Schillers Balladen

Spannungskunst und Moralvermittlung

Von Helmut KoopmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Koopmann

Ende 1796 gab es in der literarischen Welt erhebliche Aufregung: schuld daran war der Musenalmanach für das Jahr 1797, der zur Herbstmesse 1796 erschienen war, denn da fanden sich Beleidigungen und Angriffe, Spott und Satirisches, lächerlich Gemachtes und boshaft Karikiertes unverblümt nebeneinander, und zwar in 414 kleinen Gedichten. Es waren Zweizeiler, Distichen, und sie trugen einen harmlos-freundlichen Titel: "Xenien", also Gastgeschenke, aber sie machten ihrem Namen allenfalls ironische Ehre: Zwei Autoren zogen über ihre Zeitgenossen her, vor allen Dingen über ihre schreibenden, und das Strafgericht hätte schärfer und boshafter nicht ausfallen können: es war erbarmungslos, es waren Hinrichtungen. Die Verfasser: Schiller und Goethe.

Schiller war nie zimperlich gewesen, was die Auseinandersetzung mit dichtenden Zeitgenossen anging, er hatte schon als junger Schriftsteller sich mit einem bekannten schwäbischen Autor angelegt, und das waren nicht literarische Späße gewesen, sondern, um es genau zu bezeichnen, Totschlagsversuche. Der Kontrahent, so wünschte Schiller damals, möge "an den Schwertspitzen der Kritik sich spießen", und es versteht sich, daß er sich dabei zu Tode spießen sollte. Das menschenfreundliche, humanitäre 18. Jahrhundert - es gibt kaum unbarmherzigere Urteile in solchen literarischen Feldzügen, wie Schiller schon als junger Autor einen führte, und Schiller war nicht der einzige.

1796 nun wiederholte sich ein Strafgericht, und diesmal war es eines, daß die beiden bedeutendsten literarischen Zeitgenossen verhängten, nicht gegen einen Einzelnen, sondern gegen den Rest der literarischen Welt. Was diesen Schwarm von kleinen Xenien, kleinen Vernichtungen so gefährlich machte, war der ironische Ton, und weil sie ein literarisches Gericht über nahezu alles waren, was damals den Markt bevölkerte, gab es so viel Furore. Die beiden zogen her über Philister und Schöngeister, über Metaphysiker und Physiker, über Theoretiker, moralische Schwätzer, Vielwisser und Philosophen, Strenglinge und Frömmlinge, Fratzen und Erzieher, über das Göttliche und über die Phantasie, über Genialität, Witz und Verstand, über deutsche Kunst und Kunstschwätzer, und es wollte kein Ende nehmen. Die Resonanz war gewaltig. Der Musenalmanach verkaufte sich reißend, im Oktober 1796 waren schon 1.400 Exemplare auf die Leipziger Messe geschickt worden. Es gab viel Gelächter im literarischen Deutschland, aber es gab noch mehr Ärger: es waren der Beleidigungen zu viele. Die Literaturschelte machte auch nicht halt bei der schönen Literatur, sondern ging in die Kunst und in die Philosophie gleichermaßen. Eines dieser Xenien betraf etwa die Kantianer, die philosophischen Trittbrettfahrer, und Schiller, der dieses Xenion wohl verfaßt hatte, schlüpft in die Rolle Kants und spricht unter der Überschrift

Sachen, so gestohlen worden:
Zwanzig Begriffe wurden mir neulich diebisch entwendet;
Leicht sind sie kenntlich, es steht sauber mein I. K. darauf.

Das folgende Distichon lautet:

Antwort auf obigen Avis:
Wenn nicht alles mich trügt, so hab ich besagte Begriffe
In Herrn Jakobs zu Hall' Schriften vor kurzem gesehen.

Das bezog sich auf die "Philosophische Sittenlehre" eines gewissen Jakob, die 1795 erschienen war - heute wegen ihrer Unoriginalität und Langweiligkeit zu Recht völlig vergessen. Aber damals kannte man ihn, und nun konnte er sich nicht mehr auf der Straße sehen lassen. Kurzum: es gab einen gewaltigen Rumor in Deutschland, und wer immer schrieb, fühlte sich attackiert, und daß die anderen darüber lachten, machte die Sache nur noch schlimmer.

Habe ich mein Thema verfehlt? Bis hierhin ja - und doch nicht so ganz. Was ich berichtet habe, gehört zur Vorgeschichte der Balladen, von denen viele ein Jahr später, im "Musenalmanach auf das Jahr 1798", Ende 1797 erschienen, und was Schiller angeht: diese Balladen sollten ein Gegengewicht schaffen zu den "Xenien", wollten also nicht etwas verlachen, sondern umgekehrt Beispiele einer guten Literatur, und mehr noch als das, Beispiele eines guten Lebens, eines richtigen Verhaltens, einer überzeugenden Ethik geben. Die Balladen wollten nicht nur etwas erzählen um des Erzählens willen, sie wollten vorbildliches Handeln demonstrieren und dokumentieren - und nebenbei das reichlich ramponierte Ansehen der beiden "Xenien"-Verfasser wieder aufbessern. Der Erfolg stellte sich bald ein. Die Spöttereien des Vorjahrs waren rasch vergessen, jedenfalls im Publikum. Und der Erfolg war ein langfristiger, denn wenn irgend etwas Schiller bekannt gemacht und bekannt gehalten hat, sind es seine Balladen.

Die Stoffe seiner Balladen hat Schiller von überall her genommen, da findet sich Mittelalterliches, aber auch aus dem Griechischen Überliefertes. Eine neue Welt tat sich damals auf; da gab es keine Philosophie wie in den "Künstlern" und keine Seelenbekenntnisse, keine Ermahnungen und mythologischen Hintergründigkeiten wie in Schillers Jugendgedichten, da sind Legenden und Anekdoten versammelt, aber das alles fügt sich gut zusammen und gibt dieser Gattung einen geradezu weltliterarischen Anstrich.

Es sind, wo immer sie auch herkommen mögen, populäre Stoffe, und mögen die Leser bei den "Xenien" auch öfters gerätselt haben, wer gemeint gewesen sein könnte und warum etwas attackiert worden sei, so gibt es derartige Verständnisbarrieren bei den Balladen nirgendwo. Balladen waren im 18. Jahrhundert ohnehin weit verbreitet und sehr geschätzt, Herder, Gleim und Hölty hatten Balladen geschrieben, und so nutzte Schiller eine Gattung, die geradezu modisch geworden war. Schillers Balladen wurden nicht als besonders artistische Werke gelesen, obwohl jedermann bei genauerem Hinsehen merken konnte, wie kunstvoll sie tatsächlich geschrieben waren. Die ungeheure Wirkung der Schillerschen Balladen zeigte eines: sie trafen Erwartungen der Leser, waren verständlich, die Handlungen nachvollziehbar, die Lehren anerkennenswert, auch wenn sie manchmal etwas Erbauliches an sich hatten. Der größte Vorteil der Balladen, das, was ihre Volkstümlichkeit sicherte, war aber vermutlich eher etwas Formales. Goethe hat die Ballade einmal, wenn auch eher beiläufig, als Urei der Dichtung bezeichnet, also geradezu als eine Überform aller anderen Formen, und er wollte damit sagen, daß die drei traditionellen Gattungen der Dichtung, also das Erzählende, das Dramatische und das Lyrische, in dieser Form vereinigt sind. Jede der Schillerschen Balladen kann das bestätigen. Erzählen tun sie alle etwas, aber es gibt vieles, was den Dramatiker Schiller nur zu deutlich verrät: Gespräche und Dialoge, auch Auseinandersetzungen, Anklagereden und Verteidigungen, da wird manchmal geradezu atemlos voranerzählt. Schließlich das Lyrische: es sind ja Gedichte, in Strophen und festen Rhythmen abgefaßt, da ist nichts mißglückt oder schief, da stimmen die Reime und die Rhythmen. Man merkt das, wenn man sie laut liest, und Schillers Balladen wollen eigentlich laut gelesen werden, vorgelesen werden. Hochdramatische Situationen, in Erzählform vorgetragen und lyrisch eingefaßt: da ist alles enthalten, was an Stilarten damals gängig war.

Ein Beispiel. "Die Bürgschaft" beginnt mit der Strophe:

Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
Damon, den Dolch im Gewande;
Ihn schlugen die Häscher in Bande.
"Was wolltest Du mit dem Dolche, sprich!"
Entgegnet ihm finster der Wüterich.
"Die Stadt vom Tyrannen befreien!"
"Das sollst du am Kreuze bereuen."

Das Geschehen beginnt gleichsam im Geschehen, als Damon zum Tyrannen schleicht, mit seinem sprichwörtlichen Dolch im Gewande, und als er entwaffnet ist, kommt die Frage nach den Motiven des geplanten Mordes, auch heute noch vor Gericht immer die erste Frage, die sich stellt, wenn ein Verbrechen begangen worden ist: Warum, und aus welchem Anlaß und Motiv? Und dann ein meisterhafter Kurzdialog in zwei Zeilen, das offene Bekenntnis des Attentäters "Die Stadt vom Tyrannen befreien!" und übergangslos, ohne Zwischenrede, die Antwort: "Das sollst du am Kreuze bereuen!". Eine dramatischere Situation läßt sich kaum denken, das ist Tatort-Atmosphäre, da wird zugegriffen, da wird verhört und da wird sich gerechtfertigt, und das Urteil - es ist in der ersten Strophe schon ausgesprochen, der Tod ist dem Attentäter gewiß, und so fragt sich jetzt nur noch, wann er ihn ereilt, wie er ihn ereilt, wo er ihn ereilt. Das ist Erzählkunst von hohen Graden, dramatische Exposition und Umriß einer Tragödie, das Ganze aufs äußerste verknappt, auf diesen Dialog, auf zwei Reden des Tyrannen und eine Gegenrede des Attentäters. Im übrigen: klare Verhältnisse. Da stehen sich Gut und Böse gegenüber, und wo die Macht ist, wo das Recht, bedarf keiner Erklärung. Ein edler Mörder, ein verdammenswürdiger Herrscher. Im Nationalmuseum in Neapel kann man sie sehen, die Tyrannenmörder, in Marmor gehauen für die Ewigkeit - der Tyrann ist längst vergessen. Schiller kommt zur Sache, sofort und ohne jeden Umweg, es gibt keine Ablenkung, kein langes Hin und Her, und da wird auch nicht groß nach psychologischen Motivationen gefragt oder nach möglichen Beweggründen, da wird nicht die Vorgeschichte eruiert und auch nichts über die politischen Verhältnisse, da erscheint der Tyrann eben einfach als Tyrann und als Wüterich und der Mörder als Attentäter mit einem edlen Motiv. Und eines merkt man überhaupt nicht: daß Schiller seinen Stoff nicht etwa erfunden, sondern aus einer antiken Quelle hatte, nämlich aus den Fabeln des Hyginus. Aber auf Originalität kommt es in diesen Balladen sowieso nicht an, das ist ja nicht mehr Genielyrik, das ist eine spannende Erzählung, von der wir jetzt schon wissen: sie beschränkt sich aufs wesentliche, und eben das macht ihren Reiz aus; das Geschehen stürzt geradezu voran, und eines ist Schiller sicher: die Neugierde der Lesers oder des Zuhörers. Langeweile wird nicht aufkommen.

Ja, da wird erzählt, auf eine Weise, die nicht nur das Zeitalter Schillers als spannend und aufregend empfand. Man hat gelegentlich von Erzählgedichten gesprochen, um zu betonen, wie groß der Anteil des Epischen in diesem lyrisch-dramatischen Urei ist, aber das klingt ein bißchen nach germanistischer Fachterminologie, und besagt nicht viel - wir tun überhaupt gut daran, alles Fachchinesische zu vergessen, wenn wir mit diesen Balladen Schillers konfrontiert werden. Schillers Balladen, das ist eine Welt für sich, und in ihr geht es so zu, wie es im Leben oft durchaus nicht zugeht, denn da ist nichts langweilig, abgestumpft, tretmühlenartig oder voller Wiederholungen: da geht es rasant zur Sache, und wenn wir eine moderne literarische Form in die Nähe rücken wollten, dann wäre es eher die Kriminalerzählung, vielleicht noch passender die Kurzgeschichte. Auch die ist pointiert, greift einen Vorfall heraus, hält sich nicht lange beim Vorher und Nachher auf, und vom Vater und vom Großvater und vom Vater des Großvaters ist erst recht nicht die Rede. Damals, zu Zeiten Schillers und Goethes, gab es allenfalls eine Erzählart, die man zu den Vorläufern rechnen könnte: das war die moralische Erzählung, wie sie Matthias Claudius geschrieben hatte, Erbauliches mit manchmal rechthaberischen Untertönen, oft etwas Pastorenhaftes im Hintergrund, manchmal sogar weitschweifige Kanzelreden mit Beispielen, die zum rechten Handeln auffordern wollten. Schiller selbst hatte eine solche moralische Erzählung geschrieben mit seiner Geschichte vom "Verbrecher aus verlorener Ehre". Aber sie hatte nicht das Maß an Spannung, das Schillers Balladen haben. In ihnen kein Wort zuviel, jedenfalls nicht am Anfang unserer Ballade von der Bürgschaft, sondern alles aufs knappste gesagt, in ihrer Weise perfekt. Zu vergleichen sind Schillers Balladen eigentlich nur, wenn man denn nach modernen Ähnlichkeiten sucht, mit exzellent gemachten Filmen, mit ihren raschen Filmschnitten, zusammengedrängten Handlungen, und vielleicht wirken sie darum, auch nach zweihundert Jahren, so außerordentlich modern, oder anders: nie langweilig.

Schiller fand den Stoff zu seiner Ballade von der Bürgschaft, wie gesagt, in den Fabeln des Hyginus, aus der Zeit des Augustus. Schiller hat eigentlich wenig dazuerfunden, aber das Neue war entscheidend für die Poetisierung, vor allem aber für die Dramatisierung der Geschichte. Und dramatisch geht es in dieser Ballade weiter. Sie kennen sie vermutlich alle, aber die Grundlinien wenigstens seien noch einmal kurz nachgezeichnet. Der Attentäter gibt nicht nur seinen geplanten Mord zu, sondern akzeptiert auch sein Todesurteil - und bittet nur um eine letzte Gnade, nämlich "die Schwester dem Gatten zu freien", also zur Hochzeit der Schwester zu erscheinen, und bietet als Bürgen seinen Freund an. Der König akzeptiert das, macht aber unmißverständlich darauf aufmerksam, daß nach drei Tagen der Freund an seiner Stelle sterben müsse, wenn er nicht rechtzeitig zurück sei - wohingegen ihm dann die Strafe erlassen sei. Und damit ist untergründig ein weiteres Spannungsmoment in die Geschichte hineingekommen: wird der Attentäter nicht dieser Versuchung nachgeben, wird er also nicht versuchen, sein eigenes Leben zu retten und das des Freundes zu opfern?

Die Geschichte nimmt ihren Fortgang; der Freund akzeptiert die Wahl, "liefert sich aus dem Tyrannen", der andere zieht von dannen, vereint die Schwester mit ihrem Gatten, - und: "eilt heim mit sorgender Seele. / damit er die Frist nicht verfehle"." Wird er rechtzeitig vor dem König wieder erscheinen? Da baut sich ein dritter Spannungsbogen auf; der Attentäter will der Versuchung, sich und sein Leben zu retten, offenbar nicht nachgeben, aber es ist jetzt eine Frage der Zeit, ob er sich rechtzeitig wieder in Syracus einfinden wird - zu seiner eigenen Hinrichtung.

Es sieht nicht so aus. Sintflutartige Regenfälle verzögern die Wanderung zurück. Und in dem Augenblick, als er an einen Fluß gerät, bricht die Brücke zusammen, und damit scheint der Wettlauf gegen die Zeit verloren zu sein, keine Fähre findet sich, und der wilde Strom wird zum Meer. Ein Gebet an Zeus, er möge doch das Toben des Flusses beenden, bleibt - natürlich - unerhört, im Gegenteil: das Unwetter wird maßlos. In seiner Verzweiflung stürzt er sich in das Wasser - und erreicht tatsächlich das andere Ufer. Doch in dem Augenblick, als er dem rettenden Gott danken will, gerät er erneut in Gefahr: eine Räuberbande kommt aus dem Dunkel des Waldes heraus wie eine Urhorde, "mit drohend geschwungener Keule", doch die Sache wendet sich auch hier noch einmal: mit der dem Nächsten entrissenen Keule erschlägt er drei, die anderen fliehen - aber er ist zu Tode ermattet, erschöpft, und sein Gebet an den rettenden Gott ist diesmal ein Verzweiflungsruf: er wird verhungern, verderben, verdursten - übrigens nicht sehr überzeugend motiviert von Schiller, denn nach diesem endlosen Regen sollte irgendwo noch Wasser zu finden sein. Aber Schillers poetisches Reich ist nicht von dieser Welt, Damon ist im Tempo eines Zeitraffers offensichtlich in wüstenähnliches Gelände geraten, und plötzlich hört er doch ein Rauschen, eine Quelle dringt aus einem Felsen, und der Attentäter ist ein zweites Mal gerettet. Was wird noch kommen? Er sieht zwei Wanderer ziehen, und als er sie "eilenden Laufes" überholen will, da hört er ihre Worte: "Jetzt wird er ans Kreuz geschlagen". Wer? Natürlich sein Freund, denn die Zeit ist ausgelaufen - und die abenteuerliche Geschichte offenbar überall herumerzählt worden. Ein Diener kommt ihm aus Syracus entgegen, und noch einmal kommt die Versuchung an ihn, die größte und wahrlich lebensentscheidende, als Philostratus, der Diener, ihm sagt: "Zurück! Du rettest den Freund nicht mehr, / so rette das eigene Leben / Den Tod erleidet er eben. / Von Stunde zu Stunde gewartet' er / Mit hoffender Seele der Wiederkehr, / Ihm konnte den mutigen Glauben / der Hohn des Tyrannen nicht rauben", so die Kurzfassung des zwischenzeitlich Geschehenen am Hofe des Tyrannen. Was wird folgen? Wird Damon jetzt umkehren, sein eigenes Leben retten, wo das des Freundes nun schon verloren ist?

Er wird es nicht, und wenn er zu spät kommen sollte: er will mit dem Freund sterben, damit der blutige Tyrann sich nicht rühmen könne, "daß der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht". Sein Resümee:

Und ist es zu spät und kann ich ihm nicht
Ein Retter willkommen erscheinen,
So soll mich der Tod ihm vereinen.
Des rühme der blut'ge Tyrann sich nicht,
Daß der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht -
Er schlachte der Opfer zweie
Und glaube an Liebe und Treue.

Kein Verrat, ein Thema, das Schiller in seinen Dramen immer wieder umkreist hat, am deutlichsten in seinem "Wallenstein", sondern das Gegenteil, Treue. Und vielleicht erinnert sich der Leser an den Bibelvers: "Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben".

Schiller ist in seiner Ballade ein ungemein geschickter Dramatiker: alles zielt auf den Schluß, und da der Freund das Versprechen nicht gebrochen hat, da der überschwemmte Strom ihn nicht gehindert, da die Räuberbande ihn nicht umgebracht hat, da er nicht verdurstet ist und buchstäblich in letzter Sekunde Syracus wieder erreicht, das Kreuz schon sieht, an dem der Freund hingerichtet werden soll, da kommt es, wie im guten Kriminalroman, auf Minuten, oder vielmehr: auf Sekunden an. Der Freund wird schon zum Kreuz emporgezogen, ihn trennen nur noch wenige Augenblicke vom Tod - da drängt sich Damon durch die Menge, schlägt sich im eigentlichen Wortsinne durch und ruft sein "Mich, Henker!, erwürget! / Da bin ich, für den er gebürget". Dramatischer hätte es nicht kommen können, aber noch immer ist dieses Drama nicht zu Ende: Was wird nun passieren?

Allzu genau hinsehen darf man freilich nicht. Denn einiges gerät bei Schiller auch in dieser Szene durcheinander und ist nicht recht nachzuvollziehen. Der Freund wird also schon am Seil emporgezogen zum Kreuz - ein Kreuz ist es, kein Galgen, er soll offensichtlich ans Kreuz genagelt werden. Aber da ruft Damon, daß der Henker ihn erwürgen möge - eine andere Todesart, höchst ungewöhnlich, denn der Henker, wenn er denn sein Werk tun sollte, pflegt zuzuschlagen, mit dem Schwert, und nicht sein Opfer zu erwürgen. Kommt es zum Erwürgen, weil sich das so gut auf "bürgen", auf die Bürgschaft des Freundes, reimt? Vielleicht. Aber das dürfte beim Zuhören oder auch beim schnellen Lesen niemand merken. Vor allem: darauf kommt es auch gar nicht an. Denn plötzlich liegen sich die beiden Freunde in den Armen und wissen wohl noch nicht so recht, wer von beiden gerettet worden ist. Hing der Freund nicht eben noch am Seil? Jemand muß ihn rasch wieder heruntergelassen haben; Genaueres erfahren wir auch darüber nicht. Es kommt aber auch diesmal gar nicht darauf an. Anders gesagt: auch hier ist Schillers Reich nicht von dieser Welt. Denn alles wird zurückgedrängt durch die Frage: wie wird es weitergehen?

Höchst überraschend - denn der Tyrann, der von der Wundermär gehört hat, also davon, daß der Freund den schon dem Tode so nahen Freund wieder ausgelöst hat, der König fühlt, wie es bei Schiller lapidar heißt, "ein menschliches Rühren", läßt sie beide holen, und dann bekennt er, daß er im Tiefsten verändert sei:

Ihr habt das Herz mir bezwungen,
Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn -
So nehmet auch mich zum Genossen an.
Ich sei, gewährt mir die Bitte,
in eurem Bunde der Dritte.

Die beiden letzten Zeilen sind sprichwörtlich geworden, werden bei jeder passenden und häufiger noch bei vielen unpassenden Gelegenheiten gebraucht. Doch wie dem auch sei: Etwas Wundersames ist geschehen. Da hat die Treue nicht nur die Bewährungsprobe bestanden, sondern da ist auch der Tyrann zum Menschen bekehrt worden, denn er hat gesehen, was menschenmöglich ist - im besten Sinne. Und so schließt die Ballade denn mit einem Triumph, und wenn es auch pathetisch klingen mag: es ist der Triumph der Menschlichkeit.

Ein Drama, ein aufs äußerste zugespitztes, eine bis ins Feinste ausgeklügelte Situation, ein Schauspiel, das seinesgleichen sucht - obwohl es ja ein erzähltes Schauspiel ist. Wir können hier alle Taktiken und Techniken des Dramatikers erkennen: die Zuspitzung auf den Schluß hin, das geradezu Überhastete und Übereilte in der letzten Szene, die dadurch so eindrucksvoll wird, vorher die retardierenden Momente, die Hindernisse also, die sich Damon entgegenstellen: das ist perfektes dichterisches Arrangement, eigentlich völlig unglaubwürdig, aber niemand merkt es. Meisterhaft vor allem die Exposition: da beginnen die Spannungsbögen, denn da ist schon die Rede vom Kreuz - und am Kreuz, am Schluß der Ballade, treffen sich die beiden Freunde wieder, der Kreuzestod ist gerade noch einmal abgewendet. Ja, Treu und Glauben sind bestätigt, sie sind kein leerer Wahn, sie werden unter Beweis gestellt, und zwar am Rande des Lebens, unter, so würden wir heute vielleicht sagen, existentieller Bedrohung. Damon rettet nicht die eigene Haut, obwohl er dazu mehrfach Gelegenheit gehabt hätte und obwohl das für einen Moment lang das allein Sinnvolle gewesen wäre - der Freund schon quasi am Kreuz, er selbst aufgefordert von einem treuen Diener, den einzigen vernünftigen Ausweg noch zu ergreifen. Der wird ihm nicht verstellt, den verstellt er sich selbst, und wenn schon ein Menschenopfer - dann derer zwei, um dem, was hier höchster Wert ist, zur Anerkennung, zur Tat zu verhelfen. Ein Exemplum aus einer anderen Welt. Eine ideale Welt, trotz Tod und Bedrohung. Und vor allem: eine Welt, in der es Gutes gibt, in der der menschliche Wille nicht zu beirren ist, in der Entscheidungen aus Freiheit getroffen werden. Und eine Welt, in der das Böse an ein Ende kommt: der Tyrann wird bekehrt, der Tyrannenmörder verliert gleichsam seinen Auftrag. Es ist, wie es im Text heißt, eine Wundermär, die man dem König bringt, und eine Wundermär ist es auch für uns: ja, so sollte man handeln, der kategorische Imperativ Kants ist hier erfüllt.

Schiller hat kein Wort darüber verloren, wie die Geschichte auch hätte ausgehen können: wir finden nichts darüber, was dem Tyrannen sonst noch alles hätte einfallen können, da er ja als grimmiger Wüterich beschrieben worden ist. Eine Begnadigung? Kaum, Königsmörder pflegen nicht begnadigt zu werden. Denn das Attentat war ja mißlungen, und wir wissen: die Rache von Herrschern pflegt gnadenlos zu sein. Kein Wort auch über die Gedanken des Freundes, der ja vielleicht ins Zweifeln gekommen sein könnte, ob er recht getan habe, sich derart auszuliefern. Das interessiert Schiller nicht. Wir wissen, daß er ein sehr guter Psychologe gewesen ist, aber hier ist das alles weggewischt. Die Psychologie mit ihren Zweifeln und ihrem Möglichkeitsdenken, mit dem seelischen Hin und Her, mit den Unentschlossenheiten zwischen Gut und Böse, die Seele als etwas Gemischtes, der Mensch als problematisches Wesen, dem die Grenzen zwischen Gut und Böse sich allzu leicht verwischen können: das spielt hier alles keine Rolle. Nein, hier wird ein Musterfall exerziert, jenseits der psychologischen Wirklichkeit: hier ist alles unbeirrbar, bis auf den Tyrannen: der wird gebessert, er wird zum Menschen bekehrt. Eigentlich ist das gutes 18. Jahrhundert, bei Lessing in "Nathan der Weise" können wir etwas ähnliches finden, und diese Art von Heilung, von Besserung, von Katharsis, um den alten aristotelischen Begriff zu gebrauchen, das gehört ins aufgeklärte Drama, das es ja eigentlich auch nicht so sehr mit der Realität zu tun hat als vielmehr mit erdachten Fällen, die aber damals, da unterscheidet sich das 18. Jahrhundert wohl von unserem, für wirklich genommen wurden, auch wenn es nur eine Wirklichkeit sui generis war. In einer Situation wie der, die Schiller hier schildert, pflegen Tyrannen sich selbst in ihrer Grausamkeit selbst zu übertreffen, und zu einem werden sie sicherlich nicht: zum Menschen. Bei Schiller aber wird das Unmögliche Wirklichkeit: Er hätte mit Recht sagen können: Mein Reich ist nicht von dieser Welt.

Ist Schiller lebensfern, glaubt er wirklich, daß das möglich sei, was er uns in seiner Ballade vorstellt? Nun, er kannte den Menschen, kannte seine Schwächen und das Fehlbare in ihm, aber er wußte auch: ohne das, was in der Ballade von der Bürgschaft Treue genannt wird, ohne Vertrauen, Zuversicht, ohne den Willen zum Guten verurteilt sich eine Gesellschaft selbst zum Tode. Es ist nur zu bezeichnend, daß Schiller vor allem dann zitiert wurde, wenn es den Menschen schlecht ging, oder vielmehr: wenn er Gefahr lief, das, was wir als Werte bezeichnen, aufzugeben und über Bord zu werfen. Auf Schiller hat man sich berufen, wenn es mit der Menschheit bergab zu gehen drohte, wenn die Moral zum Teufel war und Werte sich verflüchtigt hatten. "Das letzte Halbjahrhundert sah eine Regression des Menschlichen, einen Kulturschwund der unheimlichsten Art, einen Verlust an Bildung, Anstand, Rechtsgefühl, Treu und Glauben, jeder einfachsten Zuverlässigkeit, der beängstigt. Zwei Weltkriege haben, Roheit und Raffgier züchtend, das intellektuelle und moralische Niveau (die beiden gehören zusammen) tief gesenkt und eine Zerrüttung gefördert, die schlechte Gewähr bietet gegen einen Sturz in einen dritten, der alles beenden würde, Wut und Angst, abergläubischer Haß, panischer Schrecken und wilde Verfolgungssucht beherrschen eine Menschheit, welcher der kosmische Raum gerade recht ist, strategische Basen darin anzulegen, und die die Sonnenkraft äfft, um Vernichtungswaffen frevlerisch daraus herzustellen [...] Finde ich so den Menschen wieder, dem wir unser Bild geliehen, klagt Ceres in 'Das eleusische Fest'; es ist Schillers Stimme. Ohne Gehör für seinen Aufruf zum stillen Bau besserer Begriffe, reinerer Grundsätze, edlerer Sitten, 'von dem zuletzt alle Verbesserung des gesellschaftlichen Zustandes abhängt', taumelt eine von Verdummung trunkene, verwahrloste Menschheit unterm Ausschreien technischer und sportlicher Sensationsrekorde ihrem schon gar nicht mehr ungewollten Untergang entgegen".

Das war ein Zitat, ein Zitat Thomas Manns, es stammt aus der Schiller-Rede von 1955, und was er seiner Zeit damals als Spiegel vorhielt, hat auch heute noch beschämende Aktualität: Angst, Haß, Verfolgungssucht, das Ausschreien technischer und sportlicher Sensationsrekorde: nein, die Zeiten haben sich nicht verändert. Der alte Thomas Mann - sein "Versuch über Schiller" war seine letzte öffentliche große Rede - hat diesen Aufruf damals in Stuttgart und in Weimar seinen Zuhörern ins Herz geredet, und er war überzeugt: bei Schiller finden sich diese Werte, und der Schlußsatz seiner langen Rede lautete: "Von seinem sanft-gewaltigen Wollen gehe durch das Fest seiner Grablegung und Auferstehung etwas in uns ein: von seinem Willen zum Schönen, Wahren und Guten, zu Gesittung, zu innerer Freiheit, zur Kunst, zu Liebe, zum Frieden, zur rettenden Ehrfurcht des Menschen vor sich selbst".

Können wir das unbeschwert heute noch so lesen? War das nicht alles doch nur Festrhetorik? Die Schillerschen Werte lassen sich als solche schlecht verkaufen. Das wußte nicht erst Thomas Mann, das wußte Schiller schon selbst. Aber wenn sie gleichnishaft vor Augen geführt werden, dann lassen sich auch Schillers Werte vermitteln. Exempla trahunt.Und eines der wichtigsten Vehikel, das Schiller kannte und nutzte, war - damit kommen wir wieder zur Sache zurück - die Erzählung in Versen, war die Fallstudie, wie die Ballade eine war. Beispiele, so wissen wir, wirken nicht viel, wenn es sich um Situationen aus dem alltäglichen Leben handelt - das Fremde und Andere interessiert uns mehr, eine Erfahrung, die jeder jeden Tag machen kann. Schiller wußte das so gut wie wir, und das mag der Grund dafür sein, daß er die Stoffe seiner Balladen aus entfernten Wirklichkeiten, also aus anderen Jahrhunderten oder sogar aus dem Altertum nahm, daß manches eher märchenhaft ist ("Der Kampf mit dem Drachen"), anderes eher legendär (etwa "Der Graf von Habsburg"). Nicht alle Balladen überzeugen - man hat immer schon gesagt, daß "Der Alpenjäger" mit Schillers versuchter Annäherung an die Volksballade mißlungen sei, die Sprache unecht bis zum Kitschigen, die Szenerie unglaubwürdig, die Alpenregion Schiller nicht vertraut, denn so etwas kannte er ja bestenfalls von Bildern oder aus der Literatur, und daß in den Alpen eine Gazelle vor einem Knaben flieht, zeigt Schillers völlige Unkenntnis im Bereich der Biologie; und als dann die sogenannte Gazelle, auf der Flucht von dem Knaben, der plötzlich zu einem "harten Mann" geworden ist, nicht mehr weiter weiß, diesen anfleht, nicht loszudrücken, da tritt aus einer Felsenspalte ein Geist, "der Bergesalte", der mit seinen Götterhänden, so lesen wir, das gequälte Tier schützt. Das ist eher etwas für den Tierschutzverein, nicht für die Literatur, bis auf die Lehre am Schluß dieser verunglückten Ballade: "Raum für alle hat die Erde". Besser bewegt hat sich Schiller in Märchenstoffen und Märchenthemen, wo der sprichwörtliche böse König auftaucht, und in Balladen wie "Der Taucher", der in einer Ritterwelt spielt, oder "Ritter Toggenburg": in solchen Stoffen war Schiller sicher, selbst dort, wo seine eigene Imagination seine fehlende Weltkenntnis ersetzen mußte. Antike Stoffe waren gleichermaßen willkommen und wurden von Schiller genutzt, so etwa das Herodot-Märchen vom Ring des Polykrates. Es ist die Welt der Großen oder doch zumindest die Welt der Höfe, die da vor uns in den Balladen ausgebreitet wird, das sind keine Kleine-Leute-Balladen wie später bei Brecht, sondern das ist das Fremde, das Andere, aber deswegen auch das besonders Reizvolle.

So unterschiedlich die Balladen auch sind, so laufen sie doch im Grunde genommen immer und überall auf das Gleiche hinaus: auf Einsichten, auf Vorbildliches, sie grenzen den Menschen gelegentlich ein auf das, was ihm zukommt, und sie öffnen andererseits Türen in ein Verhalten, das ein schlechterdings ideales ist, auch wenn sich die Kluft zur Wirklichkeit als beängstigend tief erweist. "Der Ring des Polykrates" etwa: die Geschichte eines vom Glück Überhäuften, dessen Feind besiegt ist, dessen Schiffe mit fremden Schätzen reich beladen in den Hafen steuern - der Gastfreund des Königs aber ist entsetzt, weil diese Überfülle des Glücks nichts Irdisches mehr ist, und so sagt er denn auch zu ihm: "Mir grauet vor der Götter Neide: / Des Lebens ungemischte Freude / Ward keinem Irdischen zuteil." Und: "Noch keinen sah ich fröhlich enden, / auf den mit immer vollen Händen / Die Götter ihre Gaben streun" - und so rät er ihm, den liebsten seiner Schätze ins Meer zu werfen, um das Unglück selbst herbeizurufen und damit einem schrecklichen Ende zuvorzukommen. Polykrates wirft seinen Ring ins Meer - aber nur, um ihn am nächsten Morgen zurückzubekommen: er findet sich im Magen eines Fisches, den sein Koch zerteilt. Dieses erneute Glück ist für den Gast genug: er wendet sich mit Grausen, spricht sein "Mein Freund kannst Du nicht weiter sein. / Die Götter wollen Dein Verderben - / Fort eil ich, nicht mit Dir zu sterben", und verläßt den allzu Glücklichen. Dahinter steht die antike Vorstellung, daß außerordentliches Glück ein Vorbote des Unglücks sei. In Herodots Bericht ist es so - Polykrates findet später ein schreckliches Ende. Schiller hat den Schluß der Geschichte weggelassen - der gleichsam offene Schluß ist für das, was Schiller mitteilen will, sehr viel wirkungsvoller als das, was er nach Herodot noch hätte hinzufügen können. Übermäßiges Glück, maßloses Glück, unmenschliches Glück: es kommt niemandem zu, und Schiller will sagen: jeder möge davor bewahrt bleiben.

Vor Maßlosigkeit will Schiller seine Zuhörer oder Leser bewahren: die Geschichte vom Taucher bringt Vergleichbares. Der goldene Becher, den der König in die See wirft und demjenigen verspricht, der ihn wiederholt: Einer wagt es, er scheint in den Tod gesprungen zu sein, aber er kommt wieder, wird belohnt, weiß jedoch:

... der Mensch versuche die Götter nicht,
Und begehre nimmer und nimmer zu schauen,
Was sie gnädig bedecken mit Nacht und Grauen.

Er berichtet über seine gefährliche Taucherei, er bekam den Becher nur, weil der an einer Koralle hängengeblieben war, und nur durch einen Zufall, so scheint es, hat der Strudel ihn wieder nach oben gerissen. Der König aber will ein da capo, verspricht ihm einen Ring mit dem köstlichsten Edelgestein, und als die Tochter des Königs ihn davon abbringen will, verspricht er sie selbst dem Ritter zur Frau und schleudert den Becher erneut in den Strudel. Noch einmal stürzt der Jüngling hinein in das wirbelnde Ungeheure, aber diesmal kehrt er nicht zurück. Er hat sich an seinem eigenen Wahlspruch vergangen, er hat die Götter versucht, er war, mit anderen Worten, maßlos, hat auf sein Glück vertraut - und ist gescheitert. Es war Hybris. Er kannte seine Grenzen, kannte die Gefährlichkeit der Natur, wollte beides überwinden - und wurde bestraft.

Balladen dieser Art bringen Negativbeispiele, warnen vor einem Verhalten, das mit der conditio humana nicht mehr in Einklang steht. Aber jene, die eine beispielhafte Tat beschreiben, überwiegen.

Eigentlich ist es Lehrstücktheater. "Der Kampf mit dem Drachen" schildert die Erfüllung einer Ritterpflicht, der der Malteserritter allen Bedrohten zuliebe nachkommen muß. Die Geschichte ist wieder auf das Ende hin zukomponiert: auf den langen Bericht über den Kampf mit dem Drachen, auf den Beifall der Menge hin kommt der scharfe Verweis des Großmeisters, der den Ritter des Ungehorsams bezichtigt: der Ritter hat sich gegen das Ordensgebot des Gehorsams vergangen. Der Ruhm habe ihn bestochen, so der Großmeister, der sich von dem Ritter abwendet, und das Ende ist hochdramatisch: der Ritter legt das Ordensgewand ab, "und küßt des Meisters strenge Hand und geht". Der eigentliche Schluß: der Großmeister ruft ihn zurück, nimmt ihn wieder in die Schar der Ritter auf; er habe Demut gezeigt, indem er sich selbst bezwungen habe - und hat sich überwunden. Erst danach kann ihm verziehen werden - eine Situation, die Kleist, der gelehrige Schüler Schillers, später in seinem Prinz Friedrich von Homburg wieder aufnehmen wird.

Nicht alle Balladen enden siegreich. "Hero und Leander" - das ist eine traurige Liebesgeschichte, eine Romeo und Julia-Erzählung: das Meer trennt die Liebenden, eine Sturmnacht wird ihm, der so oft zu ihr geschwommen ist, zum Verhängnis, am nächsten Morgen wird sein Leichnam angespült - Leander erkennt das furchtbare Wirken der strengen und ernsten Mächte, und sie stürzt sich ins Meer, ein freudiges Opfer der Venus, der großen Königin zu bringen. Amor vincit omnia - auch hier das Thema unverbrüchlicher Liebe, Treue, nicht auflösbarer Zusammengehörigkeit, eine Märchengeschichte mit einer ethischen Forderung im Hintergrund. Es ist auch ein Appell an das Mitleiden, ganz im Sinne Lessings, aber vor allen Dingen ein Appell an die eigene Unbeirrbarkeit, und dieser Appell dürfte von den Zeitgenossen Schillers im aufgeklärten Zeitalter gut verstanden worden sein. Eigentlich sind es alles Geschichten von Menschen, die sich ihre Freiheit bewahrt haben, sich nicht dem Schicksal blind unterwerfen, sondern sich, wenn es sein muß, mit Freiheit auch in Unvermeidliches fügen.

Goethe hat Schillers Balladen einmal charakterisiert als "Darstellung von Ideen" - das ist mißverständlich, denn es sind ja nicht philosophische Ideen, die dort erscheinen, also nicht abstrakte Vorstellungen, sondern Werte, Überzeugungen, Verhaltensnormen, die dargestellt, und das heißt: die an einem überzeugenden Einzelfall demonstriert werden. Ein letztes Beispiel: "Die Kraniche des Ibykus". Ibykus, der Götterfreund, wandert zu einer Art Sängerwettstreit nach Korinth, zieht durch einen Fichtenhain, ihn begleiten Schwärme von Kranichen, die nach Süden ziehen. Der Sänger spricht sie an, sieht das vergleichbare Schicksal, Fremde sie alle, unterwegs, von ferne gekommen. Da geschieht Schlimmes: zwei Mörder stellen sich ihm entgegen, er fällt und kann nur noch den Kranichen die Mordanklage mitgeben.

Welches Motiv könnte die Mörder veranlaßt haben, den harmlosen und sicherlich auch mittellosen Sänger zu ermorden? Reine Mordlust? Mitten im Wald? Aber diese Frage nach der Motivation der bösen Tat stellt Schiller gar nicht. Das ist nach heutigen Gesichtspunkten ebensowenig gut motiviert wie das Folgende, das nämlich der nackte Leichnam mitten im Wald gefunden, nach Korinth gebracht und vom Gastfreund identifiziert wird. Die Suche nach dem Mörder beginnt - sie ist zunächst völlig erfolglos. Statt dessen berichtet Schiller von der Menge der Festspielbesucher; auf dem Theater wird ein Stück gegeben, und die offenbar erstklassige Inszenierung läßt die Zuschauer in tiefem Schweigen erstarren - bis jemand die Kraniche sieht und sie als "die Kraniche des Ibykus" erkennt - und tatsächlich, ein Kranichheer zieht vorüber. Doch wer hat den Namen des Ibykus gerufen? Da kann sich nur, so die Menge, der Eumeniden Macht zeigen, die Macht der Rachegöttinnen, und in der Tat: der Mörder hat den Namen genannt, kommt vor den Richter, die Szene wird zum Tribunal, die Bösewichter gestehen - "getroffen von der Rache Strahl". Eine Ideenballade im Sinne Goethes? Ja - hinter der Ballade steht die Vorstellung, daß ein Mord gerächt werden müsse, daß die böse Tat gesühnt werden müsse. Diesem Glauben ist alles untergeordnet, vor allem die Psychologie, wenngleich kriminalpsychologisch nicht ganz so unwahrscheinlich ist, was hier als unwahrscheinlich beschrieben wird: daß der Mörder seine Tat selbst gesteht. Das mag durchaus möglich sein, so unwahrscheinlich es ist, daß der Mörder oder die Mörder, die eben noch im dichten Wald gehaust haben, sich zum Theater begeben, um sich dort ein Drama anzusehen. Aber das eigentliche Drama spielt sich nicht auf der Bühne, sondern in der Ballade ab: den Mörder jagt nicht die Justiz, ihn jagt sein eigenes Gewissen. Dieser Vorgang wird von Schiller scharf herausgemeißelt, alles andere ist nebensächlich, kann deswegen auch zufällig sein und bis an die Grenzen des Unwahrscheinlichen reichen (die Mörder erst im Wald, dann im Theater). Anders gesagt: Zufälle gibt es eigentlich nicht in dieser Ballade. Daß die Kraniche über das Theater hinwegziehen, ist gutes Arrangement, damit der Mörder an seine Untat erinnert wird. Dabei geht es eigentlich nicht in erster Linie um das Thema von Schuld und Sühne auch nicht um die Reue nach der Tat. Die Szene wird zum Tribunal - aber vor allem wird sie zum Selbstgericht. Die dramaturgisch so wohlinszenierte Erzählung zeigt im übrigen etwas, das zu Schillers Grundüberzeugungen gehörte: die Macht des Theaters, der Dichtung, die Macht der Kunst.

Und damit erkennen wir noch einen anderen Hintergrund als nur den seiner frechen Xenien, die er ein Jahr zuvor veröffentlicht hatte. Wenn Besserung, Belehrung, wenn irgendwo ein Appell an das Gute im Menschen noch gehört werden kann, - dann durch die Kunst - das ist Schillers großartiger Glaube. Schiller hat um so nachhaltiger daran festgehalten, als er wußte, daß die politischen Verhältnisse in die Französische Revolution gemündet hatten - eine Katastrophe für ihn, denn sie traf ein unvorbereitetes Volk. Die Antwort auf diese politische Wende waren seine Briefe "Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen" - geschrieben aus der Einsicht heraus, daß nichts notwendiger sei als das, was man heute politische Bildung zu nennen pflegt, von den politischen Parteien und ihren Institutionen in Wochenendseminaren gepflegt - meist ohne den geringsten Erfolg. Man müsse, so sagt Schiller, um jenes politische Problem zu lösen, den ästhetischen Weg nehmen: mit anderen Worten, es bedürfe der Kunst, um den Menschen fähig zu machen, die Freiheit, die er politisch errungen habe, auch sinnvoll zu nutzen. Das war, wie er selbst schon am Ende dieser Briefe gemerkt hatte, eine fromme Hoffnung gewesen, die sich nicht erfüllte, seine Vorstellung eines ästhetischen Staates - und das heißt: eines Staates aus Freiheit und Selbstbestimmung - war die Idee eines Künstlers, der in Wirklichkeit nichts entsprach. Das war 1795. Wenige Jahre später erschienen die großen Balladen. Sie sind ästhetische Erziehung, auf einem anderen Feld, in volkstümlicher Form, in verständlicher Sprache, mit Hilfe von Beispielen, an denen sich demonstrieren ließ, wie der Mensch sich denn zu verhalten habe.

Seine Balladen wollen Anleitungen zum richtigen Handeln sein, das für Schiller auch immer das gute Handeln war. Aber was sind das eigentlich für Werte? Genau besehen sind es Werte der bürgerlichen Gesellschaft: Treue, Zuverlässigkeit, Aufrichtigkeit, Verständnis, Opferbereitschaft, ein Eintreten für den Bedrohten. Es sind keine Individualwerte, sondern Sozialwerte, bürgerlicher Herkunft. Es ist eine Art von Gemeinschaftsphilosophie, die sich in den Balladen äußert, und dahinter steckt so etwas wie ein pädagogischer Appell: 'Mach es so, wie es dir hier gezeigt wird'. Ist der Mensch autonom genug, gut zu handeln? Götter, Schicksal und Glück spielen ihre Rolle, aber bestimmend sind sie, so Schillers Balladen, nicht und nirgendwo. Die Balladen seien, so hat jemand gesagt, "moralische Erprobungsspiele, in denen die Geltung von Handlungsnormen zur Diskussion" stehe. Das ist ein bißchen hochgeschraubt gesagt, aber in der Tat: es sind letztlich existentielle Fragen und Probleme, die hier auf den Prüfstand geraten. Und nicht nur die Sprache, die einfache, bildhafte, präzise, eindringliche und manchmal ja sogar mitreißende und packende Sprache macht die Balladen immer noch modern, sondern das, was in ihnen an Konflikten und Forderungen zum Ausdruck kommt. Das war vor 200 Jahren genauso wie heute. Mit den Balladen hat Schiller denn auch eine Forderung an sich selbst erfüllt, und die ging dahin, "Zeitgenosse aller Zeiten zu sein". Das hielt er für eine Pflicht des Dichters und auch des Philosophen. Schiller ist beides. Wir brauchen seine Modernität nicht mühsam unter Beweis zu stellen, das tut er selber, ohne alle Mühe.

Gute Texte wie die Schillers pflegen einen Subtext zu haben, das heißt, daß sie auf eine tiefere Dimension hin gelesen werden können. Die Schillerschen Balladen haben derer sogar zwei. Einen dieser Subtexte haben wir schon geortet: der bürgerliche Wertekatalog, Ergebnis eines historischen Prozesses, der mit der Herausbildung der bürgerlichen, gegen die des Adels gerichteten Werte bald nach 1700 begann und um 1800 auf einen Höhepunkt gekommen zu sein schien - und von dem gleichzeitig anzunehmen ist, daß die Werte nicht mehr unbezweifelt waren: warum hätten sie sonst einer so rigorosen Verteidigung wie in Schillers Balladen bedurft? Die Bürgerlichkeit ist nicht mehr so stabil, wie das nach außen hin ausgesehen haben mag, eine fragwürdige Moderne hatte begonnen, und Schiller sieht, was daraus werden kann. In den Balladen richtet er eine Gegenwelt auf, schreibt er ihr die Gesetzbücher, an denen festzuhalten ist - und daß es geht, zeigen die Beispiele ja, auch wenn sie uns so gänzlich unwahrscheinlich vorkommen mögen. Letztlich siegt immer und überall das Gute. 50 Jahre später wird Heine in seinem "Romanzero" das Gegenteil demonstrieren, daß niemals das Gute, sondern immer das Böse, immer der Schlechtere siegt vor dem Besseren, der Verräter über den Getreuen, der Skrupellose über den Bedenklichen. Das ist pessimistisches 19. Jahrhundert - vielleicht finden sich in Schillers Balladen letzte Eckpfeiler, bevor die Flutwelle, die sich aus der Französischen Revolution entwickelt hatte, alles hinwegzuschwemmen droht.

Doch das ist nur ein Subtext - es gibt auch noch einen anderen, einen verborgeneren, und dennoch sollte man auch ihn sehen. Der Tod am Kreuz, das assoziierte "Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben", der Kampf mit dem Drachen als dem Urbösen, das Kreuz wiederum als "Lohn der Demut", vom Meister dem Malteserritter wiederverliehen, der Drache als Wurm, als Schlange, "die das Herz vergiftet", das "heilig Band der Ordnung", das vobiscum dominus, das Gotteshaus in "Der Gang nach dem Eisenhammer", das "göttliche Walten", das der Graf von Habsburg erkennt, das furchtbare Meer in "Der Taucher" als "Höllenrachen", schließlich das Lied von der Glocke mit dem Spruch vivos voco. mortuos plango. fulgura frango (Ich rufe die Lebendigen. Ich beklage die Toten. Ich breche die Blitze, einer Inschrift auf einer Schaffhausener Glocke aus dem Jahr 1486), die wiederholte Anrufung Gottes - das alles ist Bibelwelt, bis auf wenige Ausnahmen sind die Balladen davon durchtränkt. In der "Bürgschaft" soll jemand ans Kreuz geschlagen werden, aber was er am Ende zusammen mit dem Freunde feiert, ist nichts geringeres als eine Wiederauferstehung. Diese Schicht reicht noch tiefer als die der bürgerlichen Sozialmoral, und es fällt nicht schwer, das Ende der "Kraniche des Ibykus", als die Szene zum Tribunal wird, im Rahmen des hier Umrissenen als Weltgericht zu deuten. Auch in den Balladen herrschen Mord und Totschlag, aber es bleibt nicht dabei. "Die Weltgeschichte ist das Weltgericht", hat Schiller einmal gesagt. Nicht so sehr der Höllenrachen, die Hölle selbst wird besiegt. Manche Balladen sind geradezu Erlösungsgedichte, selbst noch dort, wo der Tod umgedeutet wird, und kein Geringerer als Dostojevskj hat Schiller einen "christlichen Dichter" genannt.

Aber das alles sind Gedanken am Rande. Und bevor es zu fromm wird, zum Schluß eine Gegenstimme. Hanns-Josef Ortheil, Thomas Mann-Preisträger 2002, Verfasser vieler Romane, einer davon als "Roman eines Vaters" betitelt, Ortheil hat sich einmal gefragt, was man Kindern an Gedichten vorlesen könnte. Goethe? Ja, das "Heidenröslein", der "Zauberlehrling", vielleicht "zwanzig gute vorlesbare Gedichte für Kinder". Und dann folgt in diesem Roman eines Vaters: "Und Schiller? Wahrscheinlich kein einziges. Schiller ist etwas für Jugendliche, für Pubertäre, für junge Männer mit vielen Pickeln und weit geöffneten Nasenflügeln, denke ich mich in Rage. Schiller hat wahrscheinlich kein einziges Gedicht für Kinder geschrieben, katastrophal-beschränkt und verbissen, wie er war, denke ich weiter und bemerke, wie Schiller in meiner Achtung rapide sinkt und schließlich überhaupt nicht mehr zählt". Was Thomas Mann wohl dazu gesagt hätte? Aber vielleicht sollte Ortheil doch einen Versuch mit Schiller wagen. Mit Balladen, wie sich versteht. Vielleicht mit der "Bürgschaft".