zwecke."

Der Hinweis auf diese ganz anders beschaffene Wirkungsgeschichte Schillers mit Beziehung auf Humboldt und die neue Universität lenkt den Blick auf die wissenschaftlichen Grundlagen in seinem dichterischen Weltbild. Sie sind sehr viel höher zu bewerten, als im allgemeinen angenommen wird. Den Ausspruch Stefan Georges, von ihm führe kein Weg zur Wissenschaft, hätte sich Schiller wohl nie zu eigen machen können. Er hatte gelernt, Wissenschaften zu schätzen, ohne sie zu überschätzen. In diesem Zusammenhang geht es zunächst um den Historiker, mehr als um den Geschichtsdichter, obschon die offizielle Geschichtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert lange Zeit allenfalls den letzteren gelten ließ. Inzwischen ist Schiller als Historiker in den Räumen der Geschichtswissenschaft durchaus zugelassen. Eine Wende in der Bewertung ist deutlich im Jubiläumsjahr 1959 mit den Arbeiten von Theodor Schieder und Golo Mann zu erkennen. Aus der Geschichte des Historismus war Schiller von Friedrich Meinecke ausdrücklich ausgeschlossen worden, obwohl es an Beziehungen zu den Denkformen der Historischen Schule keineswegs fehlt. In Fragen der literarischen Sprache und ihrer Formen denkt Schiller betont historisch. Er erkennt ihren notwendigen Wandel an und macht in der Auseinandersetzung mit Bürger am Beispiel der Lyrik geltend, daß sie nicht bleiben könne, wie sie ist. Er fürchtet, daß das philosophierende Zeitalter über eine zu anspruchslose Lyrik ohne alle Reflexion hinweggehen könnte, und denkt darüber nach, wie dies zu verhindern sei: "Dazu aber würde erfordert, daß sie selbst mit dem Zeitalter fortschritte, dem sie diesen wichtigen Dienst erweisen soll [...]. Die Sitten, den Charakter, die ganze Weisheit ihrer Zeit müßte sie, geläutert und veredelt, in ihrem Spiegel sammeln und mit idealisierender Kunst aus dem Jahrhundert selbst ein Muster für das Jahrhundert erschaffen." Die normative Geltung antiker Literaturformen erkennt er aus demselben Grund nicht an. Gegenüber dem klassischen Philologen Johann Wilhelm Süvern besteht er auf dem Recht des historischen Denkens und führt aus: "Ich theile mit Ihnen die unbedingte Verehrung der Sophokleischen Tragödie, aber sie war eine Erscheinung ihrer Zeit, die nicht wieder kommen kann, und das lebendige Produkt einer individuellen bestimmten Gegenwart einer ganz heterogenen Zeit zum Maaßstab und Muster aufdringen, hiesse die Kunst, die immer dynamisch und lebendig entstehen und wirken muß, eher tödten als beleben." Auch der Vorwurf des Historikers Theodor Schieder, daß der Beruf des Geschichtsschreibers durch das Mitreden des Geschichtsphilosophen und sein "dogmatisches Konzept von Universalgeschichte" verfehlt werde, ist zu entkräften durch den Blick auf das, was als Tragik im Gang der Weltgeschichte wahrgenommen wird. Das Scheitern der Hauptfigur in der Tragödie des "Don Karlos" ist ja nicht vergessen, wenn wenige Jahre später die Jenaer Antrittsvorlesung gehalten wird. Mit ihr wird nicht der Fortschrittsgläubigkeit der Aufklärung und des 19. Jahrhunderts das Wort geredet, in der es vorrangig um die Fortschritte in Gesellschaft, Wissenschaft und Technik geht. Der vermeintlich nur optimistische Blick auf den Gang der Weltgeschichte in der Antrittsvorlesung und die Tragödie des handelnden Menschen in "Don Karlos" sind zwei Seiten ein und desselben dichterischen Weltbildes. Aber trotz Tragik und Tragödie wird der Glaube an das Fortschreiten humanen Denkens nicht preisgegeben, und die Tragödie trägt das Ihre zu solchem Fortschreiten bei. Daher ist auch die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges nicht das letzte Wort in der Sache. Das diffuse Hin und Her des geschichtlichen Verlaufs wird überhöht von der Tragödie der "Wallenstein"-Trilogie, über die sich Golo Mann begeistert vernehmen läßt: "Und dies Wunderwerk, Wunderwerk in allen seinen einander durchdringenden Schichten, Wunderwerk auch als Schau des Politischen wäre nie möglich gewesen ohne Schillers Historiker-Existenz."

Über dem Geschichtsdenker ist der Rechtsdenker nicht zu übersehen, und sein Denken auf diesem Gebiet schließt Kritik ein, am Rechtswesen im ganzen wie an der ausübenden Justiz. Das ist an der Umwertung des politischen Verbrechers und am Verbrecher allgemein zu zeigen, den noch die Aufklärung aus der menschlichen Gesellschaft ausgegrenzt hatte und dem nun in Grenzen Sympathie entgegengebracht wird. Sie wird im dramatischen Werk auf die Gestalt Fieskos übertragen, mit dem sich die Rede vom erhabenen Verbrecher verbindet. Auf dem Hintergrund eines solcherart gegen Ausgrenzung gerichteten Denkens ist die Erzählung "Der Verbrecher aus verlorener Ehre" zu verstehen - ein Text, der das soziale Umfeld des Täters einbezieht und an der Denkweise der Richter Kritik übt, wenn es heißt: "Die Richter sahen in das Buch der Gesetze, aber nicht einer in die Gemütsverfassung des Angeklagten." In der Jurisprudenz sieht man Schillers Denkart, die Art seiner Justizkritik, als wegweisend an, wie der Rechtsphilosoph und Strafrechtslehrer Erik Wolf ausführt: "In dieser Blickwendung von der Tat auf den Täter, die mit Schillers 'Verbrecher aus verlorener Ehre' begonnen hat und in Feuerbachs aktenmäßiger Darstellung merkwürdiger Kriminalfälle sich erstmals mit der Kraft eines neuen Gedankens durchsetzt, kommt eine sittliche Haltung zum Ausdruck, für die das Dasein des Verbrechers eine allgemein menschliche, jedermann angehende Frage stellt." In der Mannheimer Rede über die Schaubühne liest man den häufig zitierten Satz: "Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt." Ein gewisses Eigenrecht in der Darstellung von Rechtsfällen im literarischen Text wird beansprucht, und vielleicht kann man das weithin ungeschriebene Widerstandsrecht als ein solches Gebiet bezeichnen, das eher in die Zuständigkeit der Dichtung gehört als in diejenige des jeweils geltenden Rechts. Auf dieses Rechtsgebiet läßt sich Schiller als Autor des Schauspiels "Wilhelm Tell" ein, und die Kühnheit, es getan zu haben, ist noch heute bewundernswert. Einer Bejahung dieses Rechts stand die lutherische Obrigkeitslehre im Wege, aber auch Kants politische Philosophie, die sich dezidiert gegen ein solches Recht ausspricht. Das geschieht in dem Aufsatz "Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis", in dem es heißt: "Hieraus folgt, daß alle Widersetzlichkeit gegen die oberste gesetzgebende Macht, alle Aufwiegelung [...], aller Aufstand, der in Rebellion ausbricht, das höchste und strafbarste Verbrechen im gemeinen Wesen ist, weil es dessen Grundfeste zerstört. Und dieses Verbot ist unbedingt." Schiller hat sich nicht daran gehalten und seinen Wilhelm Tell auf die Bühne gebracht. Er hat das ungeschriebene Widerstandsrecht ebenso bejaht wie den Tyrannenmord als eine ultima ratio politischen Handelns. Mit dieser Bejahung hat er sich zugleich in Widerspruch gesetzt zu Philosophen und Historikern wie Hegel und Treitschke. Später hat er eben deshalb den Haß Hitlers auf sich gezogen, der ein Verbot ergehen ließ, das Stück in der Schule zu behandeln und auf öffentlichen Bühnen aufzuführen. In das Humanitätszeitalter, wie man vielfach mißverständlich sagt, ist dieses hart an der Grenze zur Tragödie angesiedelte Drama nicht so leicht zu integrieren, wenn man der Auffassung ist, daß sich Humanität mit Töten nicht verträgt und vertragen darf. Aber Umstände können sich ergeben, die es gebieten, daß Humanität suspendiert werden muß, um sie wiederherzustellen. Das ist hier der Fall, vergleichbar mit den Ereignissen des 20. Juli 1944 im Versuch, Hitler zu beseitigen, auch wenn die Tat, anders als in Schillers Drama, mißlang.

Im Zusammenhang der Ereignisse dieses Jahres ist auf einen Text Schillers aufmerksam zu machen, der sein Rechtsdenken in das hellste Licht rückt. Gemeint ist der Aufsatz "Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon". Es handelt sich um eine Gegenüberstellung der Staatsverfassungen von Sparta und Athen, mit deutlicher Parteinahme für die letztere. Es heißt hier: "Der wichtigste Theil seiner Gesetzgebung [gemeint ist Sparta] war daher die Erziehung. [...] Sobald das Kind gebohren war gehörte es dem Staat. [...] Wenn es stark und wohl gebildet war, übergab man es einer Wärterin; war es schwächlich und mißgebildet, so warf man es in einen Abgrund an dem Berge Taygetus. [...] Abscheulich war der Gebrauch, den man von diesen unglücklichen Menschen [den Heloten] machte. Man betrachtete sie als ein Geräthe, von dem man zu politischen Absichten, wie man wollte, Gebrauch machen könnte, und die Menschheit wurde auf eine wirklich empörende Art in ihnen verspottet." Schillers Urteil über diese Staatsform ist unmißverständlich: "Aber hält man den Zweck, welchen Lykurgus sich vorsetzte, gegen den Zweck der Menschheit, so muß eine tiefe Mißbilligung an die Stelle der Bewunderung treten, die uns der erste flüchtige Blick abgewonnen hat. Alles darf dem Besten des Staats zum Opfer gebracht werden, nur dasjenige nicht, dem der Staat selbst nur als ein Mittel dient. Der Staat selbst ist niemals Zweck, er ist nur wichtig als eine Bedingung unter welcher der Zweck der Menschheit erfüllt werden kann, und dieser Zweck der Menschheit ist kein andrer, als Ausbildung aller Kräfte des Menschen, Fortschreitung." Dieser Aufsatz Schillers wurde in der Zeit des nationalsozialistischen Regimes hier und da aufmerksam gelesen, und der Vergleich mit demjenigen der Spartaner bot sich an. Im Kreis der Geschwister Scholl hat man sich mit diesem Aufsatz befaßt; in seinen Aufzeichnungen "Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten" spielt ihn Victor Klemperer in Übereinstimmung mit Schiller gegen den Ungeist der Zeit aus.

In seiner Erzählung "Der Verbrecher aus verlorener Ehre" gebraucht Schiller das für ihn bezeichnende Wort "Gemüthsverfassung". Er wendet es gegen die Richter, die davon nichts verstehen. In den "Briefen über Don Karlos" werden verwandte Ausdrücke wie "Seelenzustand" oder "Gemütslage" benutzt. Sie beziehen sich keineswegs nur auf den labilen Zustand des Prinzen, sondern auch auf andere Personen des Dramas wie den König, den "schauerliche Träume" wie "Furien des Abgrunds" verfolgen. In den Briefen "Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen" wird von dem Psychologen im Sinne eines ausgeübten Berufes gesprochen, der es gelernt habe, die Gemütskräfte in der Vorstellung zu scheiden. Diese und andere Begriffe, die Schiller in seinen Briefen und Schriften verwendet, weisen ihn im Gebiet der Psychologie als sehr kenntnisreich aus - als einen "scharfsinnigen Psychologen", wie eine Überschrift der vorliegenden Bildbiographie lautet. Sie wurde ihm zuerst im Unterricht seines Lehrers Jakob Friedrich Abel vermittelt. An einen spekulativen und wirklichkeitsfernen Unterricht hat man dabei nicht zu denken, sondern weit mehr an empirische Beobachtungen im Sinne einer schon sehr modern anmutenden Wissenschaft. Das intellektuelle Niveau dieses Unterrichts hat Hans-Jürgen Schings in seinem Buch über Schillers "Don Karlos" und die Illuminaten wie folgt charakterisiert: "Was die Eleven darüber hinaus an Abel fesselt, ist die moderne Wissenschaft par excellence, die er betreibt, die neue Anthropologie - jene physiologisch interessierte Psychologie, eine Mischung aus 'Seelenlehre, Menschen- und Naturforschung', die empirische Menschenbeobachtung auf ihre Fahnen schreibt und zur pragmatischen Menschenkenntnis anleitet."

Spätestens seit der Arbeit am "Don Karlos" ist der Kenntnisstand durch ein Schrifttum ganz anderer Art erweitert und vertieft worden. Es ist dies die französische Geschichtsschreibung und Geschichtserzählung des 17. und 18. Jahrhunderts, die den Triebkräften und Motiven des politisch Handelnden nachgeht. Politische Geschichte und Seelenlehre in der Erkundung des inneren Menschen sind in diesem Schrifttum nicht voneinander zu trennen. Der Abbé de Saint-Réal ist ein solcher Geschichtserzähler. Er ist mit seiner Darstellung des Don Karlos als einer "Nouvelle Historique" zu einer der wichtigsten Quellen Schillers für die Ausarbeitung seines Dramas geworden. Die Psychologie, die im Anschluß an dieses Schrifttum in das Drama Schillers eindringt, ist vorzugsweise eine solche des politisch handelnden Menschen. Es ist eine Psychologie des Bewußtmachens, die in die vielfach unbewußten Seelenbereiche hineinleuchtet, und die Bereiche des Unbewußten waren für Schiller alles andere als eine terra incognita, wie neuere Forschung überzeugend aufgezeigt hat. Diese Psychologie scheint Einsichten der modernen Wissenschaft vorwegzunehmen, wie es uns denn sehr modern vorkommt, wenn Schiller seinen Wallenstein sagen läßt: "Wir handeln, wie wir müssen." Wo bleibt hinsichtlich solcher Aussagen der Dichter der Freiheit? möchte man fragen. Geht es in dem, was Wallenstein bemerkt, wirklich um das vom Ich Gewollte oder nicht vielmehr um etwas Gewolltes im Ich? Schillers sehr modern anmutende Psychologie hat die Schiller-Forschung bis weit ins 20. Jahrhundert hinein kaum zur Kenntnis genommen.

Daß Schiller in solchen Fragen Erfahrung geltend macht, wird von seiner medizinischen Ausbildung her einsichtig; und ausgebildet wurde er als Arzt an einem Institut, das sich in kurzer Zeit hohes Ansehen verschafft hatte. Es befand sich hinsichtlich der Kenntnisse, die es vermittelte, und der Praxis, die hier betrieben wurde, durchaus auf der Höhe der Zeit. Daß Schiller an diesem Institut zum Arzt ausgebildet wurde und folglich ein Arztschriftsteller war wie in der Moderne Arthur Schnitzler, Hans Carossa, Gottfried Benn oder Alfred Döblin, geriet in der Geschichte seiner Rezeption weithin in Vergessenheit, und erst in neuerer und neuester Zeit hat man dieser "Grundlagenforschung" in ihrer Bedeutung für Schillers dichterisches Weltbild Rechnung zu tragen versucht. Zweifellos ist Schiller von seiner medizinischen Ausbildung her zu einem Wissenschaftsverständnis gelangt, das ihn auf dem Wege in die Moderne zeigt, in die Wissenschaft der modernen Welt, die er begriff und in seiner Ästhetik verarbeitet hat. Im Erstdruck der Erzählung "Der Verbrecher aus verlorener Ehre" lesen wir Sätze wie die folgenden: "Die Heilkunst und Diätetik, wenn die Ärzte aufrichtig sein wollen, haben ihre besten Entdeckungen und heilsamsten Vorschriften an Kranken- und Sterbebetten gesammelt. Leichenöffnungen, Hospitäler und Narrenhäuser haben das hellste Licht in der Phisiologie angezündet. Die Seelenlehre, die Moral und die gesetzgebende Gewalt sollten billig diesem Beispiel folgen, und in ähnlicher Weise aus Gefängnissen, Gerichtshöfen und Kriminalakten - den Sektionsberichten des Lasters - sich Belehrung holen." Dem mit ärztlichem Denken vertrauten Dramatiker mag man es zuschreiben, wenn Verschwörer wie Fiesko, Posa oder Wallenstein das Töten von Menschen zu vermeiden suchen und zu verhindern wissen. Die Morde und Hinrichtungen sind Sache der Herrschenden: der kaiserlichen Räte in Wien, der Inquisition am spanischen Hof in Madrid oder der über ein Königreich gebietenden Elisabeth von England. An der Empörung über die Hinrichtung des französischen Königs durch die Schindersknechte des Revolutionstribunals ist die Empörung des Arztes beteiligt, wie man annehmen darf.

Daß ärztliches Denken in der Ausübung des Dichterberufs weiterwirkt, ist am Eintreten für den einzelnen zu zeigen, dem über aller Bedeutung des Ganzen Vorrang gebührt. Das ist die Botschaft der "Briefe über Don Karlos", die sie mit der Kritik an dem politisch handelnden Marquis Posa verbindet: "An die Stelle des Individuums tritt bei ihm das ganze Geschlecht." Deutlicher noch ist diese Botschaft im vierten dieser Briefe ausgesprochen: "Hohes wirkendes Wohlwollen gegen das Ganze schließt keineswegs die zärtliche Teilnahme an den Freuden und Leiden eines einzelnen Wesens aus." Die systematische Zurücksetzung des einzelnen um des gesunden Ganzen willen, wie sie im Biologismus des 19. Jahrhunderts propagiert wurde, die Rede vom Volkskörper, die den Körper des einzelnen als zweitrangig und nebensächlich erscheinen läßt, enthält die uns bekannten Ansätze zur Barbarei, die es gegeben hat. Sie hätte voraussehbar sein können. Schillers "Botschaft" in den "Briefen über Don Karlos" liest sich, von der Kritik an Posa abgesehen, wie Selbstkritik und Kritik an der Aufklärung zugleich - wie eine Warnung, solchen Zurücksetzungen entgegenzuwirken. Sie liest sich wie eine ärztliche Botschaft, über dem Wirken für die abstrakte Menschheit den "konkreten" einzelnen nur ja nicht zu versäumen; und so auch könnte der Brief an den befreundeten Revolutionsfreund Johann Benjamin Erhard gelesen werden, den Schiller am 5. Mai 1795 schreibt: als Mahnung und Warnung an sich selbst wie an den Freund, die Gefährdungen revolutionären Denkens nicht zu übersehen, das sich über die Rechte des einzelnen nur allzu leicht hinwegsetzt. Als spräche der Arzt zum Arzt, der dieser Freund auch war, heißt es hier: "Nach und nach, denke ich mir, sollen Sie sich ganz und gar von dem Feld des praktischen Cosmopolitism zurükziehen, um mit Ihrem Herzen sich in den engeren Kreis der Ihnen zunächst liegenden Menschheit einzuschließen, indem Sie mit Ihrem Geist in der Welt des Ideals leben. Glüend für die Idee der Menschheit, gütig und menschlich gegen den einzelnen Menschen, und gleichgültig gegen das ganze Geschlecht, wie es wirklich vorhanden ist - das ist mein Wahlspruch."

Über das, was in Schillers Welt historisch geworden ist, ohne deswegen für uns interesselos geworden zu sein, sollte ebenso gesprochen werden wie über das, was bis zu uns hin unmittelbar weiterwirkt. Über Themen wie Schillers Modernität, Schiller und die Moderne oder Schiller und unser Weg in die Moderne wird in nächster Zeit mancherlei zu hören und zu lesen sein. Inwiefern über Themen wie diese mit gutem Grund gesprochen werden kann, ist zu erläutern; denn als Historiker bezeichnen wir Schillers Zeit als Zeit der Weimarer Klassik. In der Geschichte der Ästhetik im deutschen Sprachgebiet sind Klassik und Moderne keine austauschbaren Begriffe, sondern Gegensätze, die nicht gedankenlos einzuebnen sind. Solche Gegensätze zwischen beiden Epochen gibt es in mehrfacher Hinsicht. Aber sie verlieren an Bedeutung und Gewicht, wenn wir die ästhetischen Oppositionen der vergangenen Epoche mit der unseren vergleichen. Hier wie dort basieren ästhetische Oppositionen auf kritischer Distanz, sei es zu Staat, Gesellschaft oder den Wissenschaften, und hier vor allem sind Epochenverwandtschaften festzustellen. Schiller läßt es, wie an den Briefen "Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen" zu zeigen war, an ihr nicht fehlen. Wo dies aber geschieht, wo Epochenverwandtschaften erkennbar werden, haben wir Grund, von Vorläufern, Wegbereitern oder Ahnherren zu sprechen.

Oppositionen dieser Art sind am nachdrücklichsten in den Briefen "Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen" und in denen an den Herzog von Augustenburg niedergelegt. Hier geht es nicht um Übereinstimmungen mit den Wissenschaften, um ihre Einheit mit den Künsten, die Goethe so wichtig war. Schiller denkt in Fragen wie diesen anders. Er erkennt die Wissenschaften in ihrer Bedeutung für Fortschritt und Wohlstand des Menschen, aber er sieht auch, daß sie ihre eigenen Wege gehen und die Künste nicht benötigen, um sich zu entfalten. In dem berühmten Brief an den Herzog von Augustenburg vom 13. Juli 1793 spricht er aus, was ihn besorgt macht: "Selbst die spekulirende Vernunft entreißt der Einbildungskraft eine Provinz nach der anderen, und die Grenzen verengen sich, je mehr die Wissenschaft die ihren erweitert." Schiller sieht die Wissenschaften wie andere Geschäfte in die arbeitsteilige Welt eingebunden - in eine solche, die den Aufspaltungen und Zersplitterungen wenig oder nichts entgegenzusetzen hat. Es gehört zur Hellsicht seines Denkens, daß er Rang und Bedeutung der Wissenschaften wahrnimmt, ohne ihnen kritiklos zu folgen. Er sieht deutlich das wissenschaftliche Zeitalter heraufziehen, das er nicht zu hintergehen sucht, und sieht doch die ästhetische Erziehung, die Erziehung durch Kunst oder nur durch Kunst, für um so dringlicher an. Die Aufgabe der Kunst könnte als erledigt angesehen werden, wenn der Mensch zur wahren Bestimmung seiner Humanität gefunden hätte. Daß es sich so nicht verhält, macht Kunst und, aus Schillers Sicht, besonders Dichtung unentbehrlich. Wiederum ist es der Herzog von Augustenburg, dem dieser Gedanke anvertraut wird: "Wäre das Faktum wahr, - wäre der ausserordentliche Fall wirklich eingetreten, daß die politische Gesetzgebung der Vernunft übertragen, der Mensch als Selbstzweck respektiert und behandelt, das Gesetz auf den Thron erhoben und wahre Freiheit zur Grundlage des Staatsgebäudes gemacht worden, so wollte ich auf ewig von den Musen Abschied nehmen, und dem herrlichsten aller Kunstwerke, der Monarchie der Vernunft, alle meine Thätigkeit widmen." Schiller nimmt in seinem Denken den Wissenschaften nichts von ihren Rechten. Aber Alleinherrschaft billigt er ihnen nicht zu. Das Humanwerden menschlicher Existenz sieht er in ihrem Wirken nicht gewährleistet. Daher votiert er für eine Rangordnung der Werte: für Kunst als das für ihn Höchste, das sich denken läßt. Nicht ohne Selbstbewußtsein läßt er die Gräfin Schimmelmann in einem Brief 1795 wissen, wie er hinsichtlich dieser Rangordnung denkt: "Von jeher war Poesie die höchste Angelegenheit meiner Seele. [...] An der Poesie endigen alle Bahnen des menschlichen Geistes und desto schlimmer für ihn, wenn er sie bis zu seinem Ziele zu führen den Muth hat. Die höchste Filosofie endigt in einer poetischen Idee, so die höchste Moral, die höchste Politik. Der dichterische Geist ist es, der allen Dreien das Ideal vorzeichnet, welchem sich anzunähern ihre höchste Vollkommenheit ist." Und fast schon in einem Ton der Überheblichkeit bekräftigt er in einem Brief an Goethe beiläufig diese für ihn selbstverständlich gewordene Rangordnung der Werte in dem Satz: "Soviel ist indeß gewiß, der Dichter ist der einzig wahre Mensch, und der beßte Philosoph ist nur eine Carrikatur gegen ihn."

Im Grundsätzlichen denkt die literarische Moderne nicht anders, die ihre ästhetische Opposition intensivieren und vertiefen wird. So gesehen kann die Behauptung gewagt werden, daß die Moderne mitten in der Klassik beginnt und daß Schiller zu denjenigen gehört, die im einen immer schon das andere denken. Die wohl nachdrücklichste Zuordnung seiner "Klassik" zur Moderne hin hat der Zürcher Literarhistoriker Karl G. Schmid vorgenommen, wenn er im Nachwort zum Briefwechsel mit Goethe in der Artemis-Gedenkausgabe sagt: "Schiller ist der Kolumbus der ästhetischen Moderne, mit ihm tritt innerhalb der deutschen Dichtung jene Reflexion des modernen Schriftstellers über sich selbst zum erstenmal, und gleich auf der bedeutendsten Höhe, auf, die sich im 19. und 20. Jahrhundert so öfters wiederholte. [...] Gleichsam archetypisch steht Schiller vor und in allen Nachfahren, die an der Amfortas-Wunde des Intellektes leiden: der Reihe von Hölderlin und Kleist und Hebbel über Dostojewskij, Ibsen, C. F. Meyer und vielen anderen bis hinauf, in unsern Tagen, zu Thomas Mann." Wie kaum ein anderer unter den Schriftstellern der Moderne ist es Thomas Mann, der in seinem literarischen Werk und in seiner denkwürdigen Rede vor einem halben Jahrhundert den Ahnherrn der ästhetischen Moderne bestätigt hat. Innerhalb der eigenen erlebten Rezeptionsgeschichte wirkt der am 8. Mai 1955 vorgetragene "Versuch über Schiller" aufs lebendigste fort: die durchdacht gesetzten Worte, der eingeübte und keinesfalls zufällige Ton, die Erinnerung an das, was damals noch nicht lange zurücklag, in seinen Worten: eine Regression des Menschlichen, einen Kulturschwund der unheimlichsten Art, einen Verlust an Bildung, Anstand, Treu und Glauben, jeder einfachsten Zuverlässigkeit, der beängstigt". Unvergessen auch die Dezenz des Gedenkens, die nunmehr im Gedenken an Schiller die Erinnerung an Thomas Mann und diese Rede einschließt, in der sich ein Satz wie der folgende besonders eingeprägt hat: "Von seinem sanft-gewaltigen Willen gehe durch das Fest seiner Grablegung und Auferstehung etwas in uns ein: von seinem Willen zum Schönen, Wahren und Guten, zur Gesittung, zur inneren Freiheit, zur Kunst, zur Liebe zum Frieden, zu rettender Ehrfurcht des Menschen vor sich selbst."

Anmerkung der Redaktion: Wir danken dem Verfasser und dem Verlag für die Publikationsgenehmigung. Alle Rechte für die Publikation hat der Aufbau Verlag.

Titelbild

Marie Haller-Nevermann: Friedrich Schiller. Ich kann nicht Fürstendiener sein. Eine Biographie.
Aufbau Verlag, Berlin 2004.
303 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3351030185

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