Blasierte Soziologen

Mit Hartmut Häußermann und Walter Siebel Einblicke in die Stadtsoziologie gewinnen

Von Johannes SpringerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Springer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine schöne Analogie finden die Autoren der "Einführung in die Stadtsoziologie" im Anschluss an Georg Simmel für eine städtische Lebensweise: Hatte nämlich Simmel als eine von drei zentralen Charaktereigenschaften des Städters die Blasiertheit entdeckt, die sich aufgrund der sinnlichen Überreizung und daraus resultierenden Unangemessenheit der Reaktionen Bahn bricht, so rezipieren Häußermann und Siebel den großstädtischen Sozialcharakter, der erst einmal distanziert auf alles Neue reagiert, als gelungene Beschreibung eines Soziologenprofils. Dem Großstädter gleich begegne der Soziologe allem Alltäglichen erst einmal mit dem objektivierenden Blick des Fremden, der das von den meisten für selbstverständlich Genommene aufgreift und daraus Typisierungen und Regelmäßigkeiten destilliert. Ist ja auch kein Wunder, kann man da sagen, schließlich ist die Soziologie als solche ja auch zum Teil eine Reaktion auf die kapitalistische Industrialisierung, den gesellschaftlichen Wandel und die Urbanisierung. Man kann die Soziologie beinahe als Produkt der Stadt bezeichnen. Und eben die enge Verknüpfung dieser Stränge der Moderne, der Stadt und ihrer soziologischen Erforschung und Ausdeutung wird hier in real- wie theoriegeschichtlicher Manier nachvollzogen.

Die Theoriegeschichte kommt an den klassischen Positionen von Georg Simmel über Max Weber bis zur Chicago School nicht vorbei, ein bisschen zu bedauern ist in diesem Zusammenhang die fehlende Behandlung Henri Lefebvres, der nur in einem Nebensatz erwähnt wird. Den mittlerweile kanonischen Texten wird hier also durchaus Referenz erwiesen, obwohl die Einführung keine wirkliche Schulen- oder Dogmendarstellung liefern will. Dagegen werden in sehr aufmerksamer Manier beizeiten vernachlässigte Positionen, wie die von Hans Paul Bahrdt oder Ferdinand Tönnies, diskutiert und in aktuelle Debatten eingespeist. Dem Titel des Einführungswerkes fühlt sich der Band tatsächlich verpflichtet, was vor allem in einer außerordentlich didaktischen und zugänglichen Sprache und einer strukturell intelligenten Platzierung von vertiefenden Schwerpunktkästen Ausdruck findet. Durch die Gliederung in vier große Themenblöcke - Urbanisierung und Strukturwandel, Städtische Lebensweise und urbane Kultur, Stadt als empirischer und theoretischer Gegenstand, Stadt und Ungleichheit - umgehen die Autoren die Struktur einer zeitlichen Ordnung des theoretischen Materials. So wird zwar an den betagten Basistheorien auf glänzende Art und Weise ihr Potenzial für heutige stadtsoziologische Praxis eruiert und mit ihnen der Wandel der Stadtformen diskutiert, aber eine gewisse theoretische und thematische Beschränktheit lässt sich nicht von der Hand weisen. Was in anderen Einführungen komplexer und dadurch natürlich auch schwieriger gerät (wie z. B. bei Frank Eckarts "Soziologie der Stadt"), ist hier auf das Minimum an Essentials heruntergekocht. Ein Vorteil dieser Methode liegt ganz sicher in der Handhabbarkeit, will man allerdings ins Bild gesetzt werden über unmittelbar zeitgenössische Diskurse wie die Global City Theorie, die Semiotik der Stadt oder den Postfordismus in der Stadtsoziologie, wird man bei Häußermann und Siebel nur bruchstückhaft fündig.

An diesem nicht sehr breit gefächerten Ausschnitt zum Thema Stadtsoziologie mag man Anstoß nehmen, es ist jedoch eine sehr bewusste Beschränkung der Autoren, die erst in einem abschließenden Gespräch etwas aufgehoben wird. So kann das Buch vor allem im letzten Kapitel zur Stadt und Ungleichheit seine Stärken ausspielen und anhand zahlreicher empirischer Forschungen zu sozialräumlicher Segregation eine Ahnung von der praktischen Verwertbarkeit der Stadtsoziologie vermitteln. Hier wird ganz klassisch die soziologische Frage des urbanen Zusammenlebens durchdekliniert, die Notwendigkeit eines angemessen interdisziplinären Ansatzes gerade in dieser Disziplin aber nie aus den Augen gelassen. So stehen hier die ökonomischen, juristisch-politischen und geografischen Entwicklungen nicht minder zur Debatte wie die Veränderung in urbanen Geschlechterverhältnissen. Zur Erörterung der Gender-Diskurse wurde indes noch Verstärkung herangeholt, und zwar in Person Susanne Franks, die sich unlängst durch ihre famose Aufarbeitung der modernen Stadtplanung als Geschlechterkampf hervortun konnte und sich hier auf knappem Raum einer Skizze der Tradition feministischer Stadtforschung mit großer Klarheit widmet.

Überraschend ist, dass vor allem im abschließenden Gespräch der Eindruck entsteht, der moderne Interventions- und Wohlfahrtsstaat, der im Gerede über den Munizipalsozialismus und die "europäische Stadt" gemeint ist, sei kaum noch zu reaktivieren. Gerade wenn man sich die ansonsten normative Position der beiden Autoren dazu ins Gedächtnis ruft, verwundert der appellative Charakter, mit dem die Rede von der Stärkung der Zivilgesellschaft als mögliches Kompensationsinstrument für den Rückzug des Staates vorgebracht wird. Gemildert zwar durch eine ausgleichende Bemerkung Siebels, dass man die Frage nach dem Verhältnis zwischen bürgerschaftlichem Engagement und staatlicher Organisation thematisieren und die Balance zwischen individueller Emanzipation und gemeinschaftlicher Verpflichtung befragen müsse, scheint der Rückzug des Staates hier aber leider schon als unumgehbare Entwicklung. Dass die damit auch verknüpfte Gefährdung einer gesicherten ökonomischen Existenz die von Simmel beschriebene urbane Lebensweise in Form blasierten und distanzierten Verhaltens gänzlich unterminiert, ist wahrscheinlich nicht das entscheidende Problem dieser ökonomischen Entwicklung, aber im Rahmen dieses Buches ein kaum zu überschätzendes und auch bearbeitetes Thema. Nicht nur verliert die Großstadt ihre Funktion als kulturelle Sozialisationsinstanz, sie wird noch weniger integrativ wirken und immer klarer darstellen, was Hartmut Häußermann als der räumlichen Struktur innewohnend bezeichnete: ungleiche gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse.

Titelbild

Hartmut Häußermann / Walter Siebel: Stadtsoziologie. Eine Einführung.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
263 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3593374978

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