Ganz schön - und doch gemogelt!

Die neue fünfbändige Ausgabe der Werke der Gräfin Fanny zu Reventlow im Igel-Verlag, Oldenburg

Von Jürgen GutschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Gutsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Igel-Verlag, Oldenburg - das ist der Verleger Michael Schardt - hat sich die Mühe gemacht, das Gesamtwerk der Gräfin Fanny zu Reventlow (so genau hieß sie, das stets verwendete "Franziska" war nur pen-name, seit hundert Jahren von jedermann ein wenig zu folgsam auch für die historische Person verwendet) neu herauszugeben - nach zwei ersten Anläufen zu "Gesammelten Werken" durch die Schwiegertochter Else Reventlow im Jahr 1925 (in einem Band von über 1200 Seiten bei Albert Langen) und 1971ff. (in vier Bänden bei Langen-Müller). Es ist ein eindrucksvolles Werk entstanden: Fünf großformatige Bücher in blauem Ganzleinen, fadengeheftet, mit hervorragendem Druck auf wunderbarem Papier, rotem Lesebändchen, in auf edle 1000 Stück begrenzter Auflage zum Preis von 88 Euro. Nein, das ist nicht zu teuer! Im Gegenteil: Dass ein solcher Preis überhaupt zu erzielen war, schulden der Verleger und wir Leser der großzügigen EWE-Stiftung Oldenburg; auch ihr, nicht nur dem Verleger, gilt also der Dank der Lesergemeinde. In den vergangenen 30 Jahren hatte der Lesewillige sich in der Tat aus dem Antiquariat zu versorgen; nun sind alle Schriften wieder greifbar.

Es bedarf also keiner Silbe der Begründung dafür, dass diese Neuausgabe sinnvoll und darum auch herzlich willkommen ist! Fanny zu Reventlow ist eine der wichtigsten Personen der frühen deutschen Moderne, - nicht nur wegen des literarischen Gewichts ihres schmalen erzählerischen Werks, sondern vor allem ihrer paradigmatischen biographischen Rolle halber, die sie im verwickelten Prozess der weiblichen Emanzipationsgeschichte seit den Tagen der frühen Frauenrechtsbewegung spielte, - ohne ihr selbst anzugehören. Dass drei wunderbare ironisch-geistreiche Romane aus ihrer Feder dies auch gleichsam chronistisch begleiten, erhöht ihre Bedeutung, und diese Romane sind nun Teil der Literaturgeschichte.

Ein Team von Herausgebern fand sich unter der Regie des Verlegers Michael Schardt zusammen - in der Reihenfolge der Bände: Karin Tebben, Andreas Thomasberger, Brigitta Kubitschek, Martin-M. Langner und Baal Müller; die ersten beiden Bände enthalten die Romane, der dritte das Tagebuch, der vierte die Briefe und der fünfte den ganzen Rest - vor allem Fanny zu Reventlows drei bemerkenswerte kulturkritische Aufsätze (wovon der dritte, "Erziehung und Sittlichkeit", allerdings, im Gegensatz zur Ansicht des Herausgebers Baal Müller, schon 1900 in Otto Falckenbergs "Buch von der Lex Heinze" erschienen ist). Autographe gibt es zu den erzählenden Schriften so gut wie keine, also brauchte man nur auf die Erstdrucke bei Langen und den anderen Erstverlagen zurückzugreifen. Da wir hier immer wieder aufs Neue durch aufmerksame Lektorate gegangene Publikationen haben (nach anfänglichen Pannen hat sich bis heute ein halbes Dutzend deutscher Großverlage beteiligt, Rowohlt, Fischer usw.), sind alle diese Texte hier nun in einem mustergültigen Zustand. Die Begleitkommentare zum Inhalt der Bände 1, 2 und 5 können sich, unbehelligt von schwierigen Editionsaufgaben, der klugen Einführung und Kommentierung widmen und tun dies auch im Ganzen erfolgreich in durchaus kenntnisreichen Nachworten, wobei sich Andreas Thomasberger zur Textgeschichte seiner beiden Romane äußert, während Karin Tebben zu einer profunderen wissenschaftlichen Studie ausholt, - eine Disharmonie, die sich unter allen fünf Nachworten mehr oder weniger zeigt, aber offensichtlich bei einem Team weder vermeidlich war noch über Gebühr stören sollte.

Eine Sonderrolle in der Edition spielen die Bände 3 und 4, die die autobiographischen Schriften enthalten, darunter Fanny zu Reventlows wohl doch bedeutendste Hinterlassenschaft, ihr über viele Jahre bis 1910 (mit Unterbrechungen) geführtes Tagebuch. Zunächst ist über beide Bände zu sagen, dass sich doch der eine oder andere recht störende Schatten auf die sonst so schöne Produktion legt. Die Rede ist von Fehlern in den Stellen-Kommentaren zu beiden Bänden. Wer sich in einer Materie auskennt, findet leider als Rezensent immer Fehler im Text anderer, mögen die sich auch ebensogut auskennen. Darum soll hier keine kleinliche Liste folgen, die wohl möglich wäre. Den Herausgebern wie dem Verleger ist aber zu raten, für die zweite Auflage, nach der wohl doch am Ende etwas hastigen Drucklegung der ersten, fleißig erneut Korrektur zu lesen und zu bereinigen, was zu bereinigen ist, - von stehen gebliebenen Tippfehlern bis zu albernen poetischen Ausschmückungen ("mit den drei Studenten bildete FzR ein vierblättriges Kleeblatt"), von falschen Adressen bis zu falschen Berufsbezeichnungen, von tautologischen und unterlassenen "Erläuterungen" bis zu falschen Datierungen.

Nichts ist natürlich einzuwenden gegen die äußerst verdienstvolle Hinzufügung von über hundert bislang unbekannten Briefen in Band 4 (Erwähnung verdienen vor allem die Briefe an Hans Walter Gruhle, die wir erstmals lesen), auch wenn sechs der Neulinge (Briefe an Bohdan von Suchocki) aus einer anderen Publikation stibitzt sind. Wenigstens zu den neuen Briefen musste der Herausgeber Martin-M. Langner ins Archiv - und bevor ihm das nicht einer nachtut, hat hier auch niemand etwas an den von ihm etablierten Texten zu kritisieren. Anders liegt die Sache bei seinem Nachwort. Nach der Kärrnersarbeit des Briefelesens (die er, wie wir hören, aber nicht ganz alleine machen musste, und wozu er im Münchner Literaturarchiv "Monacensia" bereits Vorarbeiten vorfand) - nach solcher Mühsal also war für eine stilistische Überarbeitung dieses Nachworts offenbar nicht mehr genügend Zeit. Man kann in einer wissenschaftlichen Studie nicht gut umgangssprachliche Scherzwörter wie "nichtsdestotrotz" verwenden, das wäre stets besser mit "dennoch" wiedergegeben - und man kann das Nachwort wohl auch keinen "Schwerpunkt legen" lassen, denn ein Schwerpunkt liegt entweder ganz alleine irgendwo oder er wird nun einmal von jemandem "gesetzt". Wenn man die unterschiedlichen Sprechhaltungen, die die Autorin gegenüber unterschiedlichen Briefempfängern einnimmt, hervorheben will, leistet der Satz "..., wie sich an den Briefen an Suchocki oder - im Gegensatz dazu - an denen an Klages ablesen läßt" diese Aufgabe nur mangelhaft. Recht komisch ist auch eine Wendung wie "die daraus [gemeint sind die beiden Weltkriege] resultierende ausbleibende Neuakzentuierung", - nun entweder resultiert sie oder sie bleibt aus, tertium non datur. Jeder dritte Satz des 16-seitigen Nachworts enthält stilistische Fehlgriffe dieser Art; die Beispiele mögen genügen. Hier tut gründliche Überarbeitung not.

Regelrecht peinlich aber ist nun doch die "neue" Tagebuch-Publikation, Band 3 der Edition, verantwortet von Brigitta Kubitschek. Nun mag man über Frau Kubitschek sagen, was man will, eines kann man nicht behaupten, dass sie nämlich keine absolute Expertin auf dem Gebiet der Fanny zu Reventlow sei. Umso unerklärlicher ist darum ihre mangelnde editorische Professionalität. Sie behauptet, ohne mit der Wimper zu zucken: "Für unsere Neuedition wurden Druckfehler und Irrtümer der älteren Ausgabe beseitigt. Die Handschriften wurden zu diesem Zweck herangezogen." Der erste Satz mag zutreffen, der zweite ist die glatte Unwahrheit. Hätte Frau Kubitscheks "Neuedition" nämlich die Handschriften herangezogen, wäre ihr Text nicht zeichen-identisch mit jener Version des Tagebuchs, die von Else Reventlow im Langen-Müller-Verlag, München 1971 herausgegeben wurde. Ausgerechnet Fanny zu Reventlows bedeutendste literarische Hinterlassenschaft ist also das vernachlässigte Stiefkind dieser an sich so schönen neuen Edition, - und das ist schon ein rechtes Unglück!

Wenn es hier nur darum ginge, Fragen der Rechtschreibung oder der Zeichensetzung am Autograph abzugleichen oder Setzfehler der gedruckten Texte zu beseitigen, so wäre es freilich pedantisch und unangebracht, den Finger auf diesen Übelstand zu legen. Aber so einfach liegt die Sache leider nicht. Was Else Reventlow zuerst 1925, dann, an der Handschrift revidiert (sie hatte die Hefte ja auf dem Tisch, in die Münchner "Monacensia" gelangten sie erst 1978) im Jahr 1971 vorlegte, war der nie aufgegebene Versuch einer tendenziell "hagiographischen" Darstellung ihrer Schwiegermutter. Zu diesem Zweck hatte sie 1925 schon rein formal so manches getan, auf das wir hier nicht näher eingehen müssen, zumal sie es später selbst tilgte. Von großer Bedeutung ist aber: Sie verfälschte den Text - gewiss nicht immer absichtlich, oft auch aus Entzifferungs-Not, gelegentlich versehentlich -, indem sie Stellen ausließ, die wiederzugeben ihr inopportun erschien, andere nach Gutdünken in Pseudo-Fanny-Text umformulierte, manches Längere auch einmal kurz zusammenfasste, Selbstphantasiertes ergänzte, immer wieder Appellativa falsch dechiffrierte und damit raumzeitliche Unmöglichkeiten schuf, Fannys Stil änderte, - ja auch Rechtschreibung und Zeichensetzung nach eigenem Ermessen handhabte. Letzteres mag das kleinste Vergehen von allen sein, es ist aber schon dies - vom andern schweigen wir - in Ausgaben mit "wissenschaftlichem" Anspruch, und den erhebt der Verleger ausdrücklich, eine editorische Unmöglichkeit.

Nur wer die Handschrift vor sich hat und sie Zeichen für Zeichen mit den Druckfassungen vergleicht, arbeitet korrekt. Um nur ein Beispiel zu nennen - es sind in Wahrheit tatsächlich hunderte von Fehllesungen aller Art im Tagebuch zu beklagen - hier ein Eintrag am 16. September 1905, als Fanny ihre jüdischen Freunde Lutz und "Fädchen" Landshoff in Solln besucht (nicht in der Hermann-Vogl-Str. 156, sondern in der Hermann-Vogl-Str. 15b, Herr Langner!). Es fehlt seit 1925 der folgende Passus ganz: "Sonntag mit Otto und Bubi nach Solln, das ist auch nicht mehr das alte. Komme mehr und mehr zum Antisemitismus, man kann mit diesem Volk nicht auskommen". Die Auslassung mag, von den Absichten der politisch links engagierten Journalistin Else Reventlow her gesehen, verständlich sein, ist aber für einen verantwortlichen Textherausgeber kein gangbarer Weg. Vor allem: Der Satz beschädigt ja Fanny zu Reventlows Ruf keineswegs, denn sie war es zugleich, die für den Juden Karl Wolfskehl gegen den Antisemiten Ludwig Klages - und Klages beeinflusste immerhin ihre intellektuelle Biographie stärker als alle anderen - heftig eintrat; der Jude Franz Hessel wohnte mit ihr unter einem Dach. Wie aber können solche Spannungsverhältnisse überhaupt sichtbar werden, wenn man einen ideologisch vorzensierten Text kritiklos nun zum dritten Mal seit 1925 abdruckt? Zu der fraglichen Textseite in der Handschrift ist ja zu sagen, dass nicht nur dieser wichtige Passus in nunmehr sämtlichen Druckfassungen fehlt. Von den im Ganzen 119 geschriebenen Wörtern dieser Handschrift-Seite übernimmt Else Reventlow gerade einmal 64, d. h. sie etabliert drei Textlücken zu 17, 27 und 11 Wörtern auf einer einzigen Tagebuchseite, - selbstverständlich ohne jeden Auslassungsvermerk oder gar eine Auslassungsbegründung. Das ist ein durchaus typisches Bild für ihre Editionsarbeit, die uns nun zum wiederholten Mal für gutes Geld angeboten wird. Zur Willkür-Streichung noch ein Beispiel für das gegenteilige Verfahren, die Willkür-Einfügung: Am 8. Juni 1903 notiert Fanny zu Reventlow den klar lesbaren Satz "Nachts von Theodors Zimmern in Husum geträumt", - gemeint ist ihr im Alter von 15 Jahren verstorbener Bruder Theodor - wer sonst! Was lesen wir in den gedruckten Fassungen zwischen 1925 und 2004? Folgende Fantasia: "Nachts von Theodor Storms Zimmern in Husum geträumt." Auch dies keineswegs ein Einzelfall. (Bei Brigitta Kubitschek zieht diese Fehllesung natürlich nun eine längere Anmerkung zu Theodor Storm nach sich, - falsch ist sie darum ja nicht.)

Das bedeutet: Die Neuausgabe des Tagebuchs im Rahmen dieser Edition mag ihre Verdienste haben in den hinzugefügten Stellenkommentaren und dem vervollständigten Register (worin dann freilich auch einmal ein "Such" mit einer "Lisa" verwechselt wird, weil im Text der Name ja fehlgelesen wurde, - nein, auch das ist keineswegs das einzige Beispiel seiner Art!), - der Zugewinn sei nicht bestritten! Aber ist die absolute Sorglosigkeit, mit der eine Herausgeberin hier ihre Quellen keines Blickes würdigt, damit wettgemacht? In diesem Teilaspekt ist die neue Ausgabe des Igel-Verlags leider eine Mogelpackung. Da hat Frau Kubitschek ihren Verleger wie die EWE-Stiftung hübsch reingelegt.