Wie halten wir es mit den Klassikern?

Überlegungen zum Schiller-Jahr

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Ähnlich wie das Goethejahr 1999 hat auch das Schiller-Jahr 2005 seine Schatten vorausgeworfen und die Frage geweckt: Wie halten wir es eigentlich heute mit unseren Klassikern?

Erinnern wir uns: Im 19. Jahrhundert entfaltete die deutsche Klassik im Bildungsbürgertum eine ungeheure Wirkung. Zitate aus den Werken Goethes und Schillers wurden zu volkstümlichen Sprichwörtern. Die Lektüre ihrer Texte wurde Pflichtpensum an den höheren Schulen. Schillers Dramen beherrschten die Spielpläne der Theater. Dabei entwarf man allerdings ein idealisiertes Bild der beiden Dichter. Für die Brüche in ihrem Leben und für das Kritische in vielen ihrer Werke hatte man keinen Blick.

Vor allem Schiller wurde national überstrapaziert und sein Bild arg verfälscht, sowohl im Kaiserreich, nach dem Ende des Ersten Weltkrieges - nachdem Deutschland auf einem Tiefpunkt nationaler Entwicklung angelangt war -, als auch während des Nationalsozialismus. In platter Umdeutung wurden Schillers Stücke dazu benutzt, die tragenden Begriffe der Nazi-Ideologie als deren zentrale Botschaften auszugeben. Julius Petersen verkündete 1934 auf einer Tagung der Goethe-Gesellschaft in Weimar allen Ernstes, Schiller und Goethe seien "die ersten Nationalsozialisten gewesen". Doch 1941, nachdem die Nazis und ihre akademischen Mitläufer erkannt hatten, dass Schillers Helden für die Nazi-Ideologie gefährlich werden konnten, verbot Hitler durch einen persönlichen Befehl die Aufführung des "Schweizer Heckenschützen Tell". Dagegen beriefen sich nicht von ungefähr der deutsche Widerstand und die Anhänger der Weißen Rose sowohl auf Schiller als auch auf Goethe.

Nach dem Krieg und dem Ende der Nazi-Barbarei nahmen beide deutsche Staaten das historische Erbe der Klassik für sich in Anspruch, verweigerten aber die kritische Aufarbeitung der Funktionalisierung der Weimarer Dichter während des Nationalsozialismus und verhinderten damit jede Selbstreflexion. Während das Goethe-Jahr 1949 noch in beiden Teilen Deutschlands feierlich und mit viel Pathos begangen wurde, wie in den zwanziger Jahren und in den Jahrzehnten zuvor, gerade so, als habe es die Nazi-Zeit nicht gegeben - Thomas Mann hielt die Festansprache sowohl in Weimar als auch in Frankfurt -, zeigte sich in den beiden Schiller-Gedenkjahren 1955 und 1959 der sich allmählich verschärfende Gegensatz zwischen Ost und West. In der DDR wurden die Weimarer Dichter mehr und mehr ideologisch vereinnahmt als "Vorläufer des sozialistischen Realismus" und als "Künder echter Völkerfreundschaft". Der Westen hingegen übte sich in bewusster Politikferne so lange, bis mit der kritischen 68er Bewegung dann eine allgemeine ideologiekritische Mythenzertrümmerung einsetzte, die auch Schiller und Goethe erfasste. Durch die Oberstufenreform im Jahr 1972 wurden dann die Klassiker zeitweilig aus den Schulzimmern verbannt. Eine gewisse Häme und Verachtung ihnen gegenüber machte sich breit. Dozenten und Seminarleiter, die der 68er Bewegung angehörten, ließen jahrelang ihren Spott an ihnen aus - "ach, der olle Goethe und der olle Schiller, was gehen die uns noch an", hieß es auf manchen Seminaren und Tagungen. Enzensberger wollte in jener Zeit zum Entsetzen aller Bildungsbürger Schillers "Glocke" und andere seiner Balladen sogar dem Vergessen überantworten.

"Seit 1989", schreibt Marie Haller-Nevermann in ihrer Schiller-Biografie "Ich kann nicht Fürstendiener sein" (Aufbau 2004), "ist dieser Verlust an verbindlichem literarischen Grundwissen gesamtdeutsch. Schiller wird als 'Erinnerungsort' im Unterricht nicht mehr tradiert." Doch gilt Haller-Nevermanns Behauptung nur bedingt, nämlich dann, wenn Schüler den Deutschunterricht abgewählt haben oder an ihm nur als Nebenfach teilnehmen. Wer Deutsch als Hauptkurs wählt, wird auch heute noch - oder vielmehr wieder - mit den Klassikern vertraut gemacht, und zwar eher mit Schiller, vorzugsweise mit "Kabale und Liebe" und "Wilhelm Tell", als mit den Werken von Goethe. Eine Ausnahme bildet hier der erste Teil des "Faust".

Gleichwohl besteht kein Zweifel daran, dass unsere Klassiker erheblich an Popularität eingebüßt haben und dass das allgemeine Verhältnis zu Goethe und Schiller noch immer gespalten ist, wie eine kleine Geschichte deutlich macht, die Konrad Adam in einer Kolumne in der Tageszeitung "Die Welt" im September 2004 zum Besten gab: "Als eine Zwölfjährige neulich die Einladung ihrer Lehrerin, der Klasse etwas Schönes vorzutragen, mit Goethes 'Erlkönig' beantwortete und auf die erschrockene Frage, wer ihr so etwas aufgedrungen habe, den Großvater nannte, bekam sie als einzige Reaktion zu hören: 'Du armes Kind!'"

Und was ist Schiller heute?, fragt Volker Hage in seinem im "Spiegel" veröffentlichten grandiosen Schiller-Artikel "Die feurige Seele". "Ein wirkungsloser Klassiker, dessen Freiheitsdurst keinen von Computerspiel-Massakern ermüdeten Schülerkopf mehr entflammen kann?"

Betrachtet man die zu Schillers 200. Todestag erschienenen Schiller-Biografien, keimt Hoffnung auf. Von überschwänglicher Verehrung, Verklärung oder gar Beweihräucherung ist in ihnen ebenso wenig zu spüren wie von Häme und Spott. Die Zeiten, da Schillers Biografen auf ihn je nach Gusto Deutschlands Größe oder die deutsche Misere und die Last eines unglücklichen Bewusstseins auf ihn gehäuft haben, haben wir offensichtlich hinter uns gelassen.

Erst jetzt, mit der allmählichen Rückbesinnung auf die kulturelle Tradition, auf der Suche nach einer gewissen Verbindlichkeit, haben auch die klassischen Dichter wieder an Ansehen gewonnen. Im Dramenpaket etwa, das der Kritiker Marcel Reich-Ranicki innerhalb seines Kanonprojekts zur deutschen Literatur anlässlich der letzten Buchmesse präsentierte, ist Schiller der am häufigsten vertretene Dramatiker, noch vor Goethe. Augenscheinlich bemüht man sich allenthalben, den einstigen Heroen Schiller vom Sockel zu holen. "Nun soll er endlich Mensch sein", hofft Volker Hage.

Gleichwohl bleibt festzuhalten, wie es jüngst Heinz Schlaffer in seinem Buch "Die kurze Geschichte der deutschen Literatur" (2002) getan hat, dass die Werke der älteren, der klassischen Literatur, "deren Lektüre sinn- und genussvoll wäre", mehr und mehr aus dem Gedächtnis schwinden. "Heute lesen selbst die Gebildeten unter den Liebhabern der Literatur kaum etwas aus der Zeit vor Fontane." Viele halten es angesichts der "Forderung nach Aktualität, die in der Technik, der Ökonomie, der Politik angebracht ist", für eine Verschwendung der Zeit. Zu einem Ereignis, so Schlaffer, werden in der Gegenwart die Dichter der Vergangenheit nur dann, wenn das Jubiläum ihres Geburts- oder Todesjahres ansteht. "Aber dieses Ereignis besteht in Feiern und in Events, die man nicht versäumen darf - zum Lesen der Werke fühlt sich dadurch niemand gedrängt [...] Klassische Texte gelten als konventionell, langweilig, selbstverständlich. Wer jedoch mit Schülern und Studenten Passagen von Lessing, Goethe, Hofmannsthal oder Musil betrachtet, wird bald merken, dass sie - in Prosa wie in Versen - für heutige Leser so schwierig, unvertraut und dunkel geworden sind, als handele es sich um hermeneutische Texte der Avantgarde. Die Zeiten haben sich verkehrt: Eingängig ist das Neueste, unzugänglich das Klassische. Die Unsterblichkeit, die der deutschen Literatur in ihrer besten Zeit als Idee vorschwebte, erweist sich auch in ihrem eigenen Nachleben als Illusion."

Wahrscheinlich wird auch die 200. Wiederkehr von Schillers Todestag im Mai 2005 an dem von Schlaffer konstatierten Zustand kaum etwas ändern - trotz all der geplanten Ausstellungen, Filme, Theateraufführungen und sonstigen Initiativen und Aktivitäten, die, neben Werkausgaben, sicher tief ins Jubiläumsjahr hineinreichen werden -, genauso wenig wie Goethes 250. Geburtstag im Jahr 1999 daran etwas geändert hat.